Kapitel Schahko Matto -14-



Als der Erzähler bis hierher gekommen war, wurde er von Winnetou unterbrochen:


„Stand dieser Name wirklich am Fels zu lesen? Padre Diterico?“

„Ja.“

„Und der Mörder war mit J.B. bezeichnet?“

„Ja.“

„Kennt mein Bruder Harbour vielleicht einen Menschen, dessen Namen mit dem Buchstaben J.B. beginnt?“

„Solcher Leute wird es wahrscheinlich tausende geben; ich kenne keinen.“

„Und glaubt mein Bruder, daß dieses Grabmal keine Lüge sagt?“

„Ich bin überzeugt davon.“

„Es kann dennoch eine Lüge sein!“

„Wem sollte das einfallen, und welcher Grund könnte vorhanden sein, eine solche Unwahrheit in den Fels zu graben?“

„Wo war das Grab? Im harten Fels doch nicht?“

„Nein, sondern eng an demselben. Der Hügel war mit Moos bewachsen und schien gepflegt zu sein.“

„In der Einöde da oben? Uff!“

„Das ist noch gar nicht verwunderlich. Unbegreiflich aber ist, was mir dann passierte. Ihr könnt euch denken, Mesch’schurs, wie mir zu Mute wurde, als ich hier so unerwartet das Grab des Paters fand. Meine Schwäche kehrte verdoppelt zurück; ich stieß einen Schrei aus und fiel um. Als ich wieder erwachte, war fast ein ganzer Tag vergangen, denn es war der Vormittag des nächsten Tages. Ich konnte vor Mattigkeit und Hunger kaum aufstehen. Ich schleppte mich zur nahen Quelle und trank; dann kroch ich in das Gebüsch, wo ich zum Glück ein paar eßbare Mushrooms 22) fand, die ich so verzehrte, wie sie waren; dann schlief ich wieder ein. Als ich abermals erwachte, war der Abend nahe; neben mir lag ein halbes, gebratenes Bighorn 23). Wer hatte es hingelegt? Das war gewiß eine nicht unwichtige Frage; aber ich legte sie mir nicht mehr als einmal vor, sondern griff zu und aß, aß, aß und aß, bis ich satt war und wieder ein- und bis zum nächsten Morgen schlief, wo ich gestärkt erwachte. Der Rest des Fleisches lag noch da. Ich versteckte es und machte mich auf, nach dem Geber zu suchen; aber ich fand keine Spur, und auch all mein Rufen war umsonst. Da kehrte ich zum Grab zurück, nahm das Fleisch aus dem Verstecke und machte mich auf den Weg, der hinunter nach der Foam-Cascade führt. Er ist sehr gefährlich; ich legte ihn aber glücklich zurück und fand am folgenden Tage, eben als mein Fleisch auf die Neige gegangen war, einen Jäger, der sich meiner annahm. Wie ich dann vom Park herunter und heim gekommen bin, das ist hier Nebensache. Die Hauptsache habe ich erzählt, und der Häuptling der Apatschen wird meiner Behauptung, daß der Padre Diterico ermordet worden ist und also nicht mehr lebt, Glauben schenken.“

Winnetou hielt den in die Hand gestützten Kopf tief gesenkt, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte; als er ihn dann hob, sah ich noch immer den Ausdruck des Zweifels in seinen Zügen liegen. Er richtete einen fragenden Blick auf mich, und ich antwortete auf diese stille Aufforderung:

„Meines Dafürhaltens unterliegt es keinem Zweifel, daß der Mord wirklich geschehen ist.“

„So glaubt mein Bruder Shatterhand an das Grab und an die Schrift?“ fragte der Apatsche.

