Fortsetzung 1 - Hiermit sind Gestalt und Wege des Seeverkehrs angedeutet, wie er sich etwa in der Zeit zwischen Chlodwig und Karl dem Großen im nördlichen und westlichen Europa abspielte. ...

Das gewaltige Ereignis nun, welches dem Seeverkehr seit dem 9. Jahrhundert einen starken Aufschwung gab und ihm viele neue Bahnen eröffnete, waren die Wikingerzüge. Die Wikingerzüge sind, kurz gesagt, eine Völkerwanderung der skandinavischen Stämme; sie bilden den großen Mittel- und Wendepunkt der Geschichte Nordeuropas im frühen Mittelalter. — Wikinger oder Normannen nannte man die dänischen, norwegischen und schwedischen Krieger, die etwa seit dem Jahre 800 sich in immer wachsenden Scharen über alle ihre Nachbarländer ergossen, zunächst als Piraten und Plünderer, später als Eroberer, Gründer, Kolonisten und — Kaufleute. Wo vorher der Verkehr gleichsam nur in schmalen Bächlein geflossen war, da brausten jetzt verheerende Ströme — verheerend zunächst, später aber auch befruchtend und völkerverbindend.

Das Verdienst der Normannen ist es, die vorhin geschilderten getrennten Verkehrsgebiete zu einem Ganzen verschmolzen zu haben. Skandinavische Schiffe durchfurchten nun den finnischen Meerbusen wie den Kanal und die Bucht von Biscaya, sie umsegelten das Nordkap wie Gibraltar. Damit soll nicht gesagt werden, daß die direkte Fahrt von der Nordsee in die Ostsee und in umgekehrter Richtung die Regel geworden sei. Diese Fahrt, die sogenannte „Umlandsfahrt“, nämlich um Kap Skagen und um die Halbinsel von Skanör und Falsterbo an der Südwestecke von Schonen herum, blieb im Mittelalter aus nautischen Gründen ziemlich selten und wurde erst seit dem 15. Jahrhundert häufiger ausgeführt. Aber wenn auch die Vermittlung des Verkehrs durch dänische Umschlagplätze bestehen blieb, so traten doch die baltischen Länder in viel engere Verkehrsbeziehungen zu Westeuropa, so daß man sehr wohl von einem einheitlichen Verkehr sprechen kann.


Für den Ostseehandel wurde es vor allem wichtig, daß das Vordringen der schwedischen Normannen, der ,,Rus“ und ,,Waräger“, wie sie hier genannt wurden, nach Rußland sie in Handelsbeziehungen zu den Arabern und Griechen brachte. An Stelle des verfallenden Birka blühte Sigtuna empor, der Mittelpunkt dieses Handels aber wurde die Insel Got1and. Von hier aus segelten die skandinavischen Händler durch den finnischen Meerbusen, durch Newa, Ladoga-See und Wolchow nach dem neugegründeten Fürstensitz und Handelsplatz Nowgorod am Ilmensee und gelangten von da weiter zu den großen, von den Arabern besuchten Handelsplätzen an der Wolga. Der Weg, auf dem die Skandinavier den Mittelpunkt des damaligen ost-westlichen Welthandels, Konstantinopel, erreichten, führte von Gotland durch den Rigaischen Meerbusen, auf der Düna und dem Dniepr ins Schwarze Meer. An der Ostsee selbst waren in diesen Jahrhunderten, außer den schon genannten, die wichtigsten Hafen- und Landeplätze Truso (am Drausensee, unweit von Elbing) und das Samland in Preußen, ferner das berühmte Julin (Wollin) an der Dievenow, dessen feste Burg, die Jomsburg, vom 10. bis 12. Jahrhundert in dänischen Händen war und lange Zeit den Jomswikingern, einer gefürchteten Seeräubergesellschaft, als Stützpunkt diente. Schleswig behielt seine alte Bedeutung, und am Übergang der Ostsee in die Nordsee, an den Küsten des Sundes, Kattegatts und Skageraks blühten verschiedene Marktstätten auf, die, ohne eine große ständige Bevölkerung zu besitzen, zu gewissen Zeiten recht stattliche Handelsflotten auf ihren Reeden versammelt sahen, so Halör am Sund, Brännö an der Mündung der Göta-Elf und Skiringssal unweit des späteren Tönsberg. Ähnliche Marktstätten an der Westküste Norwegens, Vaagen auf den Lofoten, Torgen, Nidaros (Drontheim), Bergen, verdankten ihre Bedeutung namentlich dem Handel mit finnischem Pelzwerk, sowie dem Wal- und Dorschfang. Die meisten norwegischen Städte des Mittelalters haben solchen Ursprung.

In der Nordsee machten die Wikingerfahrten den friedlichen Seehandel zunächst zu einem äußerst unsicheren und gefährdeten Geschäft. Schließlich waren es aber die Züge der Wikinger selbst, die ihm zu neuem Aufschwung verhalfen. Dies geschah z. B. direkt durch den Sklavenhandel, den die Normannen mit ihren Kriegsgefangenen nach der Heimat und über den Kanal trieben.

Wichtiger waren die indirekten Wirkungen: die Niederlassung der Normannen im Auslande hatte einen regen Verkehr zwischen den neuen Kolonien und der alten Heimat zur Folge und veranlaßte so eine Belebung der Meereswege und das Aufblühen gewisser Häfen, wobei sich auch im einzelnen gegen die frühere Zeit manches änderte. — Im 9. Jahrhundert blieb der Verkehr nach der fränkisch-friesischen Kontinentalküste für die Normannen immer noch der wichtigste. Die Friesen wußten sich hier den veränderten Verhältnissen anzupassen; sie leisteten oft energischen Widerstand, schlossen sich aber auch nicht selten den Wikingern an und verstanden es jedenfalls, ihren Platz zu behaupten. Der Seehandel des mehrfach geplünderten und zerstörten Dorestad ging an Utrecht, Tiel, später auch Dordtrecht und andere Plätze über; unter den Rheinhäfen tritt die beherrschende Stellung Kölns mehr und mehr hervor. Quentowic wurde völlig vernichtet und verschwand gänzlich aus der Zahl der Seehäfen, das gleichfalls zerstörte Ronen dagegen erhob sich als Hauptstadt des neuen normannischen Herzogtums zum wichtigsten Hafen Nordfrankreichs. Die flandrischen, sowie die Scheide- und Maashäfen begannen namentlich nach der Unterwerfung Englands durch Wilhelm den Eroberer (1066) aufzublühen. Hamburgs vielversprechende Anfänge wurden 845 auf lange Zeit hinaus vernichtet, wogegen Bremens Handel nach England und dem Norden schon frühzeitig eine gewisse Bedeutung erlangt zu haben scheint.

Viel wichtiger jedoch als für das Frankreich waren die Wikingerzüge für Handel und Schifffahrt auf den britischen Inseln, weil das skandinavische Element sich hier noch allgemeiner verbreitete und fester Fuß faßte. Etwa vom Beginn des 10. Jahrhunderts an, seitdem ein großer Teil Englands in dänischen Händen war, gewannen die Verbindungen von Skandinavien hierher steigende Bedeutung und bald holten die Dänen und Norweger mit Vorliebe die begehrten Produkte des Westens und Südens aus England. Seinen Höhepunkt erreichte der englisch-dänische Handel unter der Herrschaft der dänischen Könige in England (1017 — 1042). Neben London und York, die ihre alte Bedeutung wahrten, blühten viele, zum Teil neubegründete Häfen Englands auf. — Die stärkste Einwirkung durch die Normannen erfuhr jedoch Irland: alle wichtigeren Hafen- und Handelsstädte des Landes verdanken den Norwegern ihren Ursprung, und der rege Handelsverkehr, den die skandinavischen Ansiedler einerseits nach der gegenüberliegenden englischen Küste (Bristol und Chester) und nach Westfrankreich, anderseits nach Norwegen, Schottland und Island trieben, veränderte die merkantile und wirtschaftliche Stellung der vordem so abgeschiedenen Insel gründlich. Die Besiedlung Islands durch die Norweger (seit 874) erfolgte zu einem beträchtlichen Teile auf dem Wege über Irland und auch später noch blieb die Verbindung zwischen Irland und Island lange Zeit besonders rege. Überhaupt war die Besiedlung Islands für die Entwicklung der Seeschifffahrt ein nicht unwichtiger Faktor, einmal, weil die Fahrt dorthin mehr als irgend eine andere in Nordeuropa durch das freie, offene Meer ging, sodann, weil bei dem isländischen Verkehr verhältnismäßig beträchtliche Mengen von Menschen, lebendem Vieh und sonstigem Bedarf, den das arme Land nicht hervorbrachte, befördert werden mußten. Etwa bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts waren die Skandinavier unbestritten die Herren der See im nördlichen Europa. Seitdem ging es mit ihrer See- und Handelsmacht allmählich rückwärts, wozu die Christianisierung Skandinaviens und damit das Hinsterben des Wikingergeistes, die geringere kaufmännische Veranlagung der damaligen Skandinavier gegenüber ihren Konkurrenten, aber auch politische Gründe, wie der Sturz der dänischen Herrschaft in England (1042), beitrugen. Ausschlaggebend wurde jedoch die Bewegung der ostdeutschen Kolonisation seit der Mitte des 12. Jahrhunderts, die von einem mächtigen Aufschwung der deutschen Städte begleitet war. Seitdem die ganze Südküste der Ostsee in die Hände der seetüchtigen Niederdeutschen gekommen war, mußte sich die wirtschaftliche und merkantile Überlegenheit Niederdeutschlands mit Naturgewalt bemerkbar machen. Denn Niederdeutschland war der gegebene Vermittler in dem Verkehr zwischen den Emporien des Westens und den südöstlichen Küsten des baltischen Meeres mit ihren osteuropäischen Hinterländern, deren reiche Wald- und Feldprodukte dem Westen bald unentbehrlich wurden. In diesem Verkehr, dessen Umfang bald allen früheren baltisch-westeuropäischen Seehandel der Skandinavier weit in den Schatten stellte, hatte das norddeutsche Tiefland und seine Küste gegenüber den skandinavischen Reichen den Vorteil der ,,inneren Linie“, der kürzeren Verbindung. Es war also — außer den vorhin angeführten Gründen — die natürliche Überlegenheit der Deutschen auf dem bis tief in die Neuzeit hinein weitaus wichtigsten Handelswege Nordeuropas, die dem Seehandel und damit der Seeschiffahrt der Skandinavier verderblich wurde.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Nordische Seefahrten im früheren Mittelalter.