Die Landschaft.

Inmitten dichtbewaldeter Berge, hoch über der oberbayrischen Ebene ruht der einsame, dunkelgrüne Walchensee. Unbewegt ist seine Fläche, Karwendel und Wetterstein spiegeln im Sonnenglanze ihre verschneiten Felsrücken, und ein Schifflein zieht wie ein schwarzes Insekt von der Niedernacher Bucht hinüber zum Klösterl. Friede über dem Wasser, Friede darunter. Nur ganz in der Tiefe, weit unter den pfeilgerade ziehenden Fischen, lauert Tod und Verderben. Ein erschreckliches Untier ruht dort mit rollenden Augen, die so groß sind wie Feuerräder. Das umspannt mit seinem Riesenschweif das ganze Gewässer von einem Ende zum anderen seit tausend und abertausend von Jahren. Löst sich einst dieser Ring, schnellt das Untier den Schweif auseinander, dann wird zwischen Jocherwand und Herzogstand der Kesselberg bersten, der See wird durchbrechen und München geht zu gründe. Wenn Unglaube, frecher Übermut, Sittenlosigkeit und Gottesleugnung überhandnehmen, wird dieses Schicksal sich erfüllen und die neue Sintflut über Bayerns Hauptstadt hereinbrechen. Mit den Felsen werden die Wassermassen herabstürzen zum Kochelsee; der wird emporschnellen, wie von Zyklopenhänden geschleudert. Dann, einen Augenblick, wird er wieder zusammenbrechen und gleich darauf alles hinausschleudern in den Gebirgsbach, der ihn durchzieht, in die Loisach. Nun aber gibts kein Halten mehr, kein Besinnen. Über das Rohrfeld von Benediktbeuren geht der Strom hinaus, immer weiter ins flache Land. Wütend und zischend kommt er daher, wie mit grässlichen Flüchen auf Leben und Wachsen. Was sich ihm in den Weg stellt, wird niedergerissen, Häuser, Wälder und Menschen. Nur da und dort ragt noch ein Kirchturm aus den aufgeregten, graubraunen Fluten. Bald stürzt auch der, und je stärker die Ebene sich neigt, um so stärker stürmt es dahin, das entfesselte Element. Gewitterwolken jagen vor ihm am Firmament, und unter ihnen leuchten von ferne in schwefelfarbenem Glänze weitverzweigte Kiesfelder. Darin zieht die Isar, noch unberührt, noch gesättigt von dem tiefen Grün, das sie aus ihrer Wiege, der Scharnitz, herausträgt. Doch in wenigen Augenblicken ist sie mit dem Riesenstrome verbunden, und der tobt als ungeheurer Katarakt in wildem Taumel dem Ziele entgegen. Leichen von Menschen und Tieren schleppt er mit sich, Inseln entstehen und verschwinden auf ihm wie draußen im Ozean. So gehts fort mit betäubendem Höllenlärm bis dahin, wo die Höhenzüge im Isarbette näher zusammentreten. Dort löst die gepresste Kraft Steine und Erdreich wie frischgebackenes Brot. Hinter ihm ein tosendes Meer bis zum gähnenden Kessel des Walchensees, vor ihm die Stadt, die große Stadt, die das Unglück schon ahnt. Nicht seit heute und gestern. Seit hundert Jahren oder noch länger las man an einem bestimmten Tage in der Michelskirche eine Messe, um das Verderben zu bannen — da, im letzten Augenblick, wo man sieht, dass alles verloren ist, zieht man die Glocken. Zu spät, dreimal zu spät. Die Sintflut kommt näher, jetzt zerreißt sie die Eisenbrücken, dass sie wie Stricknadeln zusammenbrechen, jetzt wälzt sie sich in die Vorstadt, jetzt umtobt sie die Frauentürme, jetzt ersticken die Münchner unter Bergen von Schlamm und Geriesel, und jetzt — ja, jetzt — besinne ich mich, dass das alles nichts weiter ist als ein Phantasiegebilde.

Wie es entstand? Das könnte ich selber nicht sagen. Ich sitze im Isartal, auf jenem Schlosse, von dem ich im ersten Kapitel gesprochen habe, auf Schwaneck. An der scharfen Biegung des Flusses, womit er beim Orte Pullach entscheidend zur Stadt herüberleitet. Hier hat man freien Blick über Wasser und Wälder bis auf die Alpenkette. Nichts von Verwüstung, nichts von düsteren Eindrücken. Überall Sonnenschein, überall Friede. Von außen geschützt durch Wälle und Zugbrücken, von innen durch Haubitzen und Hellebarden. Am Burgfried schlingt sich der Efeu empor, aus den Schluchten und Höhlen der Isar grinst es herauf wie von Drachen und Zauberwesen, die der köstliche Moritz von Schwind mit Knappen und Burgfrauen so einzig gemalt hat. Über dem starken Asyl aber ein Geist, der es Jahre beherrschte als Burgherr und Gebieter, der vielgerühmte, edle Ritter Mayer von Mayerfels. Diesen Recken habe ich selber noch trefflich gekannt, und hab ihn warten sehen auf der von Schwanthaler erbauten Veste. Einer vom Schlage der Don Quijotes, der Tartarins, von jenen Phantasten, die alles vergrößert sehen, gegen Windmühlen und Esel kämpfen, mit einem Worte: einer von jenen, die um fünfhundert Jahre zu spät auf die Welt kommen. So lachte man über ihn, man gab ihm Spitznamen. Der „Quastlmayer“ oder, noch kürzer, der „Quastl“ hieß er im Volksmund, weil er als Student an seiner Kneipjacke, gegen allen Komment, baumelnde Quasten getragen hatte. Und lebte er bereits als Fuchs oder Bursch wie nur ein Original lebt, als gereifter Mann trieb ers noch toller. War er draußen in seiner Burg, dann kleidete er sich als Ritter, nahm das Schwert zur Hand und schritt durch den hochummauerten Palas zum Verließ. Dort musste er Gefangene wittern, denn er schrie mit Stentorstimme: „Wimmerts und heults nur, ös Bauernluada!“ Oder er ging auf die höchste Zinne, wo der leere Kessel für das Wachtfeuer stand und rief den auf der Isar vorüberziehenden Flößern durch ein riesiges Sprachrohr den Gruß des Burgherrn zu. Die so Geehrten sollen dann freilich nicht immer in gleich poetischer Weise geantwortet haben. Sie hatten eben keine Einbildungskraft für die Sitten des Burglebens, die auf Schwaneck streng eingehalten wurden, bis auf eine aus jener Zeit, wo Troubadoure sich von Rittern gleich Jahre hindurch bewirten ließen: auf die Gastfreundschaft. Der dicke, pfiffige Altbayer mit dem fetten Gesichte war nämlich ein großer Geizkragen, der den Pilgern, wenn sie nach stundenlanger Besichtigung seines alten Gerumpels Hunger und Durst zeigten, einfach riet, in das nächste Wirtshaus zu wandern. So besinne ich mich, dass er einmal im Burghof in bestimmten Absätzen zwei Stunden herumbrüllte, ob denn der für meinen Vater bestellte Kaffee noch nicht bald käme. Und als wir uns endlich auf die Socken machten, weil wir merkten, dass alles Warten vergebens, drohte er seinem Knappen, dass er für solche Bummelei auf der Zinne der Burg baumeln solle. Uns aber, die wie halb verhungert den Bauch hielten, bot er statt einer Erfrischung zum Abschied in Versen den Minnegruß.


Weilt man in solcher Umgebung, dann ists kein Wunder, wenn man vom Geist des einstigen Burgherrn was übernimmt, wenn mans noch multipliziert mit allen Unmöglichkeiten. Das ist eben das große Vorrecht der Dichter seit den Metamorphosen des Ovid, dem Gargantua des Rabelais, seit Ruederers Strohblondem Augustin und seit jenen gewaltigen Dichtungen, die alle ungeschrieben bleiben mussten, weil die deutschen Literaturprofessoren die nötige Zeit dazu leider nicht fanden. Eine fortwährende Verwandlung, ein Turmbau von Babel bis hinauf in die Wolken, kurz, die kühnste Voraussetzung: So, freundliebe Leser, sieht die Phantasie aus. Und wenn man das Allerunglaublichste behauptet, zum Beispiel, dass augenblicklich in Deutschland vernünftig regiert wird, dann müsst ihr ebenso daran glauben, als wenn ich den Walchensee ausbrechen lasse. Noch mehr, ihr müsst mitwandern, die ganzen Etappen, die ich euch führe, müsst es erleben, wie das tosende Element immer höher steigt, von der unteren Stadt bis hinauf zum Nockherberg, wie die Gäste vor dem Wasser, vor jenem Feinde, der schlimmer als Schenkkellner, Zylinder und Schandi zusammen, die Flucht ergreifen, und wie der letzte Münchner, den Maßkrug in Händen, am Giesinger Kirchturm baumelt.

Denn der Dichter, der einmal richtig angefangen hat, hört so bald nicht auf. So sehe ich mit prophetischem Sinne, eine neue Regierung wird an Stelle der alten erscheinen, sie wird sich konstituieren, sie wird Verordnungen erlassen zur Freilegung des verschütteten Münchens. Ich sehe, diese Beamtenreskripte sind in jenem lümmelhaften Tone gehalten, der solche Schriftstücke schon im alten Staate Bayern auszeichnete, ich sehe, in den Straßen Münchens wird jenes frohe Buddeln wieder beginnen, das der verschütteten Stadt den hohen Ruf gebracht hat, und ich sehe, der Spätgeborene wird an München empfinden, was Goethe einst über Pompeji sagte, nämlich, dass selten so viel Unheil in der Welt geschehen sei, aber wenig, was den Nachkommen soviel Vergnügen gemacht hätte. Den Archäologen besonders. Die werden herumstochern wie am Forum Romanum, sie werden die Erde an der Nase reiben, und das erste, was sie zutage fördern aus der Unmasse von Schutt und Schlamm, wird das Herz des Münchners sein. Das kommt in ein Museum für Völkerkunde, falls der neue Landtag ein solches genehmigt. Und wenn es dasteht, im wohlgefüllten Glase, konserviert in Essig und Spiritus, wird man gewahren, dass es aus zwei verschiedenen Materien zusammengesetzt war: aus Bier und aus Gold. Warum aus Bier, das brauche ich nicht mehr zu sagen. Es ist kein Wunder, wenn nach so reichem Genüsse des edlen Gebräus der ganze Herzmuskel nichts weiter mehr ist als ein voller Maßkrug; die überraschende Erscheinung des Goldes aber erklärt sich durch die in München erscheinenden Zeitungen und deren Artikel. Die erzählten dem Eingeborenen so lange von seinem Herzen, sie wogen den Goldgehalt nach Grammen und Karaten, bis ers eines Tages selber glaubte. Wie der Hypochonder, dem der Pfuscher — ob legal oder illegal, tut nichts zur Sache — tagtäglich sagt, er sei neurasthenisch. Nur mit dem Unterschied, dass es den Münchner nicht zu betrüben brauchte, im Gegenteil. Er hörte es gerne, dass er ein goldenes Herz habe, und appellierte man daran, gab er mit vollen Händen. Freilich wollte er auch, dass was herausschaute, wenn man so Gutes tat. Man sollte wissen, sollte lesen, wer es gegeben hatte. Verschwieg er daher wirklich einmal seinen Namen, wenn er Geld an eine Zeitung sandte, dann tat ers unter einem Motto, das über seine Gesinnung, seine Wünsche, seine Hoffnungen nicht den mindesten Zweifel ließ. „Auf dass es unserer Tochter gut bekomme, wenn sie so viel mit dem Accessisten verkehrt und auf dass das, was ich mir gestern beim Bettgehen so innig gewünscht habe, der liebe Gott recht bald in Erfüllung bringe — 1 Mark 20 Pfennig.“

Spitzweg, der Münchner Karl Spitzweg, hat sie gemalt, diese Kleinbürger, in ihren Dachkämmerlein, wie sie das Geld aus den Ledertäschchen wickeln, Pfennig für Pfennig, damits aus Versehen ja nicht zu viel wird. Malerpoet, du, stärker als alle zusammen, die jetzt Sezession und Glaspalast mit impressionistischen Studien überschwemmen, wie hab' ich dich gern, wie stehst du vor mir in dem halbdunklen Gemäuer der Burg, neben dem Zauberkünstler Moritz von Schwind. Still war das Leben der beiden, so von der Art des alten Habenschaden, der gerade kein großer Maler, aber ein um so stärkeres Künstlergemüt, für alle Zeiten einen Maitrank stiftete. Drüben zu trinken in Pullach beim Rabenwirt unter den ausschlagenden Kastanien zu seinem Gedächtnis. Seid froh und zufrieden, schert euch den Teufel um Reklame, um Antialkoholismus, um die Jury der nächsten Kunstausstellung, um Malergruppen, aber schafft was Gescheites — so sprichts aus jenen Naturen herüber zu uns, und fast möchte ich sagen, ich bekehre mich selber zu der Ansicht des Alten auf dem Salvatorkeller: Ich lobe die gute alte Zeit, ich beneide die Leute um die Welt, in der sie gelebt haben. Da zählte man noch nicht die Hervorrufe des Dichters bei der Première, da kannten die Maler ein größeres Glück, als offizielle Persönlichkeiten bei sich zu Gaste zu sehen, da rackerte man sich noch nicht ab mit der Todesangst, der Andere könnte einem am Ende um Nasenlänge zuvorkommen bei der großen, fortwährenden Steeplechase um äußere Ehrenzeichen.

Hols der Teufel! So sag' ich aus vollem Herzen. Denn ich weiß, wie es tut, wenn man da mitrennt. Hab' selber einmal gehetzt, dass mir die Zunge heraushing, bin um die Wette gerast mit Kumpanen, die kaum mehr schnaufen konnten. Bis ich liegen blieb, schweißbedeckt auf der Strecke, und nicht mehr wusste, wo aus und wo an. Die Anderen lachten mich aus, sie keuchten weiter, ich aber meinte, ich müsste es ertrotzen. Und weil mich die Kräfte verlassen hatten, dass ich nichts mehr geben konnte, suchte ich mir einen, der helfen sollte. Einen passenden Medizinmann mit entsprechendem Reklameschilde und regelmäßigen Sprechstunden. Der sah mich durch seine Brillengläser wie ein Polizeikommissär an, beklopfte mich von oben bis unten, machte eine gar bedenkliche Miene und sagte schließlich: „Das Herz, das Herz!“ Das gab mir zu denken. Ich fühlte bei jeder Gelegenheit meinen Puls, legte mich um neun Uhr zu Bette, und dachte nur an das eine, mich bei der allgemeinen Hetzjagd so bald wie möglich wieder am Start zu melden. Denn, wenn die Kumpane auch gar nichts erreicht hatten, ein Stückchen waren sie doch schon weiter gekommen, dass man Angst haben musste, die Fühlung zu verlieren. Also großer Medizinmann, wann wirds, wann wirds? Der so Gefragte stand Tag und Nacht mit ernstem Gesicht hinter mir und sagte in seiner be- deutenden Art nur, was er schon vorhin gesagt hatte: „Das Herz, das Herz!“

Als ich da gar nichts anderes zu hören bekam, wurde mirs plötzlich zu dumm. Es war ja richtig, ich hatte das Herz in früheren Jahren so manchesmal strapaziert, als ich auf meinem Fuchsen die schönsten Fensterparaden ritt oder, verliebter Gedanken voll, stromaufwärts durchs Isartal sprengte. Aber großen Schaden hatte es dabei nicht gelitten. Jedenfalls brauchte es noch nicht in das neue Museum zu kommen. Dort war ohnehin des Interessanten genug. An erster Stelle der mitersoffene Bayrische Landtag in corpore, mit allen Ministern, Räten und Dienern. Eine gut erhaltene Gruppe stark verschlammter Erscheinungen. Auf den unförmigen Stiefelsohlen, die mit großen Nägeln beschlagen sind, sieht man noch deutlich die Spuren der zertretenen Kultur, in den Händen halten sie Sparbüchsen. So etwa um das Jahr 1900 herum oder noch später. Über allen aber, auf dem merkwürdig geformten Katheder ein Schulmeister als Vorsitzender mit Glocke und spanischem Röhrl. Gleich im Nebenzimmer der ganze Finanzausschuss der bayrischen Kammer bei Kaffee und Strickstrumpf. Im Mittelpunkt der ungekrönte König von Oberbayern, Vollmar I., wie er mit dem Zentrum kost. Die Figur des Führers der königlich bayrischen Sozialdemokratie ist eine der besterhaltenen der ganzen Sammlung, von besonderer Schönheit und Größe. In ziemlich verwahrlostem Zustande dagegen befindet sich, etwas an die Wand gerückt, die leichtbeschwingte Statue des bayrischen Liberalismus. Das Kinn, wo die Willenskraft sitzen soll, ist schon heruntergefallen, so dass der ungewöhnlich große Mund deutlich hervortritt.

Eine muffige, stickige Luft herrscht in den beiden Räumen, wie in einem Pfründnerspital oder Austragstüberl, eine Luft, die alles tötet, was Licht, Kunst und Leben bedeutet. Darum schnell weiter in einen andern Saal, oder noch besser zu einem andern Doktor! Der erste hatte nichts verstanden, jetzt sollte ein neuer mir sagen, dass es ein Pfuscher war. Der aber lachte über seinen Kollegen durchaus nicht, wie ichs verlangen konnte. Meinte vielmehr, das sei ein hervorragender Arzt, nur bei mir hätte er sich bedauerlicherweise geirrt. Darum sollte ich keinerlei hypochondrische Ideen haben: nicht mein Herz sei krank, sondern mein Hirn, das Hirn. Mit dieser beruhigenden Versicherung versetzte er mich sofort in die horizontale Lage, drückte die Hand auf meine Stirne und lud mich ein zu freiester Entfaltung der Phantasie in Prosa oder in Versen, ganz wie es mir passte. Ich entschloss mich in angenehmer Abwechslung bald zu dem einen, bald zu dem andern. Meinen Kumpanen brauchte ich zwar nicht mehr nachzuhetzen. Die waren selber schon längst auf der Strecke geblieben, ohne je- mals das Ziel erreicht zu haben. So tollte ich denn allein ins Planlose, ich spornte den Pegasus, dass ihm das Heu aus den Flanken herausfiel, ich rieb meine Stirne wie Aladin seine Lampe, ich setzte die Phantasie mit so viel Gepolter in Bewegung, wie der Chauffeur das Automobil. Ja, sogar heute noch, wenn ich daran denke, fange ich aus nervöser Angst vor dem zweiten Medizinmann auf einmal krampfhaft zu dichten an und eile vom Finanzausschuss des bayrischen Landtags zum nächsten Saal, der mir viel lieber ist.

Dort nämlich ruht unter Glas und Rahmen eine der grössten Sehenswürdigkeiten des ganzen Museums, das sogenannte „Münchner Kindl“. Das ist an sich das Wappen der Stadt, ein junges, bartloses Mönchlein, in schwarzer mit Gelb verbrämter Kutte. Zieht mans aber aus, was der Museumsdiener gegen ein Trinkgeld gern besorgt, dann zeigt sich etwas ganz anderes. Das Münchner Kindl springt plötzlich aus dem Wappen und entpuppt sich als ein prächtiges Frauenzimmer. Mit einer feinen Haut, mit strammen Schenkeln und Armen, dass man Nüsse drauf auseinander schlagen könnte. Rehbraune Augen hat der kleine Racker und einen zum Küssen stets bereiten Mund. Jetzt freilich liegt er stumm wie das kleine Mädchen in Pompeji, bewundert von aller Welt als Kuriosum. Doch einmal da surrte es in seinem Innern wie in der Katze, wenn sie gut aufgelegt, wie in einem Uhrwerk, das alle möglichen Sprünge macht. Wo es konnte, fing es nämlich Dummheiten an, dieses Münchner Kindl. Als Ladnerin wartete es nach dem Geschäftsschluss auf den Herrn Leutnant, der erst Fähnrich, oder auf den Herrn Doktor, der erst Student war. Dann wanderte es mit ihm in ein Wirtshaus. Nicht in eines der teuren, bewahre, das Münchner Kindl tats schon für einen Kalbsbraten oder zwei Regensburger. Kam gar noch ein Käse mit Butter dazu, erst recht, aus glühender Dankbarkeit. Und für Torte mit Schlagsahne ließ es sich Zwillinge machen — wenn es ledig war. Als verheiratete Frau stellte es größere Ansprüche, an den Mann sowohl wie an den Liebhaber. Da ging es nicht ab ohne einen bal paré und unter Champagner. Auch Toiletten mussten auffahren, denn das Münchner Kindl verstand sich anzuziehen und falsche Steine von echten zu unterscheiden. Nur musste es immer ein flotter Kerl sein, der sie schenkte. Sonst mochte das Münchner Kindl gleich gar nicht. Es war überhaupt launisch, wechselte gern seinen Liebhaber, wie es die Dienstboten wechselte am ersten des Monats, besonders wenn es glaubte, der alte sei schon verbraucht, und sicher hoffte, einen neuen zu bekommen. Wie aber Glaube, Hoffnung und Liebe beisammen waren, die Liebe war doch die größte unter ihnen. Freilich nicht jene, die der Apostel meint, sondern jene, die schließlich auf alles pfeift, auch auf Geld und nur Freude findet an verschwiegenen Zimmern, an lauschigen Wanderungen, an wiegenden Walzern, vorausgesetzt, dass ein Mannsbild dabei ist, und vorausgesetzt, dass dieses alles auf Wahrheit beruht.

Aber da liegt ja der Hase im Pfeffer: das Museum ist ein Traum, es lebt nur in meiner, durch den Medizinmann geregelten Phantasie. Darum freut euch, ihr Sittenrichter, ihr Besserwisser, die ihr immer feststellt, dass zwei plus zwei vier macht und keine Regel ohne Ausnahme. Freut euch, es ist alles nicht wahr. Ein solches Wesen hat nie existiert. Die Münchnerin, wie sie durch die Strassen wandert, ist ein höchst sittsames Ding, das, nach euren Erziehungsmethoden gezüchtet, furchtsam die Augen niederschlägt und in der langweiligen, guten Gesellschaft äußert geziert tut, der Landtag bedeutet eine höchst ehrbare Versammlung ungewöhnlich moderner Menschen, und das Herz des Münchners besteht nicht aus Bier, weil er selber der massigste Mensch ist. Kommt aber der Walchensee wirklich nach München, dann kommt er in allen Ehren und Züchten. Nicht wie der Birnam Wald gegen Dunsinam, nein, als ein von der obersten Baubehörde wohl geregeltes Element in großen Kanälen mit zweimalhunderttausend Pferdekräften als moderner Kulturfaktor. Also auch nicht mehr so disziplinlos bayrisch, wie ihn die Phantasie eines unmilitärischen Beobachters eben gesehen hat, sondern in einer gut ausgerichteten, strammen Linie, die noch dazu ein preußischer Major zog, der Herr von Donat. Da wird das obere Bett der Isar sich bei Krünn und Walgau durch das Gewässer des Walchensees mittels großer Turbinen mit dem unteren verbinden, und die alte Prophezeiung wird auf dem Wege der Realwissenschaften aufs glänzendste in Erfüllung gehen. Von Burg Schwaneck aber, wo ich immer noch sitze, wird der Blick sich weiten über abgeholzte Wälder, über Fabriken und Schlote, über Telegraphendrähte, elektrische Leitungen und polizeiliche Verbote, die das Berühren der Drähte bei Todesstrafe verbieten. Die Dampfpfeife wird einem die Knochen erschüttern, die Arbeiter werden an den Kessel eilen. Dann werden die Räder sich drehen, die Transmissionen schnurren, und unter dem Gestank von Maschinenöl werden die Originale des trefflichen Spitzweg aus München, die Drachen, die Burggrafen, die Knappen des seligen Schwind aus Burg Schwaneck auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Und noch einer geht wohl mit ihnen von dannen: Der Weltweise, der jetzt dort oben nach manchen Irrfahrten Posten gefasst hat, um als neuer Burgherr, procul negotiis, über die Gefilde zu blicken. Zu ihm, der von Beruf auch Medizinmann ist, nebenbei aber noch Künstler, war ich gekommen, als er, selbst noch auf der Hetzjagd, von einem Bahnzug zum andern sprang. Ich hatte die Doctores abgegrast bis zum Naturheilverfahrer herunter und verlangte jetzt, er solle weiterhelfen auf der großen Rennbahn des Lebens. Doch er wies nicht auf Herz oder Hirn, wie seine Vorgänger, sondern auf einen Körperteil, der, lang nicht so edel wie die erstgenannten Organe, an der Hauptstelle seiner besonderen Funktionen ein Epitheton bietet, das man in der Regel dem dümmsten Kerl an den Kopf wirft. Ein Epitheton, das man erfinden müsste für die deutsche Sprache, hätte die bayrische es nicht schon lange geboren, das herrliche, große, befreiende Wort. Und weil der praktische Arzt als richtiger Altbayer meine Landessprache beherrscht wie ich selber, wirkte das Mittel. So kräftig, so sicher, dass ich genas. Kann mir daher neue Phantasien zusammendichten, dauerhafter als jene vom Walchensee, die zu schnell realisiert wurde. Ob ich mit ihnen in München bleibe, weiß ich ja nicht. Vielleicht ziehe ich über die Isar hinaus noch tiefer in die Berge oder wie Zarathustra empor zu den Gletschern — vielleicht, sage ich mit Absicht. Denn dort wird zwar die Dampfwalze nicht schnaufen, aber dort geht was anderes um, was nicht minder fatal ist: der Jäger, der königlich bayerische Jäger. Der hängt jedem Gemsbock eine nummerierte Schelle um, der möchte am liebsten alle verhaften, die in den Alpen klettern oder ein elendes Geweih aufheben. Zu Leibgehegen friedet er ein, was an Bergen sich ausdehnt vom Bodensee bis zur Salzach, „auf allerhöchsten Befehl“ sagt er, der Herr Jäger, der ein echter Beamter ist, mit Federwisch oder mit Aktenbündel. Und das liebe Publikum, das bekanntlich die Beamten bezahlt, macht seinen Buckel, denn es ist ja nur wegen der Beamten da, und nicht die Beamten wegen des Publikums. Deshalb ist auch die Freiheit auf den Bergen nur so zu verstehen, dass sie katastermässig festgelegt wird, deshalb werden die Eisenbahnen nur angeschafft, damit eine entsprechende Anzahl von Verwaltungsmenschen entsprechende Verwendung findet, und deswegen ist auch die Entfaltung der menschlichen Phantasie nur in jenen Grenzen gestattet, die eine wohlweise Polizeibehörde entsprechend abzumessen hat. Wie sie aber auch reguliert wird, die himmlische Göttin — nach der Grobheit des Burgherrn von Schwaneck kann ich sie festhalten. Ob ich in die Berge ziehe, oder in der Ebene bleibe — was ich tue: ich gehe jedenfalls meinen eigenen Weg. Wohin der noch führt, werden wir sehen. Zunächst mal der Nase nach zum fünften Kapitel.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Muenchen.