„Ja.“

„Ist es nicht möglich, daß es noch einen andern Padre Diterico gegeben hat?“

„Ja, das ist möglich.“

„So ist die Schrift kein Beweiß, das Ikwehtsi’pa in diesem Grabe liegt; es kann ein Padre gleichen Namens sein.“

„Es ist der, den du meinst!“

„So hat mein Bruder Shatterhand wohl noch andere Beweise?“

„Ja.“

„Winnetou sieht dir an, daß du wieder einmal nachdenkst und Berechnungen machst. Beziehen sie sich auf das Grab im Gebirge?“

„Ja. Unser gastfreundlicher Mr. Harbour hat mir mehr, weit mehr erzählt, als er ahnt. Ich habe endlich, endlich den so lange vergeblich gesuchten Wawa Derrick gefunden.“

„Uff, uff! Wer ist’s?“

„Ikwehtsi’pa.“

„Uff!“

„Du wirst dich noch mehr wundern über das, was ich dir weiter sage. Tokbela, die jüngere Schwester des Padre, ist Tibo wete, die Squaw des Medizinmannes der Naiini-Komantschen.“

„Uff! Bist du allwissend?“

„Nein; ich denke nur nach. Infolge dieses Nachdenkens kann ich dir auch sagen, daß Tehua, die ältere Schwester des Padre, vielleicht auch noch lebt.“

„Deine Gedanken können Wunder thun; sie wecken Tote auf!“

„Du hast gehört, daß unter der Grabinschrift eine Sonne eingemeißelt war. Die ältere Schwester hieß Tehua, d.i. Sonne; sie hat das Grab errichtet und das Mal hergestellt, also noch gelebt, als er ermordet worden war.“

„Uff! Dieser Gedanke ist so einfach und richtig, daß ich mich wundere, nicht selbst daraufgekommen zu sein! Aber wenn Tehua wirklich noch leben sollte, wo werden wir sie zu suchen haben?“

„Das weiß nur sie allein. Sie hält sich im Verborgenen; sie läßt es niemanden wissen oder darf es niemanden wissen lassen.“

„Woraus schließest du das?“

„Das halb gebratene Bighorn war von ihr.“

„Uff!“

Der sonst so scharfsinnige Winnetou kam heut gar nicht aus seinen Uffs der Verwunderung heraus; das war aber gar nicht etwa ein Beweis, daß ich ihm im folgerichtigen Denken und Schließen überlegen war, o nein! Ich hatte eben mehr Stoff zum Nachdenken über den vorliegenden Fall sammeln können als er. Hätte er an meiner Stelle diesen Stoff gehabt, so wäre er wahrscheinlich viel eher als ich zu meinem Resultate gekommen. Ich fuhr fort:

„Ich behaupte, daß das Fleisch von ihr war, und habe meine Gründe dazu, von denen ich heut und hier an dieser Stelle nur den einen sagen kann: Jeder Geber des Fleisches, welcher nicht zu dem Grabe, also zu dem Morde, in Beziehung steht, hätte sich unbedenklich zeigen dürfen; dieser aber hat sich nicht sehen lassen, folglich steht er in irgend einem Verhältnisse zu der verbrecherischen That.“

„Man könnte doch auch annehmen, daß der Mörder es gewesen sei, denn dieser ist es, der sich am allerwenigsten am Schauplatze des Verbrechens zeigen darf,“ warf der Apatsche ein. „Man weiß, daß ein Mörder immer wieder nach dem Orte seiner That gezogen wird.“

„Das gebe ich zu; aber der Spender oder die Spenderin des Fleisches verrät ein barmherziges Gemüt, ein mildthätiges Herz. Wie stimmt das mit den Eigenschaften überein, die man einem Mörder zuschreiben muß und die ganz entgegengesetzter Art sind?“

„So meint Old Shatterhand wirklich, daß es Tehua gewesen ist?“

„Ja“

„Welchen Grund hätte sie, so im Verborgenen zu leben, da sie doch weiß, wie viele Freunde sich in der fernen Heimat um sie grämen?“

„Das ist vielleicht ein Geheimnis, welches ich jetzt noch nicht ergründen kann. Es braucht aber nicht notwendig eins zu sein. Grad weil ein Mörder gewöhnlich zum Schauplatze seiner That zurückgezogen wird, bleibt sie an Ort und Stelle, um ihn da zu erwarten! Vielleicht auch ist sie nicht in die Heimat zurückgekehrt, weil sie von ihrer Familie zurückgehalten wird.“

„Familie? Meint mein Bruder, daß sie verheiratet sein könnte?“

„Warum nicht? Wenn die jüngere Schwester die Squaw eines Mannes ist, kann die ältere doch noch viel eher geheiratet haben! Nicht?“

