Die Theater.

Afrikanische Inselgegend, im Hintergrunde das Meer.

Professor Gerstlmaier (wie Robinson mit einer Schürze von Palmblättern und einem großen roten Parapluie): Nun lebe ich schon ein Jahr auf dieser einsamen Insel unter dem achtundvierzigsten Grade südlicher Breite und widme mich unablässig dem Studium der Naturwissenschaft. Dank dem Zufall, dass mich die wilden Einwohner für ein höheres Wesen ansehen und als solches verehren, sonst hätten sie mich längst gefressen. Allein das ist ja der Vorteil der Männer der Wissenschaft, dass sie stets von einem verklärenden Nebeldunste umhüllt sind und von den Laien im allgemeinen, im vorliegenden Falle in specie von den Menschenfressern, als Halbgötter angesehen werden müssen! Noch bin ich aber mit meinen Forschungen nicht zu Ende; unerachtet der genauesten mikroskopischen Beobachtungen gelang es mir noch nicht zu entdecken, ob die Exkremente der Sepia annulata aus rein animalischen oder vegetabilischen Atomen bestehen, worüber ich bereits am achthundertsten Bogen einer ausführlichen Abhandlung arbeite. — Ei! Was seh ich da kommen? Eine Art Papagei? Ein Psittacus formosus? — Die Spezies scheint mir neu. Ich will mich etwas verbergen und beobachten. (Versteckt sich.)


Kasperl (tritt ein): Schlapperdibix! Das ist ja eine miserable Landschaft! Kein Wirtshaus weit und breit! Keine menschliche Seel! Nix als Affen, Paperln und sonstige Menagerieviecher! Das ist ja zum Verhungern. Hätt ich nit a paar Schnecken g’funden — leider ohne Sauerkraut! — so war ich schon hin. Mein Magen kommt mir jetzt schon vor wie ein leerer Tabaksbeutel; mein Unterleib ist schon so eingeschrumpft, dass ich gar nimmer weiß, ob ich jemals einen Bauch g’habt habt Ja, was war denn das? — Der Kasperl ist doch nit zum Hungern und Dursten auf der Welt; Ha — Schreckenszeit! Und wie komm ich denn wieder fort und nach Haus zu meiner Gretl! — Mich kommt schier die Verzweiflung an! Auweh, auweh! Wenn ich verhungern müsst — nein, das hielt ich nit aus, da ging ich eher z'grund. (Weint.)

Gerstlmaier (springt hervor und packt den Kasperl): Halt, du entkommst mir nicht!

Kasperl: Herr jemini! Was ist denn das?

Gerstlmaier (Kasperl festhaltend): Ein herrliches Exemplar.

Kasperl: Lassen S' aus oder ich schlag aus!

Gerstlmaier: Ah, ich habe mich geirrt! Psittacus garrulus! Nur stillgestanden, Freundchen, bis ich dir die Flügel ein wenig gestutzt, damit du mir nicht mehr entkommst.

Kasperl: Was fallt Ihnen denn ein? Flügel stutzen! Ich bin ja kein Vogel.

Gerstlmaier: Das muss ich als Gelehrter besser wissen, wer du bist und zu welcher Spezies du gehörst.

Kasperl: Wie kommen denn Sie daher in die abgelegene Insel? Ich bin wirklich froh, dass ich eine menschliche Physionomie seh, obschon Sie wie a Narr ausschaun.

Gerstlmaier: Es ist die Frage, wer der Narr ist. Er ist also wirklich kein Papagei?

Kasperl: War nit übel! Ich bin nicht nur kein Papagei, sondern der Kasperl Larifari, pensioniertes Mitglied der europäischen Völkerwanderung und untergegangener Schiffsmatrose außer Dienst, nebenbei Privatier und Stiefelputzer; also, wenn S'mich als Bedienten brauchen können oder was, so steh ich zu Diensten; aber ich seh mehr auf gute Kost, als auf schlechte Behandlung und viele Arbeit. — So, jetzt wissen S' alles, was S' zu wissen brauchen, und überhaupt, wenn Sie ein ordentlicher Gelehrter sein wollen, so geben S' mir a Mass Bier als Drangeld.

Gerstlmaier: Gut, gut, genug des Geplappers, drolliger Psittacus. Ich will dich in meine Dienste nehmen, denn ich werde dich wohl brauchen können in meiner Höhle. Bleibe hier und warte, bis ich von meinem wissenschaftlichen Spaziergang zurückkehre, dann sollst du meine Beute heimtragen. (Ab.)

Kasperl: Das hab ich schon wieder g'merkt: das ist halt auch so ein gelehrter Hungerleider, wie mirs z'Haus genug haben. Die sind überall z'finden, sogar auf dieser Insel da muss so einer rumlaufen. Aber jetzt will ich ein bissl ausrasten, das warme Klima tut mir gar nit gut; ich hab schon ein' Schlaf, als wenn ich zwölf Maß Bier getrunken hätt. (Setzt sich, an einen Baum gelehnt.) So — ah ! Da liegt man gar nicht übel auf dem indianischen Moos, so weich wie — im — Fe — der — bett. (Schläft ein.)

(Die Wilden fallen mit Geschrei über Kasperl her.)

Kasperl: Auweh, auweh, die Menschenfresser! Herr Professor, kommen S' mir zu Hilf! Auweh! Auweh!

Erster Wilder: Fressi, frassi!

Zweiter Wilder: Guti Bissi!

Erster Wilder: Spissibrati!

Zweiter Wilder: Kro, kro, kro!

(Die Wilden schleppen Kasperl hinter die Szene, mittlerweile kommt das Krokodil und singt folgende Arie):

Krokodil:

Ich bin ein altes Krokodil
Und leb dahin ganz ruhig und still,
Bald in dem Wasser, bald zu Land
Am Ufer hier im warmen Sand.

Gemütlich ist mein Lebenslauf,
Was mir in Weg kommt, fress ich auf,
Und mir ist es ganz einerlei,
In meinem Magen wirds zu Brei.

Schon hundert Jahre leb ich jetzt,
Und wenn ich sterben muss zuletzt,
Leg ich mich ruhig ins Schilf hinein,
Und sterb im Abendsonnenschein.

(Marschiert ab.)

(Die Wilden schieben eine Feuerstelle heraus mit flackernder Flamme, ein Bratspieß liegt darüber. Es kommen noch andere Wilde dazu; unter schleppender Musik tanzen sie und singen folgenden Chor):

Spissi, spassi, Kasperladi,
Hicki, hacki Carbonadi.
Trenschi, transchi, Appetiti,
Fressi, frassi, fetti, fitti.

Schlicki, schlucki, Kasperlucki
Dricki, drucki, mamelucki,
Michi, machi, Kasperlores,
Spissi, spassi, tscha kapores.

(Kasperl wird gebunden an Händen und Füssen herausgeschleppt.)

Kasperl: Auweh! Auweh! Potz schlipperment, das wird mir zu arg. Ich bin ja ein Mensch und kein Kalbsbratl. Horts auf, ihr rabenschwarzen, verdächtigen Individuen! Hörts auf! — Ich gelobe, dass ich nie mehr eine Maß Bier trinken will, wenn ich diesmal ungerupft durchkomm.

(Furchtbarer Donnerschlag, die Wilden laufen auseinander. In den Wellen erscheint der Meergott Neptun):

Ich habe deinen Schwur gehört
Mit welchem Rettung du begehrt;
Sieh hier am Ufer den Delphin,
Er trägt dich übers Meer dahin.
Du kannst auf seinem Rücken schlafen,
Er bringt dich sicher in den Hafen.
Doch was du hast gelobet hier,
Den Schwur auch halt und trink kein Bier.
Ich bin die Gottheit der Gewässer,
Das Wasser soll dir schmecken besser.
Dies sagt zu dir der Gott Neptun
Und kehrt zurück ins Wasser nun.

(Versinkt.)

Kasperl (befreit von seinen Banden): Adje, adje, ich bedank mich halt recht schön für meine Rettung aus den Händen und Rachen dieser menschenfleischappetitlichen ungebildeten indianischen Wildlinge. (Für sich): Aber ang'führt hab ich den Wassermayer doch! Ich hab g'schworen, dass ich nicht eine Maß Bier mehr trink; ja freilich, nicht eine, sondern möglichst mehrere, denn eine Maß hat mir ohnehin nie g'langt! (Er besteigt den Delphin, welcher unter sanfter Musik mit ihm fortschwimmt; Gerstlmaier erscheint auf einem Hügel und schaut durch ein großes Perspektiv dem Kasperl nach.)

Der Vorhang fällt.

Ein Intermezzo, ein Zwischenspiel, ein Madrigal. Nicht in so kunstvoller Reimverschlingung, nicht von so melodischem Reize, wies am Hofe von Florenz geboten wurde, auch nicht von der einschmeichelnden Drehorgelwirkung der Cavalleria rusticana des neunzehnten Jahrhunderts. Nur eine Pause, ein Überblick, eine Brücke zum zweiten Teil dieses Buches: die Cäsur in der Einteilung. Wie man plötzlich sich niederlässt, wenn man vorher regelmäßig gewandert hat, oder im ersten und dritten Abschnitt ganz allgemein, im zweiten und vierten aber persönlich gesprochen hat. Kurz und gut ein Mittendrinn, ein Einwurf in den organischen Bau der Geschichte. Wie aus dem gotischen Turm des neuen Rathauses die barocken Schäffler herausspringen, wenns zwölf Uhr schlägt, wie man die beschaulichen Geleise des menschlichen Daseins verlässt, um die aufregenden einer Liebschaft zu betreten, wie der Münchner die stille Zeit zwischen Salvator und Maibock unterbricht, um über den Brenner zu fahren. Osterferien nennt er dieses Intermezzo, und Bozen heißt Ostermünchen. Als das wirkungsvollere Madrigal kann Karlsbad gelten. Gleichfalls im geliebten Österreich gelegen, jenem Lande, dem die tiefe Sehnsucht gilt, dem alle Herzen zufliegen, wenn ein Schützenfest die deutschen Stämme in München vereint. Schon deshalb, damits die anwesenden Preußen recht ärgert. Immerhin ist es mit aller Vorsicht zu gebrauchen — nämlich Karlsbad. Das große Schwemmsystem, das die Nieren spült, das sie aufnahmefähig macht für die Biermengen des kommenden Jahres. Somit zweite Cäsur im Lebensjahre des Münchners. Täglich nur ein Glas Pilsner, drei Wochen Dauer, dann gehts wieder von vorne an. Jetzt also weiß der Leser, was ein Intermezzo ist; an drastischen Beispielen zeigt mans am besten. Noch schlagender am braven, guten Kasperl, diesem oft hereinfallenden und immer wieder lachenden Philosophen. Man muss ihn sehen im Marionettentheater, diesen kaum ein Halbekrügl hohen, lieben Kerl mit seiner Kupfernase, seiner gelben Hose, der grünen Weste, dem roten Jäckchen, der weißen Halskrause und dem grünen Spitzhütchen. Wie er seine Glieder bewegt, wie er hinplumpst, sofort wieder hochspringt, wie er kämpft, mit Ritter, Tod und Teufel, das ist technisch und dichterisch so vollendet gemacht, dass mans nimmer vergessen kann. Am letzten, wenn man selber als Kind die ersten Theatereindrücke von dem Prachtkerl empfangen hat, wenn man ihn wirken sah mit dem Doktor Sassafrass, dem gestiefelten Kater, dem Dornröschen oder dem Blaubart. Papa Schmid, der Schöpfer des prächtigen Kunstinstituts, spricht ihn heute noch, trotzdem er sechsundachtzig Jahre zählt. Und Adolf Lentner, ein Mann, den sein Geschäft auf große Reisen führt, kehrt jeden Sonntag nach München zurück, um nachmittags die weitberühmte Puppe in Bewegung zu setzen. Er tut das aus reiner Begeisterung, seit vierzig Jahren. Und aus den gleichen Motiven hat Franz Graf von Pocci, der Kinderfreund, die Märchenseele, diese einzige Figur geschaffen. Die Stadtverwaltung Münchens, mehr berühmt durch den Bau prachtvoller Schulhäuser als durch erzieherischen Schriftstil von Gedenktafeln, hat „demselben“ als höchsten Ruhm an der Front seines Geburtshauses nachgesagt, dass er, nachdem er als Dichter und Zeichner gewirkt, als Oberstkämmerer gestorben sei. Was er in dieser Charge geleistet hat, lässt sich von Leuten schwer feststellen, die keinen Zutritt bei Hofe haben, aber das eine ist sicher, dass er für Groß und Klein ein echter Dichter war. „Kasperl unter den Wilden“ nennt sich das Stück, von dem hier ein Auszug gegeben wurde. Welche Hiebe auf das dünkelhafte Gelehrtentum und den vollgefressenen Münchner! Welch ein Humor in der Arie des Krokodils und in der Ansprache Neptuns! In den andern Stücken oft die feinsten lyrischen Stellen, oft die tiefsten Gedanken und dazwischen immer wieder das Lachen des Kasperl, das so recht aus dem tiefsten Bierbauch heraufkommt. Alles vorgeführt im stimmungsvollsten Rahmen, mit prächtigen Dekorationen, diskreten Kostümen und, was das Schönste daran ist, ohne Komödiantentum.

Schade, dass man wieder fort muss von der stillen Welt des behaglichen Hauses an der Blumenstraße, von jenem Theater, das in München allein beanspruchen kann, ein vollendetes zu heißen, sowohl was Darstellung betrifft als Auditorium. Welch ein Jubel in der Kinderschar, wenn sich nach langem Warten an der kleinen Rampe plötzlich die Lichter entzünden, welch eine Aufregung! Man schiebt nach vorne, nach rückwärts, ein frecher Kerl steigt auf die Bank, ein Anderer reißt ihn herunter, und plötzlich fängt ein Baby auf dem Schoße der Mutter furchtbar zu quieksen an. Aber schon setzt das Klavier ein, die Ouvertüre rauscht vorüber, der Vorhang hebt sich, man beginnt, man fährt fort — nicht mit dem Stücke, nein, mit dem Intermezzo. Nur ists diesmal kein Ruhepunkt, keine Erholung. Eine Droschke genommen, zum Bahnhof gefahren, in den Süd-Nord gestiegen. Dann weiter gerast mit achtzig Kilometer pro Stunde, über die Donau, über die Elbe und die märkische Sandbüchse zur Reichshauptstadt. So verlangt es das Buch, so verlangt es dieses Kapitel. Adieu Kasperl, adieu Papa Schmid, adieu Marionettentheater! Während ihr in der Versenkung verschwindet wie die Märchenprinzessin, tauchen andere Gestalten auf, so gänzlich verschieden von euch, in Kleidung, Haltung und Antlitz. Auch die Sprache ähnelt nimmer der euren. Und am wenigsten die Umrahmung. Marmortreppen, roter Sammet, Goldputten; darin fängt es an. Im wildesten Westen. Mit einer Hauptmannpremière. Das heißt, die Bewohner der vornehmsten Himmelsrichtung sind um ein Stück von Gerhart Hauptmann versammelt, den „Florian Geyer“. Ein großer, vielversprechender Abend mit umfassenden Vorbereitungen. Das Tiergartenviertel ist zu diesem Zwecke historisch. Es trägt Sturmhauben und Hellebarden, es ist in ein Kriegslager verwandelt, das der Generalissimus der vereinigten Bündler, der Geheime Regierungsrat und Professor der Literaturgeschichte Dr. Erich Schmidt, in eigener Person befehligt. Seine Boten eilen von Wachfeuer zu Wachfeuer, von Vorposten zu Vorposten, sie melden den einzelnen Rotten, was sie zu tun, und vor allem, was sie zu denken haben. Ihm zur Seite, hoch zu Ross, sein erster Adjutant, der Professor Richard Moses Meyer, in strammer, militärischer Haltung. Der hat darüber zu wachen, dass Ordnung im Lager besteht, dass jede Felonie im Keime unterdrückt wird. Denn es gibt leider auch Überläufer in der Schar der Landsknechte und Bauern des Tiergartenviertels. Aber dreimal wehe, wenn sie erwischt werden! Verdächtig sind sie schon lange. Dort zum Beispiel die Gruppe um die Wiener Ästheten. Die war fähig, ein Stück von Hofmannsthal manchmal schon besser zu finden. Doch sorgt der treue Feldhauptmann mit der verlässlichen Rundschau dafür, dass alles wieder richtig aplanieret werde zum Besten des Florian Geyer. Und der Obermarketender Sami Fischer hilft ihm dabei. Der hat in seiner großen Bude alle Gegensätze zu fröhlichem Tun vereinigt bis auf wenige, die ihre Stücke wo anders spielen lassen als im Lessing-Theater. Im Umkreis aber harrt die Zunft der Skribenten, der Schreiber, der kritisch Schaffenden. An der Spitze der bewährteste von allen, der treu ist wie Löffelholz, der grimme, gefürchtete Kerr. Hinter ihm Korrespondenten verschiedener Zeitungen, die im voraus geschriebenen Kritiken und Telegramme schon in der Tasche. Denn heute geht man sicher. Eine große Parole ist ausgegeben: Sieg auf der ganzen Linie, Sieg in der fernsten Provinz. Man hat vorgearbeitet, man hat sie verabredet, die Rache für 1896, wo der Florian Geyer aus Versehen geschlagen wurde. Drum wetterts von allen Seiten, drum geht ein Jauchzen, ein Stürmen durch das Lager wie am Tage der Schlacht von Weinsberg. Man hebt die Waffen, man veranstaltet einen Umzug. Unter lautem Singen erscheinen inmitten des auserwählten Volkes die Propheten Jonas und Elias. Die halten die letzte feurige Ansprache, dann sammeln sie alle Getreuen zur Schlacht und tragen persönlich den Bundschuh voran.

Was ihnen alles nachtorkelt, an Kommerzienräten, Geheimen Kommerzienräten, Doktoren, Börsenagenten und Malern, wer könnte es zählen? Einer vielleicht, der dem Spektakel vom Anfang bis zum Ende als Fremder beigewohnt hat: der Direktor des Schauspielhauses in München. Er ist aus den Leuten hervorgegangen, die den frenetischen Beifall spenden, ja, er war früher selbst bei dem Manne angestellt, der heute den Florian Geyer inszeniert hat. Scheint ihm auch treu geblieben zu sein, denn er klatscht begeistert in die Hände wie die Andern. Freilich, das ist mehr äußerlich. In Wirklichkeit hat er sich redlich gemopst. Was Geschichtliches. Böse Sache. Wer geht da rein? Und außerdem, wie soll mans spielen? Diese Unmasse Personen, die Darsteller an solchen Stil nicht gewöhnt, die Ausstattung zu kostspielig. Dann gar nur fünf Vorstellungen, weil die vierte kaum mehr die Kosten deckt. Besser schon, morgen bei Alexander oder im Trianon etwas aussuchen wie die Herkulespillen oder die Hochzeitsnacht, lustige Dinge, die ihm im innersten Herzensschrein ohnehin lieber sind, als die ganze, sogenannte literarische Geschichte. Allerdings, das darf man nur ganz leise denken, nicht im entferntesten andeuten, geschweige denn aussprechen. Sitzt man wieder in München, in dem behaglichen, stilvollen Hause, das Kajetan Schmederer in dankenswerter Weise errichtet und Richard Riemerschmied in trefflicher Weise gebaut hat, dann tut man sich leichter. Dort gibts manchmal auch Stürme, aber so intensiv gehts nicht runter wie im Lessingtheater. Auch die Ansprüche sind dort geringer. Man kann mit einem Ensemble arbeiten, das ein paar sehr gute, im allgemeinen aber nur Durchschnittskräfte enthält, man kann ein und denselben Rittersaal im Sarazenenschloss Siziliens, in der Villa des Kommerzienrats Schweißheimer und im Pariser Freudenhaus verwenden, man kann wohl akkreditierte Mitglieder nach Belieben hinausschmeißen oder gehen lassen — die Münchner schlucken alles hinunter. Sagen hinterher doch immer wieder: „Besser wie im Schauspielhaus wird nirgends gespielt.“ So war die Reise auch für den Herrn Direktor nur ein Intermezzo ohne weitere Folgen. Mit allen Spesen zu buchen auf Unkostenkonto. Und ein Intermezzo wars auch für die Kundschafter, die sich auf Gummisohlen ins Lager des Florian Geyer geschlichen hatten. Behende stürzten sie weiter, die kurze Strecke zum Deutschen Theater, wo Reinhardt regiert. „Nischt“. Das ist der Grundton ihrer Berichte. Dann holen sie ihren Hausdichter hervor, den nicht unbegabten William Shakespeare. Ziehen ihm ein buntfarbenes Kostüm an, schöne glänzende Ritterstiefel und goldene Sporen. Sie brennen ihm die Locken wie dem Trompeter von Säkkingen und ziehen ihm den Schnurrbart in die Höhe wie einem preußischen Gardeleutnant. Die Berliner aber, die das natürlich alles sehen müssen, schreien dann immer in heller Verzückung: „Nu, schau man, nu sieh man, was der Shakespeare wieder für feine lila Hosen trägt! Aber erst das grüne Wams! Das letztemal war es rot, das vorletztemal gelb. Sags ja, nicht zum Wiedererkennen ist er, der olle Kunde.“ Und Reinhardt reibt sich die Hände. Er ist der Zauberkünstler, der Tausendsasa. Lässt neue Reiche und Welten erstehen, stürzt Throne und Götter. Hat den achtzehnten Brumaire längst hinter sich, hat Marengo geschlagen, ist erster Konsul der freien Theaterrepublik, lässt sich nächstens zum Kaiser krönen. Wird vielleicht auch nach Moskau gehen; mit dem ganzen Betrieb, mit allen Dramaturgen, mit den unter seinem Hute vereinten Theatern und Tingeltangeln, mit dem ganzen Deutschen Reiche, seinem Parlamente und der obersten Spitze. Ein Riesengastspiel, wies die Welt seit Napoleon I. noch nicht erlebt hat, ein Unternehmen, wies nur das moderne Berlin hervorbringen kann. Weil man dort mit der Hochbahn in wenigen Minuten vom Zoologischen Garten bis zum Potsdamer Bahnhof fährt, weil man bei Kempinski schon am Samstag den Platz bestellen muss, will man am Sonntag dort Holsteiner Austern mit Henkell Trocken genießen, und weil der Verkehr in der Leipzigerstraße um zwei Uhr morgens noch nicht zur Ruhe kommen will.

Das alles lässt sich in München nur im Kleinen machen. Mit einem Vorortbetrieb, der um zwölf Uhr schon endet, mit einer Kneipe, die nach Märzenbier duftet und mit einem Eroberer, der ins Bayrische übersetzt ist. Herr von Possart, der frühere Leiter der Hofbühnen, stellte zwar mit Vorliebe auf den Brettern wie im Leben den Sieger von Jena und Austerlitz dar, in Wirklichkeit aber glich er viel eher dem Sohne der Hortense, dem dritten Napoleon. Das wäre auf Grund historischer Dokumente leicht festzustellen, vom zweiten Dezember 1851, dem Tag des Staatsstreiches an bis zur Schlacht von Sedan. Das heißt bis zu jener Stunde, wo das ganze Kartenhaus endlich zusammenbrach und der volle Bankerott nicht länger mehr zu verbergen war. Auch nicht mehr die Tatsache, dass die königliche Zivilliste ihre Theater in geradezu jämmerlicher Weise subventioniert. Darunter hatte Herr von Possart naturgemäss zu leiden. Aber er erklärte nicht, dass es unmöglich sei, unter solchen Umständen überhaupt zu regieren, sondern suchte, wie der letzte Kaiser der Franzosen, durch äußere Wirkungen zu blenden und dadurch die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Grundübel abzulenken. So durch das Prinzregententheater und die Mozartspiele. Denn er prüfte alles vom Standpunkt des Komödianten alten Stils. Den nur jene Stücke interessieren, wo er selber die größte Rolle spielt, dem die Hauptszene des dritten Aktes, wo er die große Ansprache in Form einer Arie singen kann, die liebste ist, und der die Geste der Oper über alles schätzt. Die junge dramatische Kunst sah er nicht oder wollte er nicht sehen. Allerdings, als sie anfing, ganz schüchtern draußen im Deutschen Theater, wo jetzt die Weiber auf den Redouten herumfegen, suchte er ihr zu begegnen. Aber nicht dadurch, dass er sie an sich riss und so die Gründung des Schauspielhauses verhinderte — was er nämlich gekonnt hätte — , sondern dadurch, dass er das Polizeipräsidium bat, die ihm fatale Konkurrenz glatt zu verbieten. So was durfte er in München tun, ohne öffentlich für irrsinnig erklärt zu werden. Ja, noch mehr, er durfte dabei den ältesten Benedix, die elendesten Schwankfabrikanten neueren Datums ungestört weiterspielen: die Münchner merkten noch nichts. Wie sollten sie auch? Sie hatten ja keine Vorbilder. Vom Gärtnertheater, dieser gänzlich heruntergekommenen Schmiere, konnte man schon damals nicht mehr reden, und das Volkstheater, das jetzt einen merkwürdigen Mischmasch für kleine Leute, sowie Sherlock Holmes für die gute Gesellschaft spielt, kam gleichfalls nicht in Betracht.

Nach Berlin aber geht der Münchner nicht. Höchstens einmal als junger Mensch. Auf ein Semester oder ein Lehrjahr. Doch da sieht er keine Theater, sondern nur Kneipen. Er sieht die Siegesallee, auf die er vorschriftsmäßig schimpft, er sieht den Kaiser, zu dem er mit scheuem Misstrauen emporblickt, er sieht die Damen der Friedrichstrasse, die er zuerst für Komtessen hält. Fortwährend hat er Heimweh. Kann kaum erwarten, dass das Exil zu Ende geht. Denn so schön wie in München ists halt doch nirgends auf der Welt. Auch nicht in Potsdam. Dorthin kommt er einmal, wenn es gewiss ist. Gehts hoch her, noch in irgend eine Galerie. Doch das ist schon eine Ausnahme. Der Münchner weiß, dass der Berliner von Kunst nichts versteht. Das haben ihm seine Landsleute von Kindheit auf gesagt, das hat er immer wieder in der Zeitung gelesen. Der erste Schauspieler, die erste Truppe, wenn sie in München gastieren, werden im allgemeinen behandelt wie Herrschaften vom Stadttheater in Straubing oder Vilsbiburg. Nil admirari. Besonders Berlin nicht. Der Münchner hält es einfach für unmöglich, dass, trotz der hier gezeichneten Lächerlichkeiten, Brahm oder Reinhardt für das deutsche Theater etwas bedeuten, er glaubt es nicht, dass außerdem noch an sechs bis sieben Bühnen vortreffliche Komödie gemacht wird. Erzählts ihm ein Fremder, ein Zugereister, dann lacht er ihn aus. „So gut wie bei uns wird nirgends gespielt.“ Und er meint damit noch immer das Schauspielhaus. Kommt er aber einmal dahinter, merkt ers, wie damals beim Residenztheater, dann haut er mit Händen und Füssen um sich. Darum mag sich Herr Stollberg in acht nehmen. Eines Tages wird auch für ihn das Neue erscheinen. Das spielt erst vorzüglich, zehnmal besser wie er. Doch der Münchner ist nicht hineinzukriegen. Darum verkracht es und spielt mäßig. Dann wechselt es dreimal den Besitzer und spielt schlecht. Dann findet es der Münchner gut und ist nicht mehr herauszubringen.

Somit Schauspielhaus zweites Intermezzo für den Münchner. Für den Verfasser ist es das letzte, und es bleibt nur noch die allgemeine Betrachtung von München im Gegensatze zur Reichshauptstadt auf dem Gebiete der bildenden Kunst. Das mag mancher als sehr überflüssig empfinden. Besonders was so ein richtiger Bayer ist wie der Herr Kultusminister von Wehner. Der war jahrelang Kunstreferent und kam vor wenigen Wochen zum erstenmal in seinem Dasein nach Berlin. Man will eben auch an leitender Stelle von diesem Thema nichts hören, man will nicht zugeben, weder in politischen Fragen noch sonst, dass man mit solchem Faktor zu rechnen hat, und vor allem, man will das Prestige wahren. Will so tun, als ob man was täte und steckt den Kopf in den Sand. Trotzdem, man kommt nicht darüber hinweg. Keine Vergleiche sollen gezogen werden: die beiden Gesichtspunkte im wohlberechneten Abstand zueinander gemessen, jeder für sich als ein Teil des Ganzen, und München doch wieder unter dem nicht hinwegzuleugnenden Drucke des Andern, so hat es sich darzustellen. Wers vom Standpunkt eines Fanatikers für Zentralisation sieht, etwa nach Frankreichs Vorbild, wirds nimmer verstehen. Leider kommts in solcher Tonart oft über die Donau herunter, schnarrend wie eine Kindertrompete. Redet von Provinz, von längst überwundenem Standpunkt, vom kleinen Wurstwarenhändler, der neben Wertheim und Tietz doch nicht mehr bestehen könne. Das ist natürlich sehr albern, ebenso traurig aber ist, dass das Berliner Knallprotzentum sich nicht ohne Grund brüstet. Die Leute kaufen, sie kaufen wirklich. Draußen am Kurfürstendamm, wenn die Sezession alljährlich geöffnet wird, gehts zu wie bei der Premiere im Lessingtheater. Nur dass es sich dort um Liebermann handelt. Und die Galerien unter Bode und Tschudi kaufen erst recht. München dagegen hat jedes Jahr eine Ausstellung im Glaspalast, eine in der Sezession. Da gehen ein paar Leute hinein, und der Staat erwirbt für die geringen Mittel, die zur Verfügung stehen, wähl- und systemlos recht minderwertige Sachen. Nur zwei Privatgalerien hat die ganze Stadt. Die des Herrn Thomas Knorr in seinem gastfreien Heim an der Briennerstraße, die des Herrn Wilhelm Weigand in der weltfremden Stille des Sternguckerviertels. Darum sei das Intermezzo, das mit dem Theater begann, geschlossen mit dem Ausdruck des Dankes für diese beiden Männer.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Muenchen.