Das Ende, die Zukunft.

Will man sprechen vom Ende der Dinge, wo alles zusammenfließt, was einst glänzte und funkelte, will man das Fazit ziehen vom Letzten, was überbleibt, die Schlussbilanz vom Sein und vom Leben, will man den Erdenrest sehen in jener Gestalt, wo er mündet beim ärmsten der Käufer oder gleich auf dem Schutt, dann muss man über die Fraunhofer Brücke hinauswandern zu den Trödelbuden der Auer Dult. Dort, zu Füßen der Mariahilfkirche, ist Münchens Grenze gezogen, hier läuft es aus, hier wird es vertändelt. Dreimal im Jahre, im Frühling, im Sommer, im Spätherbst. Mit vollem Aufgebot der Lungen, unter schonungsloser Zerstörung der letzten, der allerletzten Illusionen. Was immer war: jeder Rang, jeder Beruf wird da gezeigt, ohne Festbeleuchtung, ohne Schminke, im erbarmungslosen Oberlichte des Himmels. Der goldgestickte Kragen des Beamten, die Epauletten des Offiziers und die Weihrauchfässer der Geistlichkeit. Fünfzig Pfennig ein Helm mit der Raupe, zwei Mark ein Degen mit Perlmuttergriff und eine Mark ein Eisernes Kreuz samt der siebziger Feldzugsmedaille. So vergehen Ruhm und Ehre vor dem alles bezwingenden Rufe der Feilbieter. „Ei'kaaft, ei'kaaft,“ tönt es fortwährend. Nur die Altertumshändler sitzen schweigsam und mustern die Kauflustigen mit misstrauischen Blicken. Bei ihnen hat sich niedergelassen, was einst an Möbeln in guten Häusern prangte: Renaissancestühle, denen die Lehne fehlt, Schränke, die köstliches Linnen bargen, und Sophas, worauf die glücklichsten Stunden verlebt wurden. Doch auch moderne Einrichtungen fehlen nicht. Von der gebeizten Bettstatt reichen sie hinunter bis zu den gewöhnlichsten aller Gebrauchsgegenstände; von Geweihen, Gamskrickeln, Öldrucken hängt es herum in der Runde, unterbrochen von Lebzeltern, Messingverkäufern und Zinnwarenhändlern. Eine letzte, fidele Paarung all dessen, was im Leben nicht immer zusammenpasste. Selbst die Religionen lösen sich auf an der Stätte, wo alles gleichgemacht wird von der Zeit und abbröckelndem Firnis. Dort in der Ecke lehnt sich ein Kruzifix ganz gemütlich an Buddhas vergoldete Figur. Dem Gekreuzigten fehlt ein Arm, dem indischen Gotte die Nase. Und ein Marodespital farbiger Heiligenbilder umgibt im Hintergrunde andachtsvoll Martin Luther. Auch hier die Rahmen defekt, die Scheiben zersprungen.

Nur manchmal ist etwas herausgeputzt, dass es gerade so lange noch hält, bis es der letzte Besitzer vor sein Haus trägt. Dürftig gestrichen, flüchtig zusammengeleimt. Um noch einmal zu leuchten, noch einmal zu blenden wie der wolkenlose Herbsttag. Schön ist er, vergoldet hängen die braunen Blätter wie die kleinen Flügel der nackten Engel an der äußersten Bude bei der Kirche. Und die Isar schimmert smaragdgrün, wie das breite Altartuch, das silberne Fransen umsäumen. Sonst liegts manchmal darüber, so klar, so schroff, dass man meinen möchte, wer in diesem Lichte atmet, müsste klar sehen und könnte nimmer getäuscht werden, weder von Menschen, noch von der Natur. Der Föhn, der die Berge naherückt, der Nordost, der bis auf die Knochen schneidet, zeichnen so unbarmherzig, so deutlich. Heute aber zaubert es noch einmal alle Wunder hervor, wie ein Weib, das sich richtet, zu fangen. Alles nach außen, wie hier auf dem Trödelmarkt, alles nur hergerichtet. Soll was sein und ist doch nichts. Höchstens was Renommistisches, Spielerisches. Zurechtgeputzt wie die Oberländler, die in der Stadt scheckige Tracht tragen, um draußen im alltäglichen Schnitt herumzutappen. Wie die Kämpfer von 1705, die man beim 200jährigen Jubiläum in bunten Kopien zu einer Parade für König und Vaterland trieb, obwohl die wahre Historie den Mummenschanz Lügen strafte. Wie die zauberhaften Legenden um den König Ludwig II. und wie die ganze, aufgepäppelte Methode der neuen, bayrischen Geschichtsforschung. Wozu der Tanz? Dem schönen Tag folgt doch der Winter, dem Rausche der Kater. Und was aufgedonnert wurde zu bombastischen Wirkungen im öffentlichen Leben, fließt ab wie alles irdische Dasein in der großen Bachauskehr unter dem Nockherberg. Selbst die Wissenschaft, mag sie noch so kunstvoll zusammengeklebt sein, wird da seziert, wie der Mensch in der Anatomie. Denn hier steht auch München vor der Frage des Jenseits, hier wird der Untergang Sodoms auf friedliche Weise vollzogen, hier fallen die Gegensätze im allgemeinen Zapfenstreich, hier künden vergilbte Schmöker das Ende der Weisheit, und hier endet auch einmal mein Buch.


Drüben beim Pfarrhof, wo die Antiquare eine geschlossene, papierene Phalanx gegen allzu heftiges Drängen errichtet haben. „Zehn Pfennig,“ höre ich im Geist einen Käufer sagen, „mehr geb' ich nicht.“ Und schließlich nimmt ers halt doch. In Gottes Namen für fünfzehn. Weil ihm der Antiquar versichert, es sei gut, wirklich gut, zum Lachen. Auch sei der Verfasser ein Münchner gewesen. Habe es allerdings nie zu was Rechtem gebracht. Wollte immer gescheiter sein als die Andern, spottete fortwährend über alles. Was Wunder, wenns der Menschheit zu dumm wurde? Sie wusste nicht, wo sie ihn einreihen sollte, wohin er gehörte. Im allgemeinen scheint er ja ein guter Kerl gewesen zu sein, aber zu sprunghaft, zu kapriziös. Wollte nie dieselben Geleise wandeln, ging bald links bald rechts, kurz und gut, ein recht unsicherer Kantonist. Auch gesellschaftlich ist nicht immer alles ganz klar gewesen. Sie verstehen schon, was Korrektheit im öffentlichen Leben betrifft. Man soll zwar einem Toten nichts Übles nachreden, aber unter uns gesagt . . . dort beim dritten Kleiderhändler die alte Chevaulegeruniform ist von ihm. Jawohl, mit den Reitstiefeln aus Glanzleder, mit dem Säbel und den Sporen. Wird Ihnen jetzt alles klar? Sein Grimm, sein Hass, seine Verbitterung? Rache an der bestehenden Kleiderordnung — nichts weiter. Deshalb auch der Rettinger in der „Fahnenweihe“, deshal die peinliche Aufrührung der Lola Montez, deshalb die „Morgenröte“. Wollen Sie die nicht mitnehmen? Fünf Pfennig, weil Sie es sind. Und die Novellen, die er schrieb? Die bissigen Pamphlete gegen hochangesehene Staatsbürger und Künstler? Alles zusammen fünfundsechzig Pfennige. Sie haben genug? Na, kanns Ihnen nicht verdenken. Poesie hatte der Mann ja nicht im großen Sinne. Die Damen der ersten Kreise wussten mit ihm auch nie was Rechtes anzufangen. Wenigstens nicht mit seinen Werken. Trotzdem, was man ihm nachsagen mag, er hatte Talent. Das haben ihm angesehene Dichter freundlichst bestätigt. Haben sich in ihrem Urteil auch nicht irre machen lassen, wenn er sie hinterher zum Danke respektwidrig auslachte. Und, was die Hauptsache ist für Sie als Käufer: Das Buch über München ist gut, es ist zum Schieflachen.

Ob er recht hat, der wackere Antiquar, mit seinem ehrenden Nekrologe? Ob mein Buch wirklich gar so zum Lachen reizt? Ob es gut ist? So gut, dass es mit fünfzehn Pfennigen Reichswährung nicht ums Dreifache überzahlt ist? Diese inhaltschwere Frage wird nun bald von jenen beantwortet werden, die es mit dem tiefen Gewissen der deutschen Kritik auf Papierwert und Inhalt zu prüfen haben. Ich selber kann es nicht sagen. Manchmal, da schien es wohl, dass mir was in die Feder kam vom wahren Geist, vom vollen Lichte, das über der Stadt ruht. Zu fassen glaubte ich, was vierzig darin verlebte Jahre im Übermaß geschenkt hatten, zu ahnen, was hinter jenem Gesichte steckt, das sie flüchtigen Beschauern zeigt. Jetzt aber, wo ich durchsehe, was ich da niedergeschrieben habe, in neun kleinen Kapiteln, fühle ich, dass es nur Stückwerk bedeutet. Ists meine Schuld? Schwerlich. Was kann man auf solchem Räume, auf vorgeschriebener Marschroute geben? Einen Ton, einen Akkord, eine Note, bestimmt vom Temperament. Mit dem der Leser zu rechnen hat. Wie ich es sehe, steht München vor ihm, in großen Zügen, mit allen Eigenarten — und mit den meinen. Dass dabei vieles übersehen werden musste, was noch beitragen könnte zur breiten Ausmalung des kultur- historischen Bildes, ist gewiss. Noch gewisser, dass mir jetzt, wo ich das Buch in die Welt sende, nimmer erspart bleiben wird, was mir jedesmal auftrifft, wenn ich mich zu einem Eindruck gesammelt habe. Ein Beispiel: Ich war in einer fremden Stadt, ich glaube von ihr ein Bild zu besitzen, aber da, wenn ich heimkehre, kommt auch schon Vetter Hinz oder Kunz gerannt. Mit durchbohrenden Augen sieht er mich an, mit erhobener Stimme nimmt er mich ins Verhör. Und hab' ich den heiligen Chrysostomus von irgend einem Quattro- oder Cinquecentisten in alta Croce dei santi e tutti quanti, fünf Viertelstunden vor derselben Stadt, die er auch schon besucht hat, nicht kennen gelernt, dann habe ich diese Stadt nicht gesehen, dann war ich überhaupt nicht wert, einen Fuß auf solch heiligen Boden zu setzen. Denn dieser Chrysostomus ist ja die Krone von allem, er ist dasselbe, was für München das Residenztheater oder der Wittelsbacher Brunnen bedeuten, und steht nicht hinter den Meisterwerken der Glyptothek, der Pinakothek und der Schackgalerie.

Dreht sichs bei solchem Vorwurf um Perugia, oder Siena, kann man seinen Spaß haben. Taucht aber die eigene Vaterstadt aus der Versenkung, erforscht man doch noch einmal sein Gewissen. Mit dem Sündenspiegel in Form eines Skizzenbuches. Eine Flut von Worten strömt da entgegen. Unzusammenhängend, wirr durcheinander geschrieben, mit roten und blauen Strichen. Zum Teil erledigt, zum Teil nicht zu brauchen, zum großen Teile aufzuheben für einen dickbauchigen Roman. Der kommt nämlich auch noch. Gewiss. So schnell bin ich mit meiner Vaterstadt nicht fertig. Dafür hab' ich zu viel gesehen, zu tief hinter die Kulissen geschaut. Und in ihr selber zu starkes , erlebt an inneren Wandlungen, an Abstieg und Aufstieg an Menschen, Natur und Gebilden. Doch das hilft mir heute weder zu Stimmung noch Arbeit. Darum fort, weg über alle papierenen Skizzen zu einem letzten Rundblick aus der Vogelperspektive. Höher und höher hinauf die schmale, steinerne Wendeltreppe und weiter zwischen ragendem Gebälk. Die Bretter krachen unter meinen Tritten, und je mehr ich emporsteige, desto stärker besinne ich mich, dass dreißig Jahre vergangen sind, seit ich als kleiner Lateinschüler fast täglich den Türmer besuchte. Mit ihm hab' ich die Dohlen gefüttert und hab' ausgeschaut nach Rauch und nach Feuer. Auch Geschichten ließ ich mir künden, vom Fräulein von Heppenstein, das vor hundert Jahren zur Tiefe sprang, weil es einen Leutnant nicht kriegen konnte, und von jenen Münchnern, die als Herz, Hirn und Leberwurst wie eine lebendige Speisekarte an einem Tage da oben zusammentrafen. Unten aber hab' ich mit dem Mesner die Glocken gezogen, jene schönsten und größten Glocken Münchens, die jetzt plötzlich zwischen vier ungeheuren Bogenfenstern über mir herauswachsen, als schwebten sie frei zwischen Himmel und Erde. Tief darunter die Stadt, zum ersten Male sichtbar, über ihr der Himmel, und als Zwischenstufe die charakteristische Kopfbedeckung der Frauentürme, jene närrischen Hütein, die man ihnen aufsetzte, weil das Geld in München wieder einmal nicht gelangt hatte, die man kennt weit und breit als die Deckel zu den zwei Maßkrügen.

Hier halte ich ein und schaue mich um. Lotrecht unter mir die weiten Höfe des ehemaligen Augustinerklosters, dahinter, nicht minder schwer und finster, die Jesuiten mit den Karmelitern. Drüben aber als Gegensatz im köstlichsten Blau die stolze, geschlossene Linie der weiten Alpenkette. Dort, wo die Sonne jetzt strahlt auf Zacken und Schrunde, bin ich gewandert, so oft, so viel, vom Untersberg bis zum Grünten. - Und überall, wo ich gerastet habe, auf Gipfeln und Hütten, hab' ich ausgeschaut nach den zwei Türmen wie nach lieben alten Bekannten. Gleichviel, ob sie im Dunste erschienen oder nicht. Auch sonst hab' ich ihnen zugenickt, diesen feinpatinierten Dickschädeln, wenn ich von Westen, von Norden, von Süden, von Osten in die Heimat zurückkam. Aus Nebeln herauswachsend, im Gewitterschein leuchtend, von der Sonne beglänzt, vom Schneegestöber umringelt, so sah ich sie vor mir als treue Gesellen, als zwei brave Onkel, deren Taschenuhren gleichmäßig weitergehen, die rechte wie die linke, im breiten Ticktack des Münchner Lebens. Alle Viertelstunden behaglich brummend, wie so der richtige alte Münchner, der auch nur alle fünfzehn Minuten ein Wort spricht, weil eh' scho' g'nua g'redt werd auf dera damischen Welt. „Alles Blödsinn, alles Schwindel“, tönt es unter der Türmerwohnung. Diese Glocke trug uns Buben die Stunde der Erlösung ins alte Wilhelmsgymnasium hinüber, sie war uns das Vorbild, wenn wir Schiller deklamieren mussten, sie kündete uns mit aufgeregten Schlägen die Brände, weithin durch die Stille der Nacht, sie rief zu kirchlichen Feierlichkeiten, zum Leben, zum Tode. Jetzt, wo ich unter ihr stehe, läutet sie Allerheiligen ein. So stark, so mächtig, dass das ganze Gebälk zittert. Auch die Fenster klirren in leiser Bewegung. Und der Ton vibriert immer stärker, er schwillt an, als riefe er die Toten selber zum Feste. Zu jenem Feste, das ihnen gilt. Denn an diesem Tage werden die Gräber geschmückt und tags darauf die Fürstengrüfte geöffnet, damit das Volk zwischen brennenden Wachskerzen die verstaubten Zinnsärge bewundern kann.

Unwillkürlich wende ich die Blicke nach Süden zum Alten Friedhof. Dort hinaus pilgern sie morgen zu Tausenden. Sie kommen zu Fuß, zu Wagen, mit Kränzen, mit Sträußen, mit bunten Laternen. Eine stumme Andacht am Grabe der Angehörigen, ein flüchtiger Gruß mit dem Weihwasserwedel. Dann machen sie einen Rundgang und kritisieren die Gräber der Nachbarn. Wie neue Kleider oder Theaterstücke. Da, die weibliche Marmorgestalt, die von Engeln zum Himmel getragen wird, erregt besonderes Aufsehen. Die junge Frau ist erst im vorigen Jahre gestorben. Soll übrigens gar keine solche Heilige gewesen seht, wie sie da dargestellt wird, mit dem sicheren Eintrittsbillett für den Himmel. Und erst dort, der bekannte Großkaufmann! Ein Spekulant, man kann schon sagen ein Gurgelabschneider. Schön ist ja seine Gruft, aber die erhebende Inschrift darunter passt durchaus nicht zu seinem Leben. Dem Doktor dort, dem einst vielgerühmten praktischen Arzte, kann man dagegen nur Gutes nachsagen. Ein Wohltäter der Menschheit im Sinne des Wortes. Dafür ist sein Grab auch das ärmlichste in der Runde. Zwei Kandelaber mit brennendem Weingeist — das ist alles. Dass sich die Familie nicht vor den Leuten geniert! Unglaublich. Und hier erst, der berühmte Schauspieler mit seinem klassischen in Erz gegossenen Profil! Der Mann, der als Teil, Wallenstein, Egmont u. s. w. ganz München begeisterte, dieser Abgott seiner Zeit, von dem jeder schwärmte, der das Glück hatte, ihn einmal zu sehen, oder gar, ihn zu hören, mit diesem wunderbaren Organ — vergessen ist er. Nicht die bescheidenste Blume ziert sein Grab, nicht der billigste Immortellenkranz. Rings herum werden Sträuße feilgeboten, aber für ihn kauft keiner. Auch der nicht, der so jammert über das Los des Mimen. Er hat anderes zu tun, hat weiter zu wandern mit seiner Ehehälfte, Arm in Arm zwischen den flackernden Lichtern und den schwarzen Schleiergewinden, zwischen tropischen Pflanzen und laut betenden Klageweibern. Jetzt trifft er einen Bekannten. „Diese Protzerei, dieser Luxus! Unerträglich wirds einem auf die Dauer“. „Nicht wahr? Und das widerwärtige Gegaffe der Leute!“ — Allerdings, na, auf Wiedersehen!“ — „Auf Wiedersehen!“ Und die Herrschaften gehen auseinander, die einen zum nördlichen Friedhof, die andern zum östlichen, wos auch sehr schön sein soll.

Ich aber schaue auf meinem Turme vom Süden zum Westen hinüber. Die Sonne brennt mir direkt ins Gesicht mit vollen, leuchtenden Strahlen. Sie hat sich geneigt zu dem kleinen Wäldchen hinter der Ruhmeshalle. Vor ihr die Bavaria in massiger Größe. Doch man kann nichts unterscheiden, so stark blendets von dort. Nur die schwarze Silhouette des Riesenkopfes taucht aus dem zitronengelben Lichte. Darüber ein zartgrüner Himmel in weitem, ungemessenem Bogen. Der schimmert so durchsichtig, dass man den Herrgott selber zu sehen vermeint mit allen katholischen Englein, mit der ganzen Geistlichkeit und all' denen, die tugendhaft gelebt haben auf Erden. Erst als ich mich umwende, gegen Osten, wirds wirkliches Blau. Da hinten, wo das Maximilianeum thront, sogar tiefes. Als sollte noch ein letzter Gruß winken vom Schimmer des Südens auf die Dächer der Stadt. Die sind noch frei von Schnee. Rot, braun, grün, grau, in allen Schattierungen lachen sie zu mir herauf, bald hoch, bald niedrig. Ich erkenne an ihnen bestimmte Gebäude, ich richte mich nach ihnen wie nach einer Landkarte, ich sehe an ihnen die ungeheure Metamorphose meiner Vaterstadt. Wie sie sich hinausreckte gegen alle Richtungen der Windrose mit neuen, gewaltigen Vierteln, wie sie auch zum Himmel emporwuchs mit hohen Giebeln, dem neuen Rathausturme, dem Nationalmuseum, der Kuppel des Justizpalastes, den zahllosen Schulhäusern und den neuerbauten Kirchen. Jahre an Arbeit liegen da vor mir, und ich kann jeden Winkel bezeichnen, jede Stelle, wos aufhörte und wos anfing.

Wäre ich jetzt ein Redner, so einer vom Schlage derer, die an das Glas klopfen, um Feste einzuleiten, wäre ich der König dieser Stadt, die in immer wärmeren Flammengluten unter mir liegt, dann würde ich wohl danken mit weithin vernehmbarer Stimme. Das Summen und Brausen, das von unten heraufdringt, würde ich übertönen mit Worten der Anerkennung für jene Männer, die meine Vaterstadt so weit geführt haben. Denn sie wächst empor als ein Ding für sich, fröhlich und selbständig, in der neuen, farbigen Bauart. Mit den Rund türmen, den Erkern, den Biedermeier-Fassaden, kurz, mit dem ganzen Stil, den Gabriel Seidl geschaffen hat, und den auch sein Bruder Emanuel erfolgreich verwandte. Dienten dabei alte Muster als Vorbild: der gänzlich verlotterte Baustil der Stadt wurde durch diese Künstler zu neuem Leben geführt. Wo man hinblickt, spricht es von ihrem Wirken, ob sie selbst bauten, ob sie dem Haus nur den Stempel aufdrückten. Der aber ist nicht von Wien, nicht vom Norden bezogen, er ist münchnerisch. Münchnerisch wie seine Schöpfer, bis in die Knochen. Breit und behäbig, fest und selbstbewusst macht er sich Platz. Bums, da steht er und lässt keinen andern neben sich aufkommen. Höchstens die Freundin, die Spezln. Und deren Trabanten, die blind zur Fahne schwören, zu der großen, mächtigen Münchner Gemeinde. „G'moa“ sagt man auf altbayrisch und kann lachen dabei. Lachen über die großen und kleinen Münchner Tyrannen. Denn das Lachen ist noch die einzige Befreiung im Leben, wenn man sich praktisch nicht mehr zu helfen weiß.

Doch es darf kein Schild sein, kein Vorwand, dieses Lachen, als wollte man sich dahinter vor allzu positiven Gegengründen verstecken. Darum in vollem Ernste: Diese „grüabigen“ Zustände, dieser gegenseitige Austausch der Güter, diese Treue in Freundschaft und Spezltum bestehen wirklich. Sie sind. Nicht in der überreizten Phantasie der Zurückgewiesenen, sondern in der ganz spezifischen Art des Münchner Wesens. Nur das Beste will die Clique schaffen, nur zur Ausschmückung der öffentlichen Plätze, nur zum Heile der Kunst will sie wirken. So behauptet sie immer und fragt spöttisch nach den angeblich an die Wand gedrückten Talenten. Wenn aber Dinge, wie das Kriegerdenkmal in der Feldherrnhalle, wie der Kaiser Ludwig vor dem Theresiengymnasium oder der König Ludwig auf der Kohleninsel unter ihren Augen erstehen, dann fällts ihr nicht ein, zu protestieren. Dann verschwindet die Monumentalbaukommission völlig geräuschlos, dann ist alles von vornherein sanktioniert. Warum? Weil das der Mann macht, durch den sie alles macht, weil ihr in diesem Falle energischer Widerspruch das eigene, schöne Geschäft auf immer ruinieren würde. Auch da versagte merkwürdiger Weise die sonst bei jeder Gelegenheit ins öffentliche Leben eingreifende Macht, als ein Künstler wie Theodor Fischer von dannen ziehen musste und viele andere ihm nachfolgten. Namen zu nennen hat keinen Zweck. Denn es handelt sich weniger darum, präzise Beweise zu bringen, wer bei dieser oder jener Konkurrenz übergangen oder aus München selbst hinausgedrückt wurde, es handelt sich um die viel wichtigere Frage, wie viel durch das geschlossene Vorgehen der auch ohne Eintrag in das Handelsregister bestehenden Clique an freier Entfaltung junger und kraftvoller Talente unterdrückt wurde. Kein Wunder, dass ein Mann, mag er nun zur Clique gehören oder nur ihr gelegentlicher Hospitant sein, immer die Arbeiten als die besten erklärt, die ein seinen Ideen oder Theorien willig folgender Schüler geschaffen hat. Aber ebenso klar ist, dass er in führender Stellung als Juror den unbefangenen Blick zu wahren hat für jedes junge, selbständige Talent. Denn in der Kunst gibts kein System, kein Prinzip, kein Gesetz, in der Kunst gibt es nur Freiheit, Eigenart und Naivität.

Merke schon, was erst eine Festrede werden sollte, geht hier auf dem Turme noch über zur schönsten Kapuzinerpredigt. Mit einer solchen möcht' ich nicht schließen, sondern mit einem Ausblick, wie ichs versprochen habe. Da ists gut, wenn man zuvor noch einmal zurückschaut auf das Jahr, durch das ich München begleitete. Ich habe gezeigt, wie es tanzt, wie es trinkt, wie es liebt. Habe von Typen gesprochen, von Originalen, von mir selber und von Herrn und Frau Schelhaas.

Nun beginnt ein neuer Turnus. Oder nein, es beginnt derselbe. Denn da sich bekanntlich alles dreht auf der Welt, wird auch das kommende Jahr die Geschlechter wieder zum Tanze, die Maßkrüge wieder an die Lippen, die Herzen wieder zu Herzen führen. Und zu aller Lustbarkeit wird sich an passender Stelle ganz sicher der passende Raubmord fügen. Mit einer nicht aufzufindenden Leiche, oder diesmal mit einer gefundenen. Möglich dass die Verhandlung auf das Oktoberfest fällt. Auch keine schlechte Saison. Hauptsache bleibt, dass sie stattfindet. Einmal hat uns Augsburg mit Freund Kneissl den Rang abgelaufen. Das war sehr bitter. Der weltberühmte Mann hatte ohne alle Unterstützung vier Monate die Hauptstadt belagert, gehörte somit nach München. Dafür darf uns der nächste, der wieder an der Auflösung der sittlichen Weltordnung arbeitet, ganz sicher nicht auskommen. Denn das sind festgefügte Institutionen wie die Kalbsbraten und das große, ewige Schnackerltum. Keiner darf daran rütteln und will es auch nicht. Ich am letzten. Ein kleiner Ruck, eine leise Änderung, das ganze Bild ist verschoben. München aber muss München bleiben, wies in Walzern so schön heißt. Kann mir wenigstens nicht denken, dass darin sächsische Reinlichkeit hochkommt, kann mir nicht vorstellen, dass die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit auf solchem Boden gute Dividende verteilen, und ich kann mir nicht ausmalen, dass, was der Münchner Gemütlichkeit nennt, sich anders äußert als in tüchtiger Grobheit. Es bleibt also alles, wie es war.

Und noch etwas bleibt, muss bleiben für immer. Der Niedergang Münchens als Kunststadt ist ja schon lange vollzogene Tatsache, die Preußen werden über kurz oder lang die Stadt erobern, der Hofbräuhäusler wird Berliner Jargon sprechen und der bayrische Staatsbürger in deutschen Reichseisenbahnen zum Starnbergersee fahren: der Rahmen aber, in dem sich dies lustige Theater abspielt, der große, leuchtende Rahmen, wird nimmer vergehen. Jetzt ist die Sonne hinter Sendling hinabgegangen. Doch von der Stelle, wo sie verschwand, lodert die Glut empor. Die volle Glut eines leuchtenden Abends. Weit über die Dächer ragt sie hinauf in das dunkelnde Firmament. Nun brennt alles in der Runde, dass man Sturm läuten möchte auf der einsamen Warte. Dampfwolken steigen vor dem Feuer aus Kaminen und rauchenden Lokomotiven. Daraus wachsen die Türme des Westens wie Giganten. Und von ihnen strahlt es hinaus bis zum Dachauer Schlossberg über das herbstliche Moor; ein Weltenbrand, wie von tausend Händen entzündet. Da wirds lebendig auf der oberbayrischen Ebene, soweit das Auge noch reichen kann. Der Sommer hat sie gelb gebrannt, aber jetzt schillert sie mit dem Himmel um die Wette mit ewig wechselnden Lichtern. Und von ihr zieht es über die ganze Stadt. Über die Straßen, wos wimmelt von heimkehrenden Menschen, über die Dächer, deren Kupfer wie fließendes Metall glänzt, und über die Bogenlampen, die hell in dem sengenden Feuermeer glitzern, über all das hinauf zu den Frauentürmen, zu den beiden roten Ziegelsäulen, die wie Dolomitenfelsen erstehen. Zum offenen Fenster aber strömt es herein mit erlöschenden Feuergluten. Mit einem Hauch, gesättigt von Heide, von Bergen, von Wäldern. So köstlich, so frisch, dass man hineinbeißen könnte ins Ungewisse, dass man fressen möchte, bis man nimmer genug hat. Mag die bayrische Regierung noch so fromm werden, mag der Landtag den letzten Groschen nur noch für Heugabeln verwenden oder für Rosenkränze, mögen die Künstler selber die größten Dummheiten begehen — diese Luft können sie alle zusammen nicht umbringen. Und der Polyp im Norden mit den großen Fangarmen kann sie nicht nachmachen.

Ende.




Von Josef Ruederer erschienen bisher bei Georg Bondi, Berlin:

Ein Verrückter. Kampf und Ende eines Lehrers. Roman.

Die Fahnenweihe. Eine Komödie in 3 Akten.

Tragikomödien. Fünf Geschichten mit Zeichnungen von Louis Corinth. Enthaltend: Das Gansjung. — Die Hinrichtung. — Linnis Beichtvater. — Der Totengräber. — Hochzeiter und Hochzeiterin.

Höllischer Spuk. Ein Münchener Erlebnis.

Wallfahrer-, Maler- und Mördergeschichten. Enthaltend: Die wundervolle Legende vom heiligen Leonhard und der heiligen Barbara. — Sein Verstand. — Der strohblonde Augustin, der brennrote Kilian und die sittliche Weltordnung.

Die Morgenröte. Eine Komödie aus dem Jahre 1848. In fünf Akten.

Bei Georg Müller, München :

Münchener Satiren. Enthaltend: Auf drehbarer Bühne. — Der Hohe Schein. — Wagalaweia.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Muenchen.