Kapitel Schahko Matto -15-



Drei Pferde? Der Medizinmann war also nicht allein hier auf der Farm gewesen? Wie hatte er es überhaupt ermöglichen können, von so weit südlich her durch das Gebiet feindlicher Indianerstämme hier herauf nach Kansas zu kommen? Welchen Grund, welchen Zweck hatte dieser ebenso weite wie beschwerliche Ritt?


Gewohnt, jedes Vorkommnis mit einem schnellen aber trotzdem gründlichen und keine Kleinigkeit übersehenden Blicke in seinem ganzen Umfange zu umfassen, um danach ohne das geringste Zaudern meine Bestimmungen treffen und etwaigen Gefahren im voraus erfolgreich begegnen zu können, ließ ich diese und noch andere Fragen rasch prüfend an mir vorübergehen, und Winnetou schien dasselbe zu thun. Er war ebenso schnell fertig wie ich, denn die Hufschläge waren noch nicht verklungen, zwischen Beginn und Ende unseres Nachdenkens also nur wenige Augenblicke vergangen, so sagte er:

„Tibo taka ist ein Bleichgesicht geworden, ein weißer Arzt, der ein krankes Krebsgesicht hinauf nach Fort Wallace bringen will. Was sagt mein Bruder Shatterhand dazu?“

„Daß du richtig geraten hast. Die kranke Lady ist Tibo wete, seine wenigstens körperlich gesunde Frau, die er für krank ausgibt, um ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllen zu können, damit man nicht sehe, daß ein Weißer mit einer Roten reitet. Sie wollen natürlich nicht nach Fort Wallace, sondern mit dem ‚General‘ hinauf nach Colorado. Wir werden die Mörder am Grabe des Ermordeten treffen. Komm herein, den Farmer zu fragen!“

Wir gingen nach dem Hause zurück; da kamen nun endlich erst alle, die in der Stube gewesen waren, mit ihren Waffen in den Händen heraus. Dick Hammerdull, der zwar unsere Gespräche, soweit sie sich auf den Namen Tibo bezogen, gehört aber nicht alles begriffen und verdaut hatte, rief mit lauter Stimme:

„Wenn es wirklich Tibo taka gewesen ist, so sind die Komantschen da, um die Farm zu überfallen. Wir befinden uns also in größter Gefahr. Mr. Harbour, ruft alle Eure Leute zusammen, damit wir uns verteidigen können!“

Ich war, während der Dicke diesen berühmten und hochwichtigen Armee- oder Tagesbefehl ausgab, nach dem Hause zur Seite abgewichen, um nach unseren Pferden zu sehen. Sie waren alle da, und das beruhigte mich. Dann hörte ich die kommandierende Stimme des Farmers, und als ich um die vordere Ecke des Gebäudes bog, war die ganze Heeresmacht, Honved und Landsturm und sogar das ewig Weibliche mit inbegriffen, vollständig versammelt. Nur Winnetou war nicht da, sondern in die Stube gegangen, um in aller Gemächlichkeit die Lampe wieder anzubrennen und sich dann auf seinen Stuhl zu setzen. Es ließen sich alle Stimmen vernehmen; jeder wollte einen Vorschlag machen, einen Rat erteilen; ich machte diesem Wirrwarr ein Ende, indem ich ihn überschrie:

„Still doch, ihr Leute! Warum regt ihr euch so auf?“

„Warum wir uns aufregen? Welche Frage!“ ant wortete Hammerdull. „Die Komantschen sind ja da!“

„Wo denn?“

„Wo anders als hier? Ihr Medizinmann hat doch schon geschossen!“

„Euch wahrscheinlich in den Kopf, lieber Dick, denn es scheint mit Euerm Verstande keine rechte Ordnung zu haben. Wie sollen denn die Komantschen hierher an den Salmon kommen?“

„Auf ihren Pferden natürlich!“

„Wahrscheinlich auch auf Affen und Kamelen! Denkt doch nur, durch welche Völkerschaften sie sich winden müßten! Die Kiowas, Cherokees, Choctaws, Creeks, Seminolen, Chickesaws, Quapaws, Senekas, Wyandottes, Peorias, Ottawas, Modocs, Miamis, Shawnees, Kuchaties, Pawnees, Arrapahoes, Cheyennes, Osagen und noch mehr andere Stämme! Nur ganz verrückte Menschen könnten einen solchen Kriegszug wagen! Wie kann ein sonst so kluger Kerl das doch nur für möglich halten!“

„Ob es möglich oder unmöglich ist, das bleibt sich gleich, das ist sogar ganz und gar egal, wenn es nur nicht geschehen kann. Habe ich da nicht recht, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Schafskopf!“

Der lange Pitt antwortete diesmal nur mit diesem einen, inhaltsschweren Worte; es genügte aber vollständig, seine Meinung in zarter Weise anzudeuten. Alles lachte; aber der Dicke fühlte sich durch diese zarte Anspielung an seiner Ehre benachteiligt und erwiderte zornig:

„Wirf nicht so mit Tierköpfen um dich, sonst mußt du deinen eigenen auch verschleudern! Ich habe euch vor den Komantschen warnen wollen und bin doch nicht schuld daran, daß sie nicht kommen können! Ist das nicht besser, als wenn ich nicht gewarnt hätte und sie kämen doch?“

Die beiden Toasts hatten sich also wieder einmal entzweit; wir wußten aber, daß sie bald wieder zusammenkommen würden.

Es erregte meine Befriedigung, daß Schahko Matto mit bei unserer Gruppe stand. Er hätte die Gelegenheit benutzen und entfliehen können; es hätte ihm sogar nicht schwer fallen können, sich von unseren Waffen die besten auszusuchen. Daß er das nicht gethan hatte, war ein sicherer Beweis, daß er es ernst mit seinem Vorhaben meine, mit uns freiwillig reiten zu wollen. Ich trat zu ihm und sagte:

„Von diesem Augenblicke an ist der Häuptling der Osagen frei; unsere Riemen werden seine Glieder nicht wieder berühren, und er kann nun gehen, wohin er will.“

„Ich bleibe bei euch!“ antwortete er. „Apanatschka sollte mich zu Tibo taka führen; nun dieser selbst gekommen ist, kann er mir auf keinen Fall entgehen. Werdet Ihr ihm folgen?“

„Unbedingt! Du hast ihn sofort erkannt?“

„Ja. Ich würde ihn nach tausend Sonnen wieder erkennen. Was will er hier in Kansas? Warum kommt er des Nachts an diese Farm geschlichen?“

„Er ist nicht herangeschlichen, sondern er hat sich fortgeschlichen, allerdings mit einem lauten, glücklicherweise erfolglosen Knall. Ich werde dir das sofort beweisen.“

Um dies zu thun, wendete ich mich an den Farmer, welcher in meiner Nähe stand:

„Ist der Arzt mit dem kranken Weibe noch hier?“

„Nein,“ antwortete er. „Bell, der Cow-boy, sagte, daß er fort sei.“

„Dieser Mann war kein Arzt, sondern ein Medizinmann der Naiini-Komantschen, und die Frau war seine Squaw. Hat jemand von euch mit diesem Weibe gesprochen?“

„Nein; aber ich habe sie sprechen hören.“

„Was?“

„Sie verlangte von dem angeblichen Arzte einen Myrtlewreath; da führte er sie schnell aus der Stube nach dem Hinterhaus.“

„Er hat doch erst morgen fortgewollt. Wie ist er auf den Gedanken gekommen, diesen Entschluß zu ändern?“

Da schob sich der Cow-boy herbei und sagte:

„Darüber kann ich Euch die beste Auskunft erteilen, Mr. Shatterhand. Der Fremde kam in den Hof, um nach seinen Pferden zu sehen. Er hörte das laute Lachen in der Stube, wo Mr. Hammerdull eben eine seiner lustigen Geschichten erzählte, und fragte mich, was für Leute sich drin befänden. Ich sagte es ihm natürlich und merkte trotz der Dunkelheit, daß er erschrak. Wir gingen miteinander nach der Vorderseite des Hauses, wo er von weitem durch das Fenster in die Stube sah. Dann teilte er mir, indem er mir einige Dollars schenkte, im Vertrauen mit, daß er hier nun sehr überflüssig sei, denn er habe Euch vor kurzem in Kansas-City einen schweren Geldprozeß abgewonnen, wegen dem von Euch ihm blutige Rache geschworen worden sei. Darum fühle er sich hier seines Lebens nicht sicher und wolle lieber heimlich fort. Ich solle Euch aber auch nach seiner Entfernung nicht sagen, daß er hier gewesen sei, weil Ihr Euch sonst auf seine Fährte setzen und ihn sicher einholen und erschießen würdet. Der arme Teufel hatte so große Angst; er that mir leid, und so half ich ihm dazu, heimlich aus dem Haus und Hof zu kommen. Ich öffnete ihm die hintere Fenz und ließ ihn und die Frau mit dem Packpferde hinaus. Er muß die drei Pferde dann in passender Entfernung angepflockt und sich zurückgeschlichen haben.“

„Anders nicht. Mr. Bell, Ihr habt einen großen Fehler begangen, könnt aber nichts dafür, denn Ihr wußtet nicht, daß er ein Schurke, ein großer Verbrecher ist. Hat er nur von mir gesprochen?“

„Ja.“

„Nicht auch von dem jungen, roten Krieger hier, den wir Apanatschka nennen?“

„Kein Wort!“

„Well! Ich möchte jetzt gern den Raum sehen, in welchem er sich mit der Frau aufgehalten hat.“

Der Cow-boy zündete eine Laterne an und führte mich durch den Hof in das betreffende, sehr niedrige Gebäude, welches nur aus den vier Mauern und dem platten Dache bestand, also ein einziges Gelaß enthielt. Ich glaubte nicht etwa, daß er in einer solchen Gefahr, wie ihm doch gedroht hatte, so unvorsichtig gewesen sei, etwas für uns Wichtiges liegen zu lassen oder zu verlieren; ich wollte nur in gewohnter Weise nichts von alledem unterlassen, was in solchen Fällen von der Vor- und Umsicht vorgeschrieben wird. Ein Schriftsteller, welcher nicht Erlebtes, sondern nur Romane schreibt, würde nun Old Shatterhand eine Tasche, einen Beutel, einen Brief oder sonst einen Gegenstand finden lassen, durch dessen Erlangung alles, was uns noch Geheimnis war, aufgeklärt wurde; ich kann aber leider meiner Feder nicht gestatten, mir eine solche Schicksalsgunst zu erweisen, und muß eingestehen, daß ich nichts, aber auch ganz und gar nichts fand. Doch hatte ich meine Schuldigkeit gethan und begab mich also befriedigt nach der Stube, in welcher die andern alle jetzt wieder, sich über das Intermezzo unterhaltend, beisammen saßen.

Wenn ich sage „befriedigt“, so hat das seinen guten Grund. Ich war, grad wie auf Fenners Farm, auch heut dem Tode wie durch ein Wunder entgangen. Die innere Stimme, welche mich bei unserer Ankunft hier gewarnt hatte, war ganz gewiß die Stimme meines Schutzengels gewesen. Ich hatte ihr nicht gefolgt und war dennoch von ihm gerettet worden, indem er im Augenblicke der Gefahr meinen Blick nach dem betreffenden Fenster lenkte. Die Aehnlichkeit des heutigen Ereignisses mit dem auf Fenners Farm war sonderbar. Nun fehlte nur noch ein Ueberfall auf unsere Pferde oder gar auf uns selbst; dann würden die beiden Abende einander ganz leidlich kongruent!

Schüttelt vielleicht jemand lächelnd den Kopf darüber, daß ich von meinem Schutzengel rede? Lieber Zweifler, ich schmeichle mir ganz und gar nicht, dich zu meiner Ansicht, zu meinem Glauben zu bekehren, aber du magst sagen, was du willst, den Schutzengel disputierst du mir doch nicht hinweg. Ich bin sogar felsenfest überzeugt, daß ich nicht nur einen, sondern mehrere habe, ja daß es Menschen giebt, welche sich im Schutze sehr vieler solcher himmlischer Hüter be finden. Der Zar von Rußland, dessen Thron auf Dynamitsäulen steht, die Beherrscher von Reichen und Völkern, von deren Entschließungen das Wohl von Millionen Menschen abhängt, der Seekapitän, bei dem die kleinste Nachlässigkeit, die geringste falsche Berechnung den Untergang des Schiffes und aller seiner Bewohner herbeiführen kann, der Diplomat, welcher mit Nationen spielt, der Feldherr, welcher Armeen bewegt, der Arzt, dem das Leben oder der Tod seiner Patienten aus der Feder fließt, sie alle bedürfen zu ihrem Schutze, ihrer Beratung, ihrer Warnung viel, viel mehr der Engel, als zum Beispiel ein fetter Rentner, welcher keine andere Arbeit kennt und keinen andern Beruf zu haben scheint, als Coupons abzuschneiden. Mag man mich immerhin auslachen; ich habe den Mut, es ruhig hinzunehmen; aber indem ich hier an meinem Tische sitze und diese Zeilen niederschreibe, bin ich vollständig überzeugt, daß meine Unsichtbaren mich umschweben und mir, schriftstellerisch ausgedrückt, die Feder in die Tinte tauchen. Und wenn, was sehr häufig der Fall ist, ein Leser, der in der Irre ging, durch eines meiner Bücher auf den richtigen Weg gewiesen wird, so kommt sein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen sich über die glücklichen Erfolge ihres Einflusses, unter welchem ich schrieb und der andere las. Das sage ich nicht etwa in selbstgefälliger Ueberhebung, o nein! Wer da weiß, daß er sein Werk nur zum geringsten Teile sich selbst verdankt, der kann nicht anders als demütig und bescheiden sein, und ich trete mit dieser meiner Anschauung nur deshalb vor die Oeffentlichkeit, weil in unserer materiellen Zeit, in unserem ideals- und glaubenslosen fin de siècle nur selten jemand wagt, zu sagen, daß er mit diesem Leugnen und Verneinen nichts zu schaffen habe.

Wie tröstlich und beruhigend, wie ermunternd und anspornend ist es doch, zu wissen, daß Gottes Boten stetig um uns sind! Und welch große sittliche Macht liegt in diesem Glauben! Wer überzeugt ist, daß unsichtbare Wesen ihn umgeben, welche jeden seiner Gedanken kennen, jedes seiner Worte hören und alle seine Werke sehen, der wird sich gewiß hüten, so viel er kann, das Mißfallen dieser Gesandten des Richters aller Welt auf sich zu ziehen. Ich gebe diesen sogenannten, in Mißkredit geratenen Kinder-, Ammen-und Märchenglauben nicht für alle Schätze dieser Erde hin!

„Schutzengel? Lächerlich!“ sagte einst ein sehr gelehrter und weit gereister Herr zu mir, dessen Namen man in einigen Erdteilen kannte und auch heut noch kennt. „Haben Sie einen? Haben Sie ihn gesehen, ihn gehört, mit ihm gesprochen? Zeigen Sie ihn mir, dann will ich glauben, daß er existiert!“ Ein Jahr später traf ich ihn in Tirol. Nach der kurzen, herzlichen Begrü ßung war sein erstes, wie mir schien, ganz unmotiviertes Wort: „Es giebt welche; ich weiß es jetzt; auch ich habe einen!“ – „Was?“ fragte ich erstaunt. – „Schutzengel meine ich. Sie besinnen sich wohl noch unsers letzten Gespräches?“ – Er war in den Bergen gewesen und hatte sich, Steine klopfend und Pflanzen suchend, allzu eifrig bis an den höchsten und äußersten Rand eines tief und steil abfallenden Abhanges vorgewagt. Die dünne, lose Erdschicht war ins Gleiten gekommen und hatte ihn mit sich über die Kante gerissen. Mit der ganzen Wucht des hohen und jähen Falles an den Vorstößen, Rändern und Spitzen der Felsen aufschlagend, war er in die Tiefe gestürzt, dann aber plötzlich an dem Stumpfe einer Latsche hängen geblieben. Der Stumpf hatte sich nur in den Saum des Rockschoßes gebohrt; dieser dünne, schmale Halt konnte jeden Moment reißen, ja, es war überhaupt ein Wunder, wenn er nicht zerriß. Und das Wunder geschah: Der Saum hielt fest, weit über eine halbe Stunde lang, in so lebensgefährlicher Situation eine wahre Ewigkeit. Der Verunglückte schrie um Hilfe, doch vergeblich; ihm schwindelte vor der Tiefe; vor seinen Augen wurde es schwarz, und in den Ohren klang es wie Paukentöne. Seine Pulse schlugen; alle seine Glieder zitterten im Fieber; die Todesangst trat ein, und er begann, zu beten. Zunächst brachte er es nur zu einem krampfhaften „Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ Dann zog sein ganzes Leben, schnell wie im Traum und doch mit greller Deutlichkeit, an ihm vorüber; er lernte sich in diesen kurzen Augenblicken zum erstenmal richtig kennen. Er sah seine Fehlgriffe wie scharfe, schroffe Gletscher ragen und seine Unterlassungen wie bodenlose, hohle Abgründe gähnen; sein Unglaube kam ihm wie ein Krater vor, der ihn verschlingen wollte. Da diktierte ihm die Angst seiner Seele das richtige Gebet: „Vergieb mir, Herr, denn ich glaube nun an dich!“ Seine Verneinung der Schutzengel fiel ihm ein, und da klammerte er sich mit der Inbrunst der Todesnot an den Gedanken, daß es ja doch welche gebe. Gott allein konnte retten, retten durch seine Himmelsboten. Der über der Tiefe Hängende betete und betete, bis es ruhiger und immer ruhiger in ihm wurde; es war ihm, als ob er eine Hand auf seiner Stirne fühle; die Angst verschwand und gab der immer fester werdenden Zuversicht Raum, daß die Rettung schon unterwegs sei. Er wußte, daß es keine Hallucination war: durch das Kleidungsstück, an welchem er hing, überkam ihn das Gefühl, als ob ein unsichtbares Wesen sich über ihm befinde und den Saum des Gewandes an dem Stumpfe der Knieholzkiefer festhalte. Da wich auch der Schwindel von ihm; er konnte frei unter sich blicken. Als er das that, sah er den Wirt des Gasthofes, in dem er für einige Tage wohnte, mit sei nem Sohne kommen; beide waren vorzügliche Bergsteiger. Als sie ihn wahrnahmen, riefen sie ihm Mut zu. Der Sohn eilte zurück, um noch mehr Leute und Stricke zu holen, und der Vater kam heraufgestiegen, langsam zwar, aber mit tröstlicher Stetigkeit. Endlich grad über dem Verunglückten angelangt, warf er diesem die Schlinge eines Strickes zu, durch welche er die Arme zu strecken hatte. Das gab nun einen zuverlässigen Halt, welcher die völlige Ausführung der Rettung garantierte, die nach kurzer Zeit auch glücklich zustande kam. Unbegreiflich war, daß der Körper trotz des öftern Aufschlagens während des tiefen Sturzes außer einigen blauen Hautstellen keine Verletzung zeigte. Wahrhaft wunderbar aber mußte man es nennen, welche Ursache den Wirt zur Hilfe herbeigetrieben hatte. Sein jüngstes Kind nämlich, ein Mädchen von acht Jahren, war aus dem Garten zu ihm hereingekommen und hatte ihm gesagt, der Mann, der immer Blumen suche, sei von dem Berg gefallen und in der Mitte hängen geblieben. Die betreffende Seite des Berges lag aber vom Dorfe ab, so daß sie von da und von dem Garten aus gar nicht gesehen werden konnte, und weiter als in den Garten war das Kind nicht gekommen. Auf Befragen des Vaters hatte es gesagt, daß es den Mann habe um Hilfe rufen hören; die Entfernung war aber so groß, daß Hilferufe unvernehmbar blieben. Als der Vater die Bitte des Kindes nicht hatte erfüllen wollen, war dieses in ein so jämmerliches Schluchzen und Wehklagen ausgebrochen und hatte so lange fortgeweint, bis er, nur um es zu beruhigen, mit dem Sohne nach der Unglücksstelle aufgebrochen war. Der Gerettete ist noch heut fest überzeugt, daß er sein Leben zwei Schutzengeln zu verdanken habe; er behauptet, der eine habe ihn festgehalten und der andere das Kind zum Wirt geschickt.

Die Frage, ob ich meinen Schutzengel gesehen und gehört habe, kann mich nicht in Verlegenheit bringen. Ja, ich habe ihn gesehen, mit dem geistigen Auge; ich habe ihn gehört, in meinem Innern; ich habe seinen Einfluß gefühlt, und zwar unzählige Male. Bin ich etwa besonders veranlagt dazu? Gewiß nicht! Es ist wohl jedem Menschen gegeben, das Walten seines Schutzengels zu bemerken; die einzige Erfordernis dazu ist, daß man sich selbst genau kennt und sich selbst unter steter Kontrolle hält. Nur wer die richtige Selbstkenntnis besitzt und auf sie acht hat, kann unterscheiden, ob ein Gedanke ihm eingegeben wurde oder aus seinem eigenen Kopfe stammt, ob eine Empfindung, ein Entschluß in ihm selbst oder außerhalb seines geistigen Ichs entstand. Wieviel Menschen aber besitzen diese genaue Kenntnis ihrer selbst?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand III