I. Das Findelkind.

Durch ein niedriges Fenster schien das fahle Licht des trüben Novembertages in die ärmliche Stube einer mecklenburgischen Landstadt. An den Wänden hingen Lorbeerkränze, die längst hart getrocknet waren und dadurch, daß man sie häufig gerührt, die Mehrzahl der Blätter schon eingebüßt hatten. Ein dürftiges Bett, ein unsicher stehender Tisch und wurmstichige Stühle machten neben Kochgerät fast die ganze Einrichtung aus. Auf dem Bette lag ein krankes Weib, im Winkel kauerte ein kleines Mädchen, ein Mann durchmaß unruhig den Raum und kehrte immer nach drei Schritten wieder um. Seine muskulösen Beine waren von fadenscheinigen Strümpfen und verschabten hellblauen Kniehosen bedeckt, an einem Schuh hing halbabgerissen die Schnallenschleife. Der abgetragene braune Frack mit großen Knöpfen und grünen Aufschlägen war sicher einst von feinstem Tuch gewesen. Der Mann trug seinen Dreispitz unter dem Arm, weil er ihn offenbar nicht auf das frisierte und gepuderte Haar, von dem der kurze Zopf mit breiter fettiger Schleife niederhing, stülpen mochte, er war glatt rasiert und hatte einen hohen Rohrstock in der Hand, als wäre er bereit zu gehen und schien sich hier nur als flüchtigen Gast zu betrachten. Die unruhigen Augen, aus deren Winkeln viel Falten über Wangen und Schläfen zuckten, flogen wiederholt zu den Lorbeerkränzen an der Wand.
„Veronika!“ rief der Mann stillstehend und die Hand mit pathetischer Gebärde ausreckend, „gedenkst du heute des Tages, an dem mir das einst zuflog? Die Stunde der Erinnerung naht, der Erinnerung an die große, erhabene, göttliche Zeit, die wacht wieder auf, und wie findet sie mich hier?“
Das Weib warf sich unruhig herum, der Mann machte einige Schritte hin und her, nahm die Stellung eines Deklamators an und sprach:

  „Denn wie die Lorbeerkränze werden welk und Staub,
  „so welkt der Ruhm. Das feste Denkmal muß verwittern,
  „und wär’s von Erz und Stein. Wie sollt ich nicht erzittern,
  „ein Menschenkind, erkoren von der Zeit zum Raub.“


Er schenkte sich aus einer grünen bauchigen Flasche in ein Branntweinglas und trank, kümmerte sich nicht um das Ächzen der Leidenden und schnalzte mit der Zunge.
„Veronika, so welkt der Ruhm. Meine Passecaillen, Musetten und Chakonen rissen das Publikum hin, sobald ich nur meinen Fuß ansetzte, der herrliche Noverre kam nach Stuttgart, um mich tanzen zu sehen, und empfahl mich nach Wien, wo ich als der führende Faun im „Nachttisch der Venus oder die List des Liebesgottes“ entzückend war, und Madeleine Guimard bekannte in Paris, daß sie noch keinen Tänzer gefunden, der so ihren Gedanken von ferne schon entgegengekommen wäre. - Tod des Ajax, - geheiligte Erinnerung - Höllenfahrt des Orpheus!“
Er trank wieder und beachtete es nicht, daß das Kind ängstlicher zusammenkroch. „Himmlische, göttliche, divine, sublime Madeleine, wie jämmerlich mußtest du im Winkel verkommen! Daran muß ich denken,“ - er trank - „soll ich auch so enden? - Sei still, Weib, du verstehst mich nicht, hast meine erhabene Mission nie begriffen, zu dir konnte ich mich nur in Verblendung - - nein, ich will nicht, ich will nicht - herauf will ich wieder,“ er trank. „Wann kann ich, Signor Tomilo Pollini, heimkehren in das Haupt und Herz der Welt?“ Er stampfte mit dem Fuße und redete heftiger und trank dazwischen.
,,Da sprach man davon, das Jahr 1797 sollte das Heilsjahr werden, die Royalisten hatten ihren Anschlag, die Emigraten kehrten in Massen heim, ich war bereit zu folgen alles vorbei, alles vorbei - gestern kam ein Aliger durch, der erzählte, daß alle wieder verjagt wären. Da ist der verwünschte Napoleon, der Gelbschnabel, der siegt bei Arkole und Rivoli über das stolze Österreich, das unsere Hoffnung war. Dagegen komme ich nicht auf - nicht auf - nicht auf!“ Er fuhr wütend auf: „Und du, Dirne, du sitzt immer da faul im Winkel? Heraus mit dir, du sollst tanzen lernen, so wie einst die göttliche Guimard, der unter jedem Pas die Louisdor heraussprangen. Willst du lernen? Willst du lernen, frag ich?“ Er zerrte das Kind roh aus dem Winkel, die Kranke versuchte sich aufzurichten, aber fiel stöhnend zurück. „Da stell dich her, wie stehst du wieder, die Finger im Mund - Grazie, Grazie, sag ich, zum Teufel, Grazie in jedem Schritt! Verdammte Kröte, da flennt sie wieder. Was tu ich mit euch beiden? muß ich an euch kleben und könnte mir auf den Brettern die Herzen aller Welt erobern? Sie waren doch mein, und mein müssen sie wieder werden, ich will los sein, ich will wieder der Signor Tomilo Pollini sein - weg mit euch! Da geh her, Eva, ich muß sehen, wie ich dich unterbringe, und mit der andern, da wird es bald von selbst aufhören.“ Er faßte die Kleine, die keinen Ton in ihrer Angst hervorbringen konnte, rauh bei der Hand und zerrte sie hinter sich drein, während die Frau ihm nur einen schrillen Ruf nachsenden konnte.
Auf der Straße warf er sich in die Brust und versuchte trotz seines Branntweinrausches mit leichtem Schritt dahinzuschreiten, unbekümmert darum, daß die Leute kopfschüttelnd der Karikatur nachsahen, die Kleine trippelte schüchtern nebenher. Bald war das Ende der Stadt überschritten, und sie gingen auf der Landstraße, der Mann in der frischen Luft taumelnd und das Kind an seiner Seite hin- und herstoßend. Jedesmal, wenn er es berührte, murrte er, zuweilen reckte er drohend die Hand aus mit dein Stock, aber der flehende Blick aus den Kindesaugen schien ihn zu bannen, er taumelte weiter und stieß bald wieder auf seinen Hauptgedanken: „Emigranten - König - Revolution - Napoleon - dagegen komme ich nicht auf - nicht auf.“
Da schlürfte ein altes Weib daher, dem man an der zerlumpten Kleidung und dem schmutzigen Armkorbe sofort die landstreichende Bettlerin ansah. Harte, verschrumpfte und verwitterte Züge, graues wirres Haar, listige Blicke machten sie abstoßend, und wie sie so lauernd am Wege stillstand und auf die Ankommenden wartete, drängte sich die Kleine enger an den Vater. Der warf sich in die Brust, weil ihm die demütige Haltung der Bettlerin gefiel.
„O Herr, ich bitte um eine kleine Gabe, Herr, erbarmen Sie sich meiner, ich bin ein unglückliches Weib.“
„Herr!“ sagte der ehemalige Ballettmeister wegwerfend und wollte vorübergehen.
,,Monsieur, o Monsieur!“ näselte die Alte.
„Monsieur? pah - Signor, Signor, sage ich.“
,,O Signor, Signor, ich muß verhungern.“
„So, so, hm - hm - das soll nicht sein, wo der Signor Tomilo Pollini weilt. Hier - ja so - ich muß erröten, meine Geldbörse liegt daheim.“
„O Gott, was für ein guter Signor,“ sagte die Alte, und es zuckte um ihre Augen ein höhnisches Zwinkern. „Ach, der Signor hat es gut, das kann man ja sehen, wenn man auf das liebliche Kindchen an des Signors Seite sieht.“
„Was tu ich damit? willst du es haben, dann nimm es hin. Ohne Almosen soll keiner von mir gehn.“ Er sagte es stoßweise und versuchte doch die Pose eines großmütigen Gebers anzunehmen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Pascholl!