Vierte Fortsetzung

Verschiedenartig sind die Veränderungen, die das Landschaftsbild durch den Sturz von Grundlawinen erfährt. Soweit diese, wirtschaftliches Interesse verdienen, wollen wir ihre Besprechung auf später verschieben. Zunächst soll unsere Betrachtung wieder jenen Zügen im Hochgebirge gelten, deren Entstehung ausschließlich auf Lawinenschlag zurückgeht und für ihn charakteristisch ist.

Hierher gehört die Ausgestaltung der Furchen, der Lawinenbahnen, die zur Modellierung des Bergreliefs so hervorragend beitragen. Teilweise haben wir diese Züge schon gewürdigt (S. 96).


Im Sammelgebiet hat die Lawine den Schnee bis auf den nackten Boden zusammengerafft. Dieser ist nach ihrem Abgang festgestampft. Gräser und Halme sind niedergedrückt und weisen nach der Richtung der Bewegung. Oft auch sind Streifen in den Grund gepflügt, die gleichfalls nach abwärts zeigen. Doch erst in der Sturzbahn, im Tobel, werden wir gewahr, welch mächtige Faktoren der Gebirgsabtragung die Lawinen sind. Geschürft und tief aufgewühlt senken sich Rinnenboden und -flanken zum Tale. Schuttwerk, Rasenstücke, ganze Komplexe der Vegetationsdecke, Baumstämme, Felsblöcke werden mitgerissen. Sie fahren wie Hobel durch den Lawinenzug, glätten und schrammen die Felswände und reißen immer mehr Trümmer los. Es ist eine richtige Erosionsarbeit, wie wir sie beim fließenden Wasser kennen gelernt haben, die hier geleistet wird. Dass dabei Gebilde ähnlich den Gletscherschliffen (S. 30) entstehen, ist nicht erstaunlich. In langen Zügen sehen wir dann polierte, gerundete Felsbuckel als Streifen zwischen eckigen und kantigen Wänden herabziehen (z. B. am Spitalboden an der Grimsel). Scharf treten diese schmalen Lawinenbahnen hervor und unterscheiden sich von den Gletscherschliffen nur durch die Ausdehnung. Ein Gletscher kann große Flächen des Untergrundes abscheuern, denn er ist selbst ein großer Strom; die Lawine aber ist nur ein schmaler „Wildbach“, der über jähe Felswände Herabtost und nur das Gestein seiner kurzen Bahn abnützen kann.

Auf dem abschmelzenden Lawinenkegel sammeln sich alle mitgeführten Fremdkörper und häufen selbst einen Schuttkegel an. Die Oberfläche des Schnees schwindet, alle Verunreinigungen: Erde, Steine usf. lassen im Sommer kaum mehr den Lawinenkegel erkennen. Häufig beginnt auf der erdigen Bedeckung des Schnees schon eine schüchterne Vegetation zu erblühen. Sei es, dass mitgerissene Grasbüschel oder Stauden Fuß fassen, sei es, dass die Samen hochalpiner Pflanzen zu keimen beginnen. An Stelle verschwundener Lawinen oder aus dem Lawinenkegel selbst finden sich auf diese Weise Kolonien von Pflanzen, deren Heimat hoch oben über den Tälern liegt. Edelweiß, Edelraute, Alpenglöckchen (Soldanella), Saxifragen sind solche fremde Gäste der Täler.

Vorübergehend kann eine Stauung von Flüssen und Bächen eintreten, wenn sich Lawinen in den Weg legen. Indes werden dadurch verheerende Überschwemmungen nur äußerst selten erzeugt, wiewohl die Schneemassen manchmal keineswegs geringer sind als etwa die Schuttmassen großer Muren. Das Wasser ist aber stets wärmer als der Schnee und beginnt alsbald eine lebhaft bohrende Tätigkeit, die durch Ausschmelzen des Schnees noch wesentlich gefördert wird. Bald ist ein Tunnel geschaffen, durch den der Bach in unterirdischem Lauf schäumt. Bis lange in den Sommer hinein sehen wir solche Lawinenbrücken in engen Tälern den Bach überspannen. Das Gewölbe bricht schließlich ein. In Form zweier erdiger Wälle begleitet hernach der Lawinenrest das Gewässer, um im Spätsommer oder gar erst im folgenden Jahre zu verschwinden.

Dass das Phänomen, das in der Natur so gewaltig wirksam ist, auch dem Menschen und seiner Kultur Schaden bringt, ist verständlich genug. Dadurch erst werden die Lawinenstürze zu Katastrophen. — Bei der Grundlawine spielt der Windschlag keine wesentliche Rolle; umso gefährlicher ist der Schneeschlag selbst. Eng umgrenzte Bahnen reißt die Lawine in den Wald und deutet — auf unserer Abbildung trefflich zu sehen (Tafel 24) — an, dass die Verheerungen auf kleinen Raum beschränkt bleiben und nicht riesige Dimensionen annehmen wie bei Staublawinen. Da ihnen feste Bahnen vorgezeichnet sind, sollte man meinen, dass sie dem Menschen unmittelbar nicht gefährlich werden könnten. Und in der Tat, abgesehen von den alpinen Unglücksfällen, von denen ich früher sprach, sind es stets Ausnahmen, bei denen Menschenleben gefährdet werden. Wenn in sehr schneereichen Jahren die Lawinen unvorhergesehenen Umfang annehmen, so kann es wohl geschehen, dass sie in reißender Fahrt ihre Bahn an Krümmungen verlassen und mit furchtbarer Gewalt an einer Stelle hereinbrechen, an der ihr Erscheinen nicht erwartet wurde. Die rasende Schnelligkeit überrascht die Bewohner des Dorfes oder den Wanderer auf der Straße. An ein Entkommen ist nicht mehr zu denken. So wurde in den neunziger Jahren die Post Davos—St. Moritz vergeblich erwartet. Ein Suchen an der Unglücksstelle — gleich hatte man richtig an eine Lawinenkatastrophe gedacht — hatte keinen Erfolg. Nach vier Monaten wurde ein menschlicher Arm gefunden, der mitten aus dem Lawinenschnee herausgeschmolzen war. Das Gefährt war ereilt und mit seinen sechs Insassen begraben worden. Die Wucht und Schnelligkeit der Lawinen ist ja mitunter beispiellos; überqueren sie doch nicht nur häufig das Tal, sondern berennen auch noch den jenseitigen Hang, hoch an ihm emporbrandend!

Viel nachhaltiger, viel empfindlicher jedoch macht sich der Lawinenschaden geltend durch Zerstörung fruchtbaren Grundes, Almwiesen, Wälder oder Felder. Häufen sich auf den Wiesen über der Baumgrenze die Lawinenkegel an, so sammeln sich dort oben nach der Schneeschmelze auch die mitgeführten Gesteinstrümmer. Blockübersät, von Jahr zu Jahr öder dehnt sich mancher Almboden in unseren Alpen und ist völlig unbrauchbar geworden. Er „vergandet“. — In den Wald werden stets neue Lücken gerissen; er schrumpft zusammen und im gleichen Maß steigert sich die Zahl der jährlich niedergehenden Lawinen. Vielleicht trifft auch den Menschen ein Teil der Schuld. Er hat weite Hänge von Wald entblößt und dadurch an steiler Lehne große, kahle Flächen geschaffen, aus denen sich der Schnee häuft, aus denen im Frühjahr auch große Schneebretter abgehen können. Diesen Verwüstungen zu steuern, ist man darangegangen, die Lawinen zu „verbauen“. Besonders in Staaten, in denen die Forstwirtschaft große Bedeutung erlangt hat, ist man der Frage ernstlich nähergetreten. Soll der Verbau von Erfolg gekrönt sein, so muss man nicht nur die Örtlichkeit genau kennen: Abrissgebiet und Sturzbahn der Lawine, die verbaut werden soll, sondern es ist auch eine genaue Kenntnis des Wesens der Lawinen im Allgemeinen notwendig. Diese erlangt man nicht durch Studium einer Lawine, sondern natürlich möglichst vieler. Die Schweiz hat sich zuerst an das schwierige Werk gemacht, eine Statistik der Lawinen in den Schweizer Alpen ausarbeiten zu lassen*).

*) Dr. J. Coaz, Statistik und Verbau der Lawinen in den Schweizeralpen. Bern 1910.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Naturgewalten im Hochgebirge
Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 024 Chur und St. Moritz

Naturgewalten im Hochgebirge Tafel 024 Chur und St. Moritz

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