Die Neuesten Nachrichten.

Es klingelt am Telefon. „Hier Redakteur der Neuesten Nachrichten.“ „Hier Apotheker Giftmischer.“ „Sie wünschen?“ „Herr Doktor, ich hätt' eine Bitt, eine große Bitt.“ „Also vorwärts, ich bin beschäftigt.“ „Selbstverständlich, Herr Doktor! Wollt' auch nur sagen, mei' Tochter, die Fanny, hat gestern am Kurtheater in Wörishofen die Elsa im Lohengrin gesungen, hat 'n recht schönen Erfolg g'habt, die Fanny.“ „Und was geht das mich an?“ „Ja, Herr Doktor, ich möcht' halt doch bitten, dass vielleicht möglicher- weis', wenns halt ging, a kleine Notiz in d' Neuesten kam.“ „Mein Gott, wenn wir da alle berücksichtigen wollten . . .“ „So? wissen S' was? I inserier fei in d' Neuesten, zwei- mal in der Wochen, mei Hühneraugenpflaster: Fahr ab.“ „Ja, ja, es ist gut. Werden sehen.“ „Ah, i dank halt recht schön, sehr freundli vom Herr Doktor, sehr freundli'.“ „Schluss !“ „Hab die Ehre recht gut'n Abend zu wünschen, untertänigster Diener, Herr Doktor.“ „Schluss!“ wiederholt der Redakteur heftig. „Rindvieh“, sagt er hinterher und hängt das Mikrophon ein. Dann schreibt er auf einen Zettel: Fanny Giftmischer . . . Wörishofen . . . ansprechendes Talent . . . und geht wieder an seinen Leitartikel.

Der ist heute besonders schwierig. Die Künstler — unter Künstlern versteht man in München immer nur Maler und Bildhauer, zur Not noch die Musiker, niemals die Dichter — befinden sich in einer Streitfrage. Oberrammeldorf, die schöne Gemeinde Oberrammeldorf, Bezirksamt Lackelhausen, Amtsgericht Gscheertheim, fakultative Haltestelle der Lokalbahn Dunkelschlupf im niedersten Niederbayern, hat beschlossen, dem Landesherrn ein Denkmal zu errichten. Nicht etwa ein unscheinbares Medaillon oder eine lumpige Gedenktafel, nein, schon was großes, in voller Figur zu Fuß, oder noch besser, zu Ross. Wenn Augsburg, Nürnberg, Bamberg, Landau, Würzburg, Traunstein, Kulmbach, Reichenhall, Berchtesgaden, Füssen und so viel andere Nester dem noch in voller Rüstigkeit Lebenden eine solche Aufmerksamkeit erwiesen, dann braucht Oberrammeldorf sich erst recht nicht lumpen zu lassen. Wers lang hat, lässts lang hängen. Die Regierung gab außerdem Geld dazu aus der Wittelsbacher Stiftung, wie sies immer machte, wenn wieder Zinsen fällig waren. Für freie künstlerische Aufgaben tat sie ja nichts; nackte Weiber oder sonstiges sinnloses Beiwerk waren strenge verbannt: der Patriotismus sollte gehoben werden. Das hatte der Herr Bezirksamtmann dem loyalen Dorfe eigens gesagt. Meinte auch, man sollte nur nicht nachlassen, sondern fest sammeln, dann könnte es leicht ein paar Orden absetzen. Ja, der Odelbauer, der den höchsten Misthaufen im Umkreis hatte, könnte sogar Kommerzienrat werden. Ganz sicher. In München drinnen seien das schon viel größere Deppen geworden, mit viel kleineren Geschäftsbetrieben. Also, warum sollte so eine Ehre nicht auch einmal die Oberrammeldorfer treffen? Sie brauchten nur zu zahlen und zu allem schön ja zu sagen. Die Regierung in ihrer uner- gründlichen Weisheit nahm dann alles weitere in die Hand, nachdem sie die ausgesprochene Willensäußerung der Oberrammeldorfer, ihre tiefe Sehnsucht nach einem solch patriotischen Denkmal schwarz auf weiß in Händen hatte. Wo das Denkmal zu stehen hatte, wie es aussehen sollte, vor allem aber, wers herstellen durfte, das sagte sie, die gütige Regierung.


Und weil sie sich gar so darum annahm, um diese Dinge, muss heute der Redakteur einen Artikel schreiben. Richtiger, er muss ein Experiment machen, einen Tanz muss er aufführen. Auf einem Samtteppich zwischen frischgelegten Eiern. Eine Glanzleistung, eine immer gern wiederholte Nummer des vielverbreiteten Blattes. Wie ein Variétéscherz zieht sie vorbei in folgendem Arrangement: die Eier sind buntgefärbt, wie die Ostereier. Darauf sind die Namen der einzelnen Gruppen gekritzelt, die bei der Konkurrenz um das neue Denkmal beteiligt waren. Ferner ihre Spruche, die Motti, ihre Freude, ihre Genugtuung, ihre Entrüstung oder ihre Empörung über den gefällten Richterspruch. In der Mitte liegen die Eier des glücklichen Siegers. Um sie herum noch einige andere, von Herren, die die Geschichte eigentlich gar nichts angeht, die aber nach alter Münchner Sitte ihre Eier überall hineinlegen, wo man sie noch nicht hinausgeschmissen hat. Die sehr heikle Aufgabe des Redakteurs ist es nun, zwischen all diesen Eiern glatt durchzukommen. Das dauert gerade so lange, als man sonst braucht, einen recht widerwärtigen Leitartikel niederzuschreiben. Also immerhin ein Tanz von ein bis zwei Stunden. Er muss peinlich ausgeführt werden, ohne auch nur eines der Eier zu verletzen. Tritt man trotzdem darauf, gibts einen Heidenskandal. Was nämlich ein richtiges, ausgetragenes Münchner Ei ist, lässt sich so was nicht gefallen. Es erhebt ein furchtbares Geschrei, dass mans gleich in der ganzen Stadt hört, von der Sendlingerstrasse bis zur Residenz. Ist auch imstande, sofort zu den Verlegern zu laufen, hetzt alle seine Vettern und Basen herbei, den ganzen Hühnerhof, alle Bruthennen, alle Gockel, sodass das Gekrächz und das Kikeriki erst recht lebhaft wird. Noch schlimmer aber, wenn der Redakteur ein Ei zufällig übersieht. Dann platzt es vor Wut, dass der Dotter herumspritzt. Darum muss man bei der anregenden Beschäftigung fortwährend nach rechts und nach links schauen, man muss sagen, dass, wenn jetzt auch einerseits die Eier in der Mitte, Dank den Beziehungen zu irgend einem Obergockel bereits das vierzigstemal eine patriotische Konkurrenz gewonnen haben, man andrerseits nur bedauern könne, dass nicht alle ausgestellten Eier zugleich die Palme davon tragen, womit man natürlich dritterseits beileibe nicht sagen wolle, dass die preisgekrönten Eier etwa faule Eier seien, sondern im Gegenteil vierterseits den lieben Münchnern nur gratulieren könne, dass sie über eine so achtunggebietende Anzahl kräftiger Eier verfügen, während man fünfterseits . . .

Brrr. ... Es klingelt schon wieder am Telefon. Diesmal ists ein Bierbrauer. Ein recht ansehnlicher, mit jährlich hunderttausend Hektolitern. Gemeindebevollmächtigter und Mitglied des Vereins zur Hebung der Fremdenindustrie. Außerdem, wie er besonders betont, seit dreißig Jahren Abonnent des Blattes. Aber so etwas ist ihm doch noch nicht vorgekommen, so etwas, wie der gestrige Artikel von dem Mäßigkeitshanswurschten. Predigt der Bazi gegen den Biergenuss! Ja, wo soll man denn da hinkommen? Bei den Steuern, bei den Löhnen! Er bedanke sich für eine solche Vertretung berechtigter Interessen, er schäme sich für München. Und, wie gesagt, seit dreißig Jahren Abonnent der Neuesten Nachrichten. Wird aber nächstens das Blatt abbestellen, wie er dem Redakteur spöttisch bemerkt. Der tut untröstlich und küsst beim sprechen förmlich das Membran. Ein Abonnent weniger — ein Mann, der dann eine andere Zeitung, vielleicht ein Zentrumsblatt hält — nicht auszudenken wäre solch ein Verlust. Schon wegen der Konsequenzen. Möglicherweise folgt dann auch der Pschorr nach, der Augustiner, der Spaten, und das Festjubiläum, das man neulich durch die Anmeldung des 117.423. postalischen Abonnenten begehen konnte, ist wieder zu Schanden gemacht. Darum schnell ein sympathisches, kleines Entrefilet, diesmal über dem Strich. Mit der Maßigkeit ists nicht so wörtlich zu nehmen. Ein Versuch, nichts weiter. Der wackere Bürger soll auch künftig sein bescheidenes Gläschen im Frieden genießen, er soll nicht irre werden durch die wohlgemeinte Predigt eines Abstinenten, die mehr für die Norddeutschen gegolten habe, weil die so viel trinken, oder noch besser, für jene Elemente, die von auswärts hierherziehen, auf den Ehrentitel Münchner aber keinerlei . . . Da klingelts schon wieder.

Noch stärker als zuvor. Kein Wunder, es rufen sämtliche Fledermäuse und Wanzen auf einmal zum Hörrohr herein. Die Herrschaften sind empört, sie rasen, sie toben. Das Sendlingertor, eines der ältesten Ziegelbauwerke, ihre langjährige Heimat, ihre traute Familienstätte, wo sie sich wohlgefühlt haben seit Generationen, wo sie flattern konnten im Dunkeln, will man abbrechen. Aber, sie lassen sichs nicht gefallen, die Wanzen und die Fledermäuse, nein, sie haben Protektion. Der Verein der Altertumsfreunde beschützt sie, und die Monumentalbaukommission nicht minder. Ha, ha, man sollte es nur riskieren! Mit der alten Mauth wollte man es gerade so machen. Auch mit dem ehemaligen Justizpalast, der immer so appetitlich nach Mäusedreck gestunken hat. Nur vergisst man dabei, dass, was eine richtige Wanze oder eine ehrliche Fledermaus ist, nimmer herausgeht aus dem Loch. Und wenn die Neuesten nicht hören, wenn sie etwa den Bauspekulanten die Sparrein die Hand drücken oder Leuten, die nicht von oben entsprechend gewappelt sein sollten, dann könnten sie schon sehen, was käme. Die amtlichen Inserate würden entzogen werden, die ganze Redaktion müsste auffliegen, und man würde einen eigenen Redakteur anschaffen. Einen aus Kautschuk, der dehnbar ist wie ein Schlangenmensch, den man auseinanderzieht, so lang man nur will und den man schließlich so zusammenrollt, dass man ihn bequem in die Tasche stecken kann. Denn sie sind auch sonst noch sehr zahlreich, die Wanzen. Im Theater, im Landtag, in der Gesellschaft, in der Bauspekulation, in der Fälschung der öffentlichen Meinung, in der Verdrehung der offenkundigsten Tatsachen, kurz und gut, überall, stromauf- und stromabwärts regiert das große, ungeheure Wanzengesindel.

Und dieses Blatt behandelt es als seine Domäne. Oft mit Grobheit, oft mit kriechender Schmeichelei. Mit der pöbelhaften Rücksichtslosigkeit einiger Geldprotzen, mit der devotesten Bitte um eine lumpige Notiz, immer aber nach echter Münchner Art. Nirgendwo anders wäre das denkbar. Da gilt kein Hinweis auf auswärtige Zeitungen, das ist nur so bei den Neuesten Nachrichten. Nicht den Herren Knorr und Hirth gehört dieses Blatt, nicht der Gesellschaft m. b. H., nicht der Redaktion: den Münchnern gehört es. In ihnen hat es sich aufgelöst wie ein chemisches Produkt, es ist ihre zweite Seele geworden. Eigentlich ists gar keine Zeitung mehr, kein Presseerzeugnis im gewöhnlichen Sinne. Ein lebendiges Wesen, ein Original ist es, wie der selige Quastlmeyer oder der Kasperl vom Marionettentheater. Jedenfalls, noch einmal seis gesagt, ein Ding, das nur in München möglich ist, sonst nirgends auf der Welt. Ein Buch über diese Stadt schreiben, ohne der Neuesten Nachrichten in einem besonderen Kapitel zu gedenken, hieße ein Kind in die Welt setzen und im schönsten Augenblicke den Kopf vergessen — den Kopf des Kindes natürlich. Denn wenn je ein Blatt auf deutscher Erde sich rühmen darf, das wiederzugeben, was den innersten Herzschlag der Stadt bedeutet, in dem es erscheint, so ist es dieses. Jeder Münchner, wo immer er das Licht der Welt erblickte, in der Au, in Giesing, in Schwabing, im Stall oder in der Residenz, ist von vornherein geborener Mitarbeiter des Blattes. Er gehört zur ungeheuren Zahl der unsichtbaren Redakteure. Durch sein Dasein, seine Begierden, seine Leidenschaften. Die Gemütlichkeit, das seelische Gleichgewicht, woraus der Münchner, selbst wenn er die Residenz stürmt, niemals gebracht zu sein wünscht, sein politischer Horizont leiten das Blatt. Und sein Geschmack lenkt den Roman. Den täglich erscheinenden Roman, den er hübsch sauber herausschneidet, in blaue Hefte bindet, um dann mit Abonnenten einer anderen Zeitung ergiebigen Tauschhandel zu treiben. „Zum Donnerwetter, hauen Sie dem Kerl doch ein paar herunter! So eine Frechheit, so eine Unverschämtheit!“ Wers gerufen hat, weiß man nicht ganz bestimmt. Der Anonymität nach aber eine jener Wanzen, die zwischen Verlag und Leitung Verdauung fördernden Zickzackkurs pflegen. Das sind ganz besondere Arten von Ungeziefer, die nie an die Öffentlichkeit kommen, nie mit freiem Visier kämpfen. Schon deshalb nicht, weil sie da ein paar fürchterliche aufs Dach bekämen, diese Kulissenschieber, diese Arrangeure, diese Redaktionswanzen. Den ganzen Tag läuten sie an, fortwährend fragen sie, fortwährend informieren sie, alles wissen sie und überall haben sie ihre schmutzigen Finger. Selbst anonyme Briefe verfassen die Kerle. Das ist das einzige, was sie schriftstellerisch von sich geben können. Trotzdem, sie nennen sich Doktor, auch wenn sie von Haus aus Seifensieder oder Oberkellner sind, sie tragen vielzackige Kronen im Chapeau claque, auch wenn sie hundsgemein bürgerlich geboren wurden und sie schreiben Artikel, obwohl sie nicht fähig sind, drei Sätze lesbarer Prosa nach einander von sich zu geben. Eine Rolle möchten sie spielen, wichtig möchten sie erscheinen; nur ungern sind sie im Hintertreffen. Deshalb gehören sie auch zum Geschlechte der in München ganz besonders ausgeprägten Art der gekränkten Leberwürste. Grau in grau liegen sie auf dem alltäglichen Sauerkraut, paffende Bläschen treiben sie, wenn man sie drückt, wie eine echte, fette, klebrige Wurst. Die Neuesten Nachrichten kennen diese Sorte in allen Gangarten, in jeder Berufsklasse, sie reißen vor ihr aus in den tiefsten Winkel, sobald man die schlürfenden Schritte auf den Hintertreppen hört und — sie tun ihnen wieder mit tausend Flüchen den Willen.

Obwohl sies nicht brauchten. Nein, sie brauchtens nicht. Das muss einmal in München öffentlich ausgesprochen werden. Ohne Rücksicht auf die unantastbare Ehrenhaftigkeit von Verlag und Redaktion. Die ewige Sucht, es allen recht zu machen, die allgemeine Schmuserei, das behäbige Gwappelhubertum, sowie die Taktik der immer offenstehenden Türen hat eben Besitzern und Leitern jedwedes Gefühl dafür geraubt, dass sie eine Macht sind, eine unerhörte Macht. Oder, dass sies sein könnten. Dass sie nur den Besen zu nehmen brauchten, um das ganze Gesindel hinauszufegen, alle Cliquen, alle Kunstspezln, alle Vereinswanzen, kurz, was da kreucht und fleucht an widrigem Insektentum in dem großen Annoncenzwinger. Freilich müsste es ein eiserner Besen sein, der fest zugreift, der die Petenten, die Unterhändler und Türenhorcher mit einem Ruck auf die Mistschaufel lädt, der sie die Treppe hinunterfeuert, dass sie das Wiederkommen vergessen. Nur keine Sorge; sie lassen sichs ruhig gefallen. Sie bleiben die treuen Abonnenten, auch wenn sie bei der Höllenfahrt Löcher in den Schädel bekommen. Denn da zeigt sich die Kehrseite des lustigen Bildes: die Münchner können ohne die „Neuesten“ ebenso wenig leben und denken, wie es die „Neuesten“ bis jetzt ohne sie fertig gebracht haben. Sie schimpfen darauf und warten ungeduldig, dass es vier Uhr schlägt, wo die Abendnummer erscheint, sie lachen über die Leitartikel und lesen sie mit pedantischer Gewissenhaftigkeit, sie weilen in der Fremde und jammern, wenn einmal eine Nummer ausbleibt. Jede Konkurrenz hat da vergebens gearbeitet. Die Zentrumspartei hat sich mit verbissener Wut den Stierkopf eingerannt, die Sozialdemokraten mokierten sich ohne jeden Erfolg, die Geistlichkeit suchte aufklärend zu wirken — die Neuesten sind nicht aus dem Sattel zu heben. Vielleicht, dass der nordische Scherl, dieser Vampyr in Inseratengestalt, jetzt festen Fuß fasst, drei Jahre die Allgemeine Zeitung umsonst liefert, und jedem ein Rittergut zusichert, der dort frische Anguilotti anzeigt. Vielleicht. Lange dürfte es wohl dauern, und jedenfalls muss er in München mehr den eingesunkenen Pflasterstein, die Vorteile des Schwemmsystems und den ausgekommenen Kanarl vom Schlickergassl kultivieren, als die Reden Wilhelms II. Aber selbst dann ists noch fraglich, ob er durchdringt. Er kommt von Berlin, das ist verdächtig. Der Münchner macht eigene Politik. Weder ultramontan, noch liberal, noch sozialdemokratisch. Konservativ ist er, der Münchner. Nicht im Sinne der Ostelbier, wohl aber im Sinne der Neuesten Nachrichten. Die Reichspolitik, die das Blatt treibt, ist ihm vollkommen wurscht. Seinetwegen könnte es auch für den Kaiser der Sahara schwärmen, oder den Kanzler der Fidschiinseln zu seinen Leistungen auf dem Gebiete der auswärtigen Politik beglückwünschen, wenn man sich nur sonst darauf verlassen kann.

Früher war das wohl einmal anders. Als das Blatt im Umfang ums fünffache kleiner erschien, als es noch das Zehntel der heutigen Abonennten und noch nicht das Hundertstel der jetzigen Inserate hatte, als es noch in der Fürstenfeldergasse erschien, da wurde eines warmen Septembertages ein kleiner, kranker Kerl von seinem Vater aus dem Bette gerissen und vom Rindermarkte die kurze Strecke vor das Haus der Neuesten Nachrichten getragen. Dort standen unzählige Menschen, die taten sehr aufgeregt und schrieen fortwährend hoch, hoch, hoch. Hurrah war damals noch nicht in Mode; man vermisste es auch nicht, man war ohne dieses Schlagwort begeistert, man umarmte sich und gab sich die Hände. Von dem Dache aber hing eine schwarz-rot-goldene Fahne herab. Das war schön, das gefiel dem kleinen Hydrioten, es blieb ihm ein Eindruck fürs Leben, von Macht, von Sieg, von Größe. Als es aber immer wieder tönte, dieses laute Geschrei, als es fortwährend aus demselben Hause kam, trotzdem kein Sedan geschlagen und kein Napoleon gefangen ward, fand ers mit den Jahren recht überflüssig. Es klang so aufdringlich, bald oberm, bald unterm Strich, in der Morgen-, in der Abendnummer. Was in München geschah, war ein Sieg; jede Ausstellung, jede Theatervorstellung, jede Wahlversammlung. „Uns kann keiner, hi, hi,“ so klangs in dem immer geheizten Tone, obs ein Schützenfest zu schildern gab, obs als Antwort galt auf die Behauptung von Münchens Niedergang als Kunststadt. Keine Kritik; weder an sich selber, noch an anderen. Wahllos himmelte man Maler an, die alle drei Wochen zur Allerhöchsten Tafel gezogen wurden, noch wahlloser die Theater, die damals schon durch und durch übel waren. Und zur rechten Zeit verbeugte man sich stillschweigend vor der allerhöchsten, königlich Bayrischen Wildsau.

Ein fettes Borstentier, diese Wildsau, das in der Hauptstadt des Landes eine ganz ungebührliche Rolle spielt. Es wird gehätschelt, geehrt und gepflegt wie der heilige Stier in Ägypten, es hat den Vortritt vor politischen Staatsaktionen, es darf ungestört die Forste durchziehn, es darf auffressen, was es will: die Felder, die Wiesen und den Zuschuss der königlichen Hofbühnen. Weil es eben ein so liebes, prächtiges Viecherl, weil es die königlich Bayrische Wildsau ist, das Überbleibsel aus den Zeiten der Herrenrechte, das Noli me tangere des Bayrischen Hofes. Darum hütet man sich, darum sagt man nicht mit dürren Worten: Ja, diese Bestie ist schuld an allem, unter ihr hat die Kunst zu leiden, mit ihr hatte auch, mag er noch so viele Fehler gemacht haben, Herr von Possart zu kämpfen und wird jeder seiner Nachfolger zu kämpfen haben. Die Zeiten von Ludwig II. sind vorüber, die Hofbühnen erhalten eine Subvention, die erbärmlich ist, viel kleiner als die aller anderen süddeutschen Höfe, von Berlin, Wien und Dresden ja gar nicht zu reden. Mag dazu auch beitragen, dass die Luitpoldinische Familie für das Theater an sich wenig Interesse hat: die königlich Bayrische Wildsau ist das Grundübel. Da hilft es nichts, wenn in nachgerade läppischen Artikeln fortwährend verlangt wird, dass der Lohengrin drei Schritte näher beim König stehen, oder, dass die Walküre den Speer mehr in der Mitte halten soll, da hilft kein herumnörgeln an Schauspielern, da hilft überhaupt die ganze Kritik nichts mehr, sondern nur noch die offene Aufdeckung der trostlosen Tatsachen.

Georg Hirth, der im vorigen Kapitel bereits genannte Begründer der „Jugend“, hätte wohl einmal das Zeug gehabt, fest auf den Tisch zu hauen. Hats auch, was ihm unvergessen sein soll, bei mancher Gelegenheit getan. Bei der Grundstückspekulation in Bogenhausen, als die Villenbesitzer da oben ein bischen gar zu üppig wurden, bei den Kultusdebatten in der Kammer, als anno 1891 die Herren Daller und Orterer ganz Bayern vor aller Welt dem Gelächter preisgaben und bei vielen gewichtigen Fragen der Münchner Künstlerwelt. Er hat, kein Mensch kann ihm das streitig machen, die Sezession ins Leben gerufen. Gegen eine Horde von Gifthammeln, ja, gegen Lenbachs unzerstörbare Allmacht. So schuf er Männern wie Uhde und Habermann festen Boden, so schuf er der jungen Kunst ihr Heim. Hielt die Mehrzahl der dort untergebrachten Talente nicht, was man sich von ihr versprochen hatte, so lag es sowohl an der überschwänglichen Voraussetzung, mit der ihr die damalige Kunstkritik der Neuesten Nachrichten begegnete, als auch daran, dass die Importierung der fremden Muster nach München die meisten Köpfe verrückt machte. Unselbständig, unfähig, mit eigenen Augen eigene Natur zu sehen. Also nicht an dem, der sie gefördert hatte. Der war sicher von bestem Willen beseelt, aber mit den Jahren wurde er müde. Die Künstler lohnten es ihm nicht immer mit Dank, die obengezeichneten Herren Mitarbeiter seines eigenen Blattes waren aufs unangenehmste im schönsten Schnarchen unterbrochen worden, und der inzwischen neugegründete Simplizissimus verhöhnte den Herausgeber der Konkurrenz sowie den Verleger der Neuesten Nachrichten in Angriffen nicht mehr künstlerischer, sondern rein persönlicher Natur.

Hier war ein Wendepunkt, wo man ansetzen konnte. Fast schien es, als sollte mit dem jungen Blatte, das so ungestüm begann, den Neuesten Nachrichten ein gewaltiger Gegner erstehen. Das räumte auf mit alten Vorurteilen, mit Liberalismus und Loyalität. Den sogenannten vornehmen Lesern der Neuesten war es freilich ein Dorn im Auge, ein unsagbarer Greuel, aber dem eigentlichen Stamme, den Weisswurstphilistern sprach es trotz seiner himmelstürmenden Tendenz so recht aus innerster Seele. Schon deshalb, weil es den absterbenden Dr. Johannes Sigl ersetzte, der keine so guten Witze mehr fertigbrachte auf Preußen und Reichsjungfrauen. Wer im Dusel eines nimmerklugen Phantasten lebt, mochte damals wohl hoffen, ein kräftiges Reiben werde entstehen, eine Kontroverse, aus der Gutes erwachsen könnte für München und alle, die darin schaffen. Eine Regenerierung der Neuesten Nachrichten im Gegensatz zu dem bei aller Trefflichkeit der Zeichnungen und der Schlemihlgedichte oft trostlosen Horizont der dort getriebenen Buren- und Kolonialpolitik. Weit vom Schuss! Man ist ja in München, man steckt mitten drinnen im angestammten Spezltum, das sich überall breit macht, das alles vergiftet, das alles Werdende mit seiner fetten Duzbrudersauce übergießt und jeden ehrlichen Gegensatz auflöst in einen großen, molligen Schnadahüpfl-Akkord. „Neueste“, „Jugend“ und „Simplizissimus“ entdeckten ihr Herz, sie fanden sich in zärtlichster Freundschaft. Die Wanzen aber, die Fledermäuse, die Bruthennen und Obergockel, kurz, die ganze versippte, versumpfte Vettern- und Basenschaft begrüßte das Bündnis mit lautem Freudengewieher. Das war Kollegialität, das war der nivellierende Ausgleich, der in München immer erfolgen muss, soll die Hauptsache, die Gemütlichkeit, im öffentlichen Leben gewahrt bleiben.

Nur ein Neidhammel kann an so was rühren, nur ein Mensch, dem nichts heilig ist auf der Welt, dem jede ehrliche Annäherung ein Dorn im Auge bleibt. Diese unumstößliche Meinung kann man auch als Endresultat der von der Redaktionswanze angeregten Sitzung in den vornehmen Räumen des Prachtbaues der Sendlingerstrasse bezeichnen. Der Beschluss wird vorerst noch geheim gehalten, aber die Vertrauten sagens schon wieder den ganz Vertrauten: nichts wird geändert, es bleibt, wie es war. Man will keine Macht. Das höchste Ideal der Neuesten Nachrichten ist nach wie vor das starke Vertrauen der treuen Abonnenten. Ja, man bringt wohl einmal einen Artikel, wenn es gewisse Cliquen gar zu dick treiben, und wenns halt gar nicht mehr zu umgehen ist, weil andere Blätter schon vorher darüber geschrieben haben. Aber man nimmt auch aus dem geschätzten Leserkreis sofort eine Gegenschrift auf. Die sagt, dass es anders gemeint war, dass man nicht richtig verstanden wurde. Und dann sinkt alles wieder in Schlaf, um erst beim nächsten Feste zu erwachen. Ist denn jetzt gar nichts los? Richtig, ja, der Sommer ist vorüber, die Zeit der sauren Gurken ist aus, gelb fällt das Laub, die Herbstluft zieht über die Theresienwiese. Neu gestärkt ist der Münchner zurückgekehrt aus den ländlichen Gefilden, nun kann er mit bestem Gewissen zum Oktoberfest pilgern. Da ists „zünfti“, wies in der Ursprache heißt, da gibts eine Unmasse Sorten köstlicher Biere, da gibts eine große Ausstellung von selbstgezüchtetem, bayrischem Rindvieh, da sieht man einen vollkommenen Ochsen braten, da sieht man den Schottenhammel und am Hauptfesttage das ganze angestammte bayrische Königshaus. Sechzehn Tage dauert die Gaudi, sechzehn volle Tage bis die letzte Maß Bier geleert, oder das letzte Stückchen von der Adlerscheibe heruntergeschossen ist. Eine Hetz', eine damische Hetz'; die Drehorgeln spielen, die amerikanische Rutschbahn geht hoch und nieder, der Zauberer Schichtl brüllt aus — bei solchem Lärm geht jedes halbwegs vernünftige Wort verloren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Muenchen.