„Ja; aber es giebt einen Umstand, welcher die Be rechnungen meines Bruders Shatterhand zu schanden macht, so scharfsinnig sie auch sind.“

„Welcher ist das?“

„Unser weißer Bruder Harbour ist ein Freund des Padre gewesen; er hat auch seine Schwestern gekannt und sie ihn ebenso. Nicht?“

„Ja.“

„Er ist am Grabe vor Hunger umgesunken und hat aus einer unbekannten Hand Fleisch bekommen. Wenn Tehua, die Schwester des Padre, es gewesen wäre, die es ihm gegeben hat, so hätte sie sich vor ihm, ihrem Freunde, ganz gewiß nicht versteckt, sondern ihn im Gegenteil ganz gewiß persönlich in Schutz genommen und verpflegt.“

„Wenn sie ihn erkannt hätte, ja; aber hat sie ihn erkannt? Es sind, seit sie verschwunden ist, weit über zwanzig Jahre vergangen; sein Aussehen hat sich überhaupt verändert, und die Anstrengungen und Entbehrungen hatten ihn dann vollends unkenntlich gemacht.“

„Aber eine schwache Squaw wird doch nicht ein so einsames, beschwerliches und verlassenes Leben da oben in den Rocky Mountains führen!“

„Ist sie allein oben? Ist nicht grad in dieser Beziehung ein großer Unterschied zwischen einer abgehärteten Indianerin und einer weißen Frau?“

„Uff! Es gelingt meinem Bruder Shatterhand, heut alle meine Einwürfe zu widerlegen. Er hat für alle meine Entgegnungen eine Antwort, die ich gelten lassen muß. Mein Auge scheint heut mit Blindheit geschlagen zu sein!“

„O nein! Ich spreche weniger Behauptungen als vielmehr Vermutungen aus. Unser Ziel ist ja bis heut die Foam-Cascade gewesen. Kommen wir hinauf, so besuchen wir das Grab, und dann wird es sich höchst wahrscheinlich finden, welche meiner Gedanken richtig und welche falsch gewesen sind.“

„Ja, wir suchen das Grab auf. Wir müssen und werden Spuren des Mordes und des Mörders finden, selbst nach so langer Zeit. Wehe ihm, wenn wir ihn dann fassen! Ich habe meinem Bruder Shatterhand nie widersprochen, wenn er seinen milden Sinn walten ließ; hier aber kenne ich keine Gnade!“

Diese Worte zeigten wieder einmal, was für ein wunderbarer, unvergleichlicher Mensch Winnetou war. Er war überzeugt, noch nach mehr als zwanzig Jahren eine Spur des Mörders zu entdecken. Ich traute ihm das zu, obwohl tausend andere darüber lächeln mögen. Selbst wenn sich alle anderen Nachforschungen als vergeblich erwiesen, hätte man sich durch das Oeffnen des Grabes einen Fingerzeig verschaffen können. Glücklicherweise war es mir möglich, seine Absichten schon jetzt durch einige weitere Bemerkungen zu unterstützen, indem ich, ihm beistimmend, erklär te:

„Auch ich bin in diesem Falle bereit, die größte Strenge walten zu lassen, und hege übrigens die feste Ueberzeugung, daß wir das Grab nicht vergeblich besuchen werden.“

„Hat mein Bruder einen Grund zu dieser Ueberzeugung?“

„Ja.“

„Welchen?“

„Glaubt Winnetou, daß es einen oder mehrere Mörder gegeben hat?“

„Nicht bloß einen.“

„Nun gut! Einer von ihnen ist schon auf dem Wege hinauf.“

„Uff! Wer ist das?“

„Douglas, der sogenannte General.“

„Uff, uff! Dieser Mann, dieser Mensch soll auch am Morde da oben beteiligt gewesen sein? Wie kommt Old Shatterhand auf diese Idee?“

Es wird noch in Erinnerung sein, daß der ‚General‘ damals auf Helmers Farm einen Ring verloren hatte, der mir übergeben worden war 24). Ich hatte ihn an meinen Finger gesteckt und trug ihn noch heut daran. Jetzt zog ich ihn herunter und reichte ihn dem Apatschen mit den Worten hin:

„Mein Bruder wird diesen Ring noch von Helmers Home her kennen. Er mag die Buchstaben betrachten, welche auf der Innenseite desselben zu lesen sind.“

Er nahm den Ring in Augenschein und sah E.B. 5. VIII. 1842. Dann gab er ihn dem Farmer und sagte:

„Damit unser Bruder Harbour erfahre, daß wir schon jetzt auf der Fährte der Mörder sind, mag er einmal diese Schrift mit derjenigen am Felsen des Grabes vergleichen!“

Der Angeredete folgte dieser Aufforderung und rief aus:

„All devils! Das ist ja ganz dasselbe E.B., welches ich dort an jenem Felsen sogar zweimal gefunden habe! Und der Name des Mörders hatte auch ein B., welches zwar noch einen – – –“

Was er weiter sagte, hörte ich nicht; ich gab keine Achtung darauf, weil meine Aufmerksamkeit von etwas anderem in Anspruch genommen wurde. Der Farmer saß nämlich von mir aus grad gegen das eine Fenster; da meine Augen auf ihn gerichtet waren, kam auch dieses Fenster mit in meinen Gesichtskreis, und da erblickte ich das Gesicht eines Mannes, welcher draußen stand und hereinsah. Es war hell, wie das eines Weißen und wollte mir bekannt vorkommen. Diesen Mann hatte ich gewiß schon einmal gesehen, nur fiel mir nicht gleich ein, wo dies gewesen war. Eben wollte ich die Anwesenden auf den unberufenen Lauscher aufmerksam machen, als der neben mir sitzende Schahko Matto, der ihn in diesem Momente auch erblickte, in hastiger Eile den Arm ausstreckte und mit schallender Stimme schrie:

„Tibo taka! Da draußen am Fenster steht Tibo taka!“

Alle, welche diesen Namen kannten, sprangen auf. Ja, es war der Medizinmann der Naiini-Komantschen! Sein Gesicht sah heut nicht rotbraun sondern hell, wie das eines Weißen. Das war der Grund, daß ich ihn nicht sofort erkannt hatte. Ein solcher Feind am Fenster und wir hier in der Stube, alle hell beleuchtet! Der Schuß des alten Wabble auf Fenners Farm fiel mir ein, und ich rief:

„Das Licht schnell aus! Er könnte schießen!“

Noch hatte ich diese Warnung nicht ganz ausgesprochen, so klirrte die zerbrechende Fensterscheibe, und die Mündung eines Gewehres erschien. Mit einem Satze sprang ich nach der nächsten, mich schützenden Ecke an der Außenwand; da krachte aber auch schon der Schuß, der, wie alle Anwesenden später sagten und auch ich überzeugt war, mir gegolten hatte. Die Kugel schlug über meinen Stuhl hinweg in die Küchenwand. Das Gewehr war schnell wieder zurückgezogen worden; ich eilte zur Lampe und löschte sie aus, so daß die Thür ins Finstere zu liegen kam, schnellte mich zu ihr hin, öffnete sie, zog einen Revolver aus dem Gürtel und blickte hinaus. Es war zur Zeit noch kein Stern aufgegangen, draußen alles stockfinster und also niemand zu sehen. Hören konnte ich auch nichts, weil die Anwesenden einen unbeschreiblichen Lärm machten, den Winnetou vergeblich zum Schweigen bringen wollte. Er kam zu mir, warf einen einzigen, schnellen Blick in die dunkle Nacht hinaus und forderte mich dann auf:

„Nicht hier bleiben, sondern weiter, viel weiter hinaus!“ Wenn der Medizinmann ein gescheiter Kerl gewesen wäre, hätte er seinen Platz nicht verlassen sondern ruhig gewartet, bis ich an der Thür erschien, und dann den zweiten Schuß auf mich abgegeben. So aber war er gleich nach dem ersten vergeblichen Schusse ausgerissen. Als ich mit Winnetou mich in schnellstem Laufe so weit vom Hause entfernt hatte, daß uns der Lärm in demselben nicht mehr stören konnte, legten wir uns nieder, die Ohren auf die Erde, und horchten. Wir vernahmen ganz deutlich den schnellen Hufschlag dreier Pferde, welche sich von der Farm westwärts entfernten.




22) Pilze.
23) Dickhornschaf.
24) Siehe „Old Surehand“ Bd. I

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand III