1. Kapitel Bei Mutter Thick -19-



„Fällt mir nicht ein, sie übel zu nehmen, obgleich ich weiß, daß du dich irrst. Dennoch werde ich die Augen und Ohren offen halten; das verspreche ich dir.“


„Well! Will wünschen, daß ich mich irre; aber da Ihr Euern Neffen nicht persönlich kennt und es sich um eine so große Summe handelt, so ist die Vorsicht wenigstens nicht überflüssig.“

„Er hat sich mir gegenüber als Neffen legitimiert.“

„Durch Euern Brief, den er vorzeige?“

„Ja. Und morgen will er mir noch andre Briefe geben.“

„Das beweist noch nichts!“

„O doch!“

„Nein, denn diese Briefe können auf unrechtlichem Wege in seine Hand gekommen sein.“

„Muß man wegen einer Namensänderung gleich das Allerschlimmste denken?“

„Ob man es denkt oder nicht, das bleibt sich gleich; ich traue diesen beiden Menschen nicht, und wenn Ihr ihnen glaubt, so werde ich um so schärfer auf sie achten.“

Sie brachen diese Unterredung ab, weil Sander sich jetzt wieder zu Sam Fire-gun gesellte. Hammerdull entfernte sich von ihnen und ritt nun mit dem langen Pitt Holbers, an dessen Seite er sich stets am wohlsten fühlte.

Ungefähr zwei Stunden, nachdem sie die Eisenbahn verlassen hatten, kamen sie an eine Stelle, welche sich sehr gut zum Lagerplatze eignete. Es gab da Gras für die Pferde, Wasser für die Menschen und Tiere und ziemlich dichtes Gebüsch, welches sehr vortrefflich als Deckung diente. Da wurde abgestiegen. Man konnte sich hier sicher fühlen, denn es war zwar nicht ganz finster, aber auch nicht hell genug, daß es einem oder mehreren Ogellallahs möglich gewesen wäre, den Weißen hierher zu folgen.

Sander hatte seit heute nachmittag nicht unbelauscht mit Wolf sprechen können. Jetzt, da es zum Schlafen ging, legte er sich mit diesem etwas entfernt von den andern, was niemand auffiel, wie er glaubte. Als sie annahmen, daß ihre Gefährten eingeschlafen seien, flüsterte Sander seinem Kumpane zu:

„Dieser Kampf mit unsern roten Freunden war das Ungelegenste, was uns kommen konnte. Diese Weißen sind geradezu blind gewesen, daß sie unsre Spiegelfechterei nicht bemerkt haben! Gut, daß die Feuer brannten und die Roten uns erkennen konnten. Besser, viel besser wäre es gewesen, sie hätten mit diesem Ueberfalle bis später gewartet und wären bei unsern Leuten geblieben. Sie konnten doch denken, daß wir nun bald kommen würden.“

„Sie wußten nicht, daß ich dich so schnell getroffen habe,“ warf Wolf ein. „Sonderbar, daß wir beide einander so glückliche Botschaft bringen konnten!“

„Ja. Ihr habt endlich, noch dazu in meiner Abwesenheit, das lang gesuchte Lager von Sam Fire-guns Gesellschaft entdeckt, und es ist für uns von größtem Vorteile, daß die Ogellallahs uns bei dem Ueberfalle helfen wollen. Aber grad darum mußten sie ihren heutigen Streich aufschieben. Es wird bei Fire-gun so reiche Beute geben, daß wir uns vom Geschäft zurückziehen können.“

„Ja. Welche Menge von Gold sie zwischen den Big-Horn-Bergen gesammelt haben, das hast du ja als sein lieber ‚Neffe‘ von ihm selbst gehört. Und wenn wir dazu die großen Vorräte von Pelzen und Fellen rechnen, die sie angesammelt haben, so kommt eine Beute heraus, wie sie so reich von unsrer Gesellschaft noch nie gemacht worden ist. Dazu das große Glück, daß du mit dem echten Neffen des Colonel zusammengetroffen bist! Hast freilich einen großen Fehler begangen.“

„Welchen?“

„Daß du ihn nicht kalt gemacht hast.“

„Das war freilich eine Schwäche von mir; aber er war so aufrichtig und vertrauensselig; er beantwortete mir alle, alle meine Fragen und gab mir so bereitwillig Auskunft über seine intimsten Familienverhältnisse, deren Kenntnis mir nötig war, wenn ich seine Stelle einnehmen wollte, daß ich schwach wurde und mit seinem Gelde und seinen Papieren davonging, ohne ihm das Leben zu nehmen.“

„Ich an deiner Stelle hätte ihn unschädlich gemacht.“

„Das ist er auch so schon.“

„Er ist dir sicher gefolgt!“

„Nein. Er ist ein Neuling im Lande, hier vollständig unbekannt und – was die Hauptsache ist – hat kein Geld, keinen einzigen Cent mehr. Er ist also hilfloser und verlassener als ein Waisenknabe und kann mir weder folgen noch uns in irgend einer Weise schaden. Die Hauptsache war, daß ich im gleichen Alter mit ihm stehe und daß Sam Fire-gun mich noch nie gesehen hat. Er glaubt es wirklich, daß ich sein Neffe bin.“

„Das ist wahr, mir aber nicht lieb.“

„Warum?“

„Weil wir nun, obwohl wir sein Lager endlich, endlich entdeckt haben, wahrscheinlich von unserm ursprünglichen Plane abweichen müssen.“

„Das Lager zu überfallen? Das ist nun freilich eigentlich nicht mehr nötig, denn als Neffe des Alten bekomme ich alles, was er hat.“

„Und wir andern nichts! Nein, das gebe ich nicht zu. Wir haben uns Monate lang geplagt, das Versteck zu entdecken, und nun es uns gelungen ist, sollen wir verzichten? Nein, nein!“

„Rege dich nicht auf. Wir kommen schon morgen früh ganz nahe an dem Lager unsrer Gesellschaft vorbei, und bis dahin können wir uns ja besprechen.“

„Meinst du, daß Sam Fire-gun diesen Weg einschlagen wird?“

„Ja. Er reitet jedenfalls direkt nach seinem Camp, und da muß er dort vorbei. Horch! Es muß jemand hinter uns im Gebüsch sein!“

Sie lauschten und vernahmen nach einiger Zeit ein leises Rascheln, welches sich von ihnen entfernte.

„Alle Teufel! Wir sind belauscht worden!“ flüsterte Sander seinem Kumpane zu.

„Es scheint so,“ antwortete dieser ebenso leise. „Aber von wem?“

„Entweder von Fire-gun selbst oder von einem andern. Ich werde gleich erfahren, wer es gewesen ist.“

„Auf welche Weise?“

„Ich schleiche mich zu Fire-gun. Liegt er nicht an seinem Platze, so war er es.“

„Und wenn es ein andrer war?“

„So geht er zu Fire-gun, um ihm zu sagen, was er gehört hat. In beiden Fällen erfahre ich, was ich wissen will. Alle Wetter! Wenn diese Kerls mißtrauisch geworden wären! Bleib still liegen, und warte, bis ich wiederkomme!“

Er dehnte sich lang aus und wand sich durch das Gras behend und unhörbar hinüber nach der Stelle, wo der Colonel sich niedergelegt hatte. Er lag noch dort; aber da kam von der andern Seite leisen Schrittes Dick Hammerdull, bog sich zu ihm nieder, weckte ihn auf und sagte:

„Wacht auf, Colonel; aber seid still, ganz still!“

So leise er gesprochen hatte, Sander lag so nahe und hatte ein so scharfes Gehör, daß ihm kein Wort entgangen war.

„Was ist’s? Was giebt’s?“ fragte Fire-gun.

„Leise, leise, daß die da drüben es nicht hören! Ich habe Euch gesagt, daß ich aufpassen will, Sir. Es fiel mir auf, daß Heinrich Sander und Peter Wolf – verteufelt klapperiger Name für die Zunge eines nicht deutschen Gentleman! – also es fiel mir auf, daß diese beiden sich so entfernt von uns niederlegten. Ich faßte Verdacht und schlich mich hin. Es gelang mir, ganz nahe an sie zu kommen, so daß mein Kopf fast zwischen ihren Köpfen lag, und da hörte ich sie flüstern.“

„Hast du verstanden, was sie sagten?“

„Ob ich sie verstanden habe oder nicht, das ist ganz und gar egal; aber ich hörte, daß dieser Sander der Kapitän einer Bande von Buschkleppern ist.“

„Ah! Wirklich?“

„Ich hatte also recht. Er ist nicht Euer Neffe, und der andre heißt Jean Letrier. Ihre Leute haben unser Lager entdeckt und wollen es überfallen. Sie haben sich sogar mit den Roten verbündet. Sander hat Euren wirklichen Neffen getroffen und ihm alles abgenommen, was er – – –“

Mehr hörte Sander nicht, denn mehr wollte und brauchte er nicht zu hören; er wußte genug und kroch schleunigst zu seinem Gefährten zurück.

„Wir sind verraten!“ raunte er ihn zu. „Nimm dein Gewehr, und folge mir schnell zu unsern Pferden! Aber ganz leise, leise!“

Sie huschten fort, zwischen den Büschen hinaus nach dem kleinen, freien Platze, wo die Pferde angepflockt waren. Sie machten die ihrigen los und zogen sie langsam, sehr langsam fort, damit die Huftritte nicht gehört würden. Als sie sich so weit entfernt hatten, daß sie sich nun sicher fühlten, stiegen sie auf und ritten davon.

„Aber so sag doch endlich, was du erfahren hast!“ wurde Sander von Wolf aufgefordert.

„Später, später! Jetzt müssen wir jagen, förmlich jagen, um unsre Leute zu erreichen. In zwei Stunden sind wir dort, um sie zu holen, denn wir müssen diese Kerls noch heut nacht festnehmen. Dieser verdammte Hammerdull hat uns durchschaut; er kennt sogar deinen Namen Jean Letrier!“

„Aber woher doch?“

„Das weiß der Teufel! Vorwärts jetzt, vorwärts!“

Inzwischen hatte Hammerdull dem Colonel alles, was von ihm erlauscht worden war, mitgeteilt. Sie berieten leise miteinander, und Sam Fire-gun kam, trotzdem Hammerdull ihn zum sofortigen Handeln drängte, zu dem Entschlüsse:

„Jetzt nicht. Sie sind uns sicher. Du kannst dich leicht verhört haben.“

„Ich verlasse mich auf meine Ohren!“

„Vielleicht haben sie gar nicht von uns und sich, sondern von andern Personen gesprochen.“:

„Sie sprachen von Euch, Sir, ganz gewiß von Euch!“

„So müssen wir dennoch bis früh warten. Wenn wir sie jetzt, in dieser Dunkelheit, ins Verhör nehmen, entkommen sie uns. Wir müssen unbedingt warten, bis es hell geworden ist. Da sehen wir ihre Gesichter, ihre Mienen, alle ihre Bewegungen. Sie ahnen doch nicht, daß du sie belauscht hast?“

„Nein.“

„Nun, da ist auch keine Gefahr im Verzüge, und wir können ruhig schlafen. Leg dich auch aufs Ohr!“

Hammerdull wollte noch eine Bemerkung machen, wurde aber fortgewiesen; er legte sich, verdrossen brummend, nieder und schlief trotz seines Aergers sehr bald ein.

Auch die andern schliefen; selbst der stets vorsichtige Winnetou war davon nicht ausgeschlossen. Er hegte die Ueberzeugung, daß kein Ogellallah ihnen gefolgt sei, rechnete aber doch mit der Möglichkeit, daß er sich da irren könne. In diesem Falle war nach dem Gebrauche der Roten auch nicht jetzt, sondern erst gegen Morgen ein Angriff zu erwarten. Darum und weil er der Ruhe unbedingt bedürftig war, schlief er jetzt, wachte aber nach einigen Stunden wieder auf, ging zu seinem Pferde, führte es eine kleine Strecke in der Richtung, aus welcher sie gekommen waren, zurück, ließ es dort frei weiden und setzte sich dabei nieder. Dies that er, weil die Ogellallahs nur aus dieser Richtung zu erwarten waren; Sander und Wolf hatten sich, ohne daß er es wußte, in der entgegengesetzten entfernt. Sein Pferd hatte er nicht am Platze gelassen, sondern mitgenommen, weil es ein besserer Wächter als ein Mensch war.

Die Morgenluft erhob sich; sie wehte von daher, wohin Winnetou seine Aufmerksamkeit zu richten hatte. Da schnaubte sein Pferd. Es war jenes leise, nur aus einem einzigen Atemstoße bestehende Schnauben, womit es auf die Nähe eines verdächtigen Wesens aufmerksam zu machen pflegte. Zu seiner Verwunderung sah er, daß es dabei den Kopf nicht gegen, sondern in der Richtung des Windes, also nach dem Lager hin hielt. Er hatte trotz seines beispiellos scharfen Gehöres von dorther nicht das geringste Geräusch vernommen. Er lauschte.

Da ertönte dort plötzlich ein wüstes Geschrei von vielen Stimmen, nicht das Geheul von Roten, sondern das Gebrüll von Weißen, in englischer Sprache. Er rannte hin, doch nicht ganz. Bei dem Gebüsch angekommen, legte er sich nieder und kroch zwischen zwei Sträucher hinein. Er sah die Gestalten von fast zwanzig Weißen, welche die Schläfer überfallen hatten und nun im Begriff standen, sie zu binden.

„Winnetou haben wir noch nicht!“ rief einer. „Der darf uns nicht entschlüpfen! Wo ist er? Sucht ihn, sucht!“

Das war die Stimme Sanders; Winnetou erkannte sie und wußte sofort, woran er war.

„Uff!“ sagte er zu sich selbst. „Ich kann jetzt keinen Beistand leisten, sonst bin ich mit ihnen verloren. Ich muß mich erhalten, um diesen Bleichgesichtern folgen zu können. Howgh!“

Er kehrte eiligst zu seinem Pferde zurück, stieg auf und ritt im Galopp davon, das Beste, was er unter den gegenwärtigen Umständen thun konnte. – – –

Der einstige Indianeragent unterbrach hier seine Erzählung, welcher alle Zuhörer mit großer Spannung gefolgt waren. Ich selbst war Zeuge von einigen Eisenbahnüberfällen durch Indianer gewesen, und obgleich sie dem jetzt erzählten alle ähnlich waren, hatte ich der Geschichte nicht weniger Aufmerksamkeit gewidmet, als die andern Gäste der Mutter Thick. Sam Fire-gun, Dick Hammerdull und Pitt Holbers waren mir sehr wohlbekannte Persönlichkeiten, und ich wußte, daß sie dieses Ereignis ähnlich so, wie es erzählt wurde, erlebt hatten.

Die Anwesenden ließen Ausrufe der Befriedigung, der Anerkennung hören und baten den Erzähler, ihre Neugierde nicht auf die Folter zu spannen, sondern schnell fortzufahren.

„Nicht wahr, so etwas hört sich leicht an?“ fragte er. „Aber dem, der es mitmacht, fällt es nicht so leicht!“

„Waret Ihr denn dabei?“ fragte einer der mit an seinem Tische Sitzenden.

„Bisher nicht. Was ich bis jetzt erzählt habe, das habe ich so gebracht, wie es mir später erzählt worden ist. Das aber, was nun kommt, habe ich selbst mit erlebt. Und dabei kommt genau ebenso ein Detektive vor wie in der Geschichte, die wir vorhin gehört haben. Das ging nämlich folgendermaßen zu:

Ich ging damals mit einigen tüchtigen Leuten, die mich schon oft begleitet hatten, den Arkansas hinauf, weil ich als Indianeragent zu den Cheyennes mußte. Dabei kam ich auch nach Fort Gibson und in den Laden des Irländers Winklay, der mich sehr gut kannte. Wir waren die einzigen Gäste im Hause und saßen eben beim Essen, als wir draußen Pferdegetrappel und eine laut räsonnierende Stimme hörten. Wir gingen an die Fenster und sahen hinaus. Es gab da drei Reiter, welche soeben angekommen waren.

Der eine von ihnen war von schmächtiger Gestalt und fein gekleidet. Sein Gewehr, sein Revolver und sein Bowiemesser paßten wohl besser in den Westen als er selbst, der jedenfalls ein Gentleman war. Der zweite war ein hübscher, kräftiger, blonder Boy, dem ich sofort den Deutschen vom Gesicht ablas. Der dritte war derjenige, welcher so laut räsonnierte. Er saß auf einem widerspenstigen Dakota-Traber, der ihm viel zu schaffen zu machen schien.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand II