Die Dichter.

Vor einigen Monaten sah ich im Schauspielhause das Stück eines in München lebenden Dichters. Ein Kampfstück, ein Tendenzdrama, gerichtet gegen einen anderen Dichter, der auch einmal in München gelebt hatte, als Freund des selben Mannes, der ihn jetzt angriff. Also eine persönliche Abrechnung, ein Internum, das nichts mit der Kunst zu tun hatte. Schon deshalb, weil die Sache ohne jeden Humor war. Der Gegner erschien als der übliche Theaterschurke schwärzester Färbung, ders geschrieben hatte als der schwerverkannte Menschenbeglücker edelster Rasse. Vier böse, endlose Akte voller Reden und Redensarten. Neben mir, im stimmungslosen Hause, ein Mann, dem das literarische München völlig unbekannt. Ich sage ihm, das ist der, das ist die, das ist das. Ich erkläre ihm die Münchner Sitte, dass man erst Brüderschaft trinkt und sich vier Wochen später per Ew. Hochwohlgeboren schreibt, ich erzähle ihm in den Zwischenakten auch von den beiden Dichtern. Als von Leuten, wo jeder was geleistet hat im Leben, jeder in seiner besonderen Art. Auch ihre Trennung suche ich ihm klar zu machen. Der eine trank eben Weißwein, der andere roten. Solche Weltanschauungen müssen einmal aufeinander platzen. Dazu noch die liebe Menschheit, der Tratsch, die berühmten geselligen Abende, die Trabanten, und jetzt da oben auf dem Theater das Resultat der ganzen Krakehlerei: die einer überreizten Phantasie entsprungene „Insel der Seligen“. Die den Zufluchtsort für erlesene Geister bilden soll, die den Leuten vorrechnet, wie viel Butterbrote sie bekommen haben. So etwa sprach ich, vielleicht auch noch etwas deutlicher. Der Fremde hörte dem allen sehr aufmerksam zu. Als ich aber fertig war mit meinem Latein, sagte er achselzuckend: „Es ist ja alles recht schön, aber was geht das mich an?“ Anfangs war ich wie vor den Mund geschlagen, je länger ich aber nachdachte, um so mehr musste ich mir sagen, wie recht der gute Mann hatte. Er wollte ein Stück sehen und fand eine Schimpferei, ich wollte ihm das Leben der Münchner Dichter erklären und musste entdecken, dass ihn das nicht interessierte. Trotzdem er mich selber darauf angeredet hatte. So ließ ich mir seine Zurechtweisung gefallen. Aber vergessen konnte ich sie nicht. Und heute liegt sie mir besonders auf den Nerven.

Der Leser wird bald erfahren, warum. Er hat selber, wer er auch ist, wenigstens einmal in seinem Leben den bekannten schweren Traum gehabt. Wo er irgend was unternehmen soll. Um sieben Uhr an der Bahn sein, um acht Uhr noch einmal das Absolutorium machen, um neun Uhr eine Rolle aufsagen. Dabei kommt er nicht vom Fleck, so heftig er sich bewegt und ist auf das Absolutorium ebensowenig vorbereitet wie auf die Rolle. Schlimmer noch, wenn das Stück überhaupt gar nicht geschrieben ist, das eben aufgeführt werden soll. Das Publikum hat sich versammelt, doch harrt es vergebens, die Souffleuse sitzt an ihrem Platze, doch hat sie kein Instrument zum einblasen, der Dichter steht fassungslos hinter der Szene. So was einfältiges kann natürlich nur ein Dramatiker träumen. Wacht er dann auf, mit dem bekannten Seufzer der Erleichterung, sieht er, dass alles nur Einbildung war, ists ja gut. Ganz schlimm aber, wenns nicht Traum oder Zwangsvorstellung, sondern schreckliche Wirklichkeit bedeutet. Dann wäre er wieder froh um den Traum, er wünschte aus dem Leben zu erwachen, möchte sich beißen und zwicken — vergebens. Die graue Wirklichkeit bleibt bestehen. Und die Arbeit schleicht wie die Schnecke, so trag, so klebrig. Da ein Wort, da ein Satz, da ein Strich. Nicht zu erleben mit dem Tempo. Darum wird er ungeduldig, der Dichter, er forscht nach den Ursachen, sieht das gestern Geschriebene noch einmal durch, er rennt durch das Zimmer, er flucht der eigenen Existenz. Ein Holzhauer möchte er sein, ein Beamter, ein Bankkommis mit regelmäßigen Arbeitsstunden. Hat er aber das ganze Register der Berufsarten erschöpft und noch einmal die Attacke gemacht, hat er wieder mit der Feder gekritzelt — drei lumpige Zeilen, die nichts fördern — dann wirft er schließlich den ganzen Krempel in die Ecke. Vorher kann er noch mit dem Personal einen Skandal anfangen, kann beanstanden, was er sonst unbeanstandet lässt, kann ein Fenster einhauen, eine Bronze vom Schreibtisch fegen oder mit heilloser Wut alle Dichter inklusive sich selber als impotente Philister erklären.


Als Bierhuber und Vereinsmeier. Die nur sumpfen, nur gründen. Wie die Münchner selber. Die im Rauchklub beisammen hocken, monatliche Beiträge erheben, einen Vorstand, einen Schriftführer, drei Beisitzer und den gänzlich überflüssigen Kassier wählen. Auch die Vereinsfahne darf nicht fehlen, und vor allem: ein Titel muss die Sache krönen, ein schöner, klingender Titel. So etwa lernte ich die Dichter kennen, als ich vor dreizehn Jahren unter sie trat. Eine in sich geschlossene Korona, eine Aktiengesellschaft. Mit dem Hauptsitz in Berlin, mit einer ansehnlichen Filiale in München. Otto Julius Bierbaum war der erste Geschäftsmann und Betriebsleiter, sämtliche Literaten die Aufsichtsräte mit der stillschweigenden Versicherung auf Gegenseitigkeit. Offizielles Organ für Süddeutschland: der Münchner Musenalmanach. Für Berlin: der Pan. Beitreten konnte jeder bis dahin noch unbescholtene Mann mit ein paar mehr oder minder dämonischen Instinkten und unheilbarem Größenwahn. So bekam auch ich eine auf Namen lautende Aktie und einen bestimmten Wirkungskreis zugewiesen. Ich sollte mich rühren, sollte mich nützlich machen. Dafür wurden mir bestimmte Gegenleistungen zugesichert, wie Empfehlungen an Theaterdirektoren, günstige Leitartikel und verschiedene Naturalien, zu liefern am Tag der Premiere. Auch ein Name, ein Vergleich mit der Ewigkeitslinie sollte für mich ersonnen werden, wie es bereits einen schlesischen Shakespeare, einen germanischen Heine und einen mosaischen Kleist gab. Gute Führung natürlich vorausgesetzt. Aber damit haperte es. Ich hatte, das zweite Kapitel zeigte es deutlich, von kaufmännischen Dingen nie was verstanden. So warf ich auch diesmal um, ich liquidierte die Kosten und wandte mich von der verschlossenen Türe wieder hinaus in das Freie.

Dort ists heute nicht besser. Grau- blaue Wolken lagern am Himmel in unbeweglicher Ruhe, schwer und massig, als wollten sie jeden Augenblick herunterfallen. Und eine Schwüle wie Blei in der drückenden Frühlingsluft, dass man meint, sie müsste explodieren. Auf einer nahen Pappel schlägt eine Amsel an. Das macht die Stille noch tiefer, das schiebt die Häuser noch enger zusammen. Was soll man tun? Noch länger warten, bis einem die Spatzen aufs Dach machen? Ich überlege und bleibe mitten auf dem Pflaster stehen. „Hopla“, sagt ein Münchner und plumst auf mich. „Öha“, sagt ein anderer und tritt mir auf die Pedale. Das sind die allgemein gültigen Entschuldigungsformeln, wenn nicht, je nach dem Temperamente, noch eine kräftigere erfolgt, wie: „Tritt auf deine Haxen, Grasaff, g'selchter“, oder „Jee, der lehnt si zuawi, da gar ander.“ Wies auch ist, ich merke, die Menschen sind heute gerade so wie ich selber, so schwerfällig, so unentschlossen. Gehe daher ein paar Schritte weiter in die Richtung, wo der Maibock winkt. An den kommt jetzt die Reihe, nachdem der Salvator glücklich getrunken ist. Unten im Hofbräuhaus stecken sie ihn an, in Anwesenheit des Landtagspräsidenten, der Gesandten, der Minister und einer Musikkapelle. Eines der bedeutsamsten Ereignisse im Jahre. Wenn Bayern eine neue Verfassung bekäme, könnte mans nicht feierlicher begehen. Und man müsste immer erst fragen, was der Münchner in solchem Falle für wichtiger hielte, die Verfassung oder die Bockpartie. Käme es zur Abstimmung, wie bei der Reichstagswahl, sicher das Fressen und Saufen. Und zwar hat es die Masse zu bringen, die große, umfangreiche Portion. Man muss es nur hören, mit welcher Liebe gekaut wird, man muss die Quantitäten sehen, die vertilgt werden, man muss die Bestellungen hören. Mit welcher Peinlichkeit werden sie der Kellnerin übertragen, als müsste die Hebe ein geliebtes Kind aus anderen Weltteilen dem besorgten Vater zurückführen. „Fünf Paar Abbräunte, aber recht schön durch, gelten S', Fräul'n Kathi“, oder „a Beinfleisch, aber recht a weich's, vom Bug halt, wenns mögli is.“ Oder „geb'n S' ma a Dutzend Bratwurst mit hoam, Fräul'n Anna, aber recht frische und recht fest eing'macht, dass s' recht guat halten.“ Fast flehend, beschwörend klingt es. Beim Trinken ist die Gewissenhaftigkeit nicht geringer. Denn der Maibock bedeutet eine Kur wie das Karlsbader Wasser, nur viel angenehmer zu schlucken. Er soll reinigen, soll befreien von den Bresten des Winters. Ein Jungbrunnen ist der köstliche Trank für eingesessene Münchner, ein Sorgenbrecher, wie die Weine der Pfalz, nur mit dem Unterschied, dass er nicht so gepantscht wird. Tropfenweise ist er zu trinken, mit Verstand, mit Genuss, an der Quelle am Platzt oder, noch besser, draußen am Hofbräuhauskeller.

Da unter den jungen Linden sitzen die ganz Gerissenen, die Kenner, die Kieser. Darunter der, den ich heute aufsuchen will, der Oberst Ritter Heinrich von Reder. Irgend eine Kabinettsordre hat den verdienstvollen Max-Josefritter zwar vor kurzem zum General befördert, für mich aber bleibt er der Oberst. Und noch mehr, der Mann und der Dichter. Dass ich ihn bei seinem siebzigsten Geburtstag an die Welt lockte, mag er mir verzeihen, dass ich ihm auch beim achtzigsten keine Ruhe lies, nicht minder, und dass ichs heute noch einmal tue, erst recht. Weiß wohl, ich könnte von Dichtern reden, die viel berühmter sind als er selber, könnte die offizielle Liste aufzählen, worin die vereinte Münchner Literatur bei großen Gelegenheiten immer eintöpfig zusammengeworfen wird — der alte Soldat, dies Original, ist mir lieber, mit seiner prächtigen Kunst zu schimpfen, mit seiner ganzen reichen Vergangenheit. Der junge Student, der als angehender Forstmann durch den Spessart schritt, der Artillerieleutnant, der Anno 48 über die farbenreiche Münchner Revolution lachte, der Schöpfer der Landsknechtlieder, der mit Geibel im Krokodil kneipte und der tapfere Hauptmann, der die höchsten militärischen Auszeichnungen bekam: so seh ich ihn vor mir und neben ihm seinen Stammesgenossen, den Unterfranken Michael Georg Conrad. Auch ein streitbarer Haudegen, dieser Gnodstadter Bauer, ein Kämpfer, ein Bezwinger. Als er sechzig Jahre wurde, hat ers wenigstens fertig gebracht, die ganze Münchner Schriftstellerwelt in schönster Eintracht an einen Tisch zu setzen. Das will schon was heißen. Aber er tat noch mehr. „Die Gesellschaft“ hat er gegründet, junge Talente gefördert und für Andere seine Haut zu Markte getragen. Die schöpften den Rahm, aber er hat nicht umsonst gelebt. Bei den „Modernen Abenden“ in der „Isarlust“ gings ja manchmal recht drollig her. So wurde einmal mit allen Stimmen die Reformierung des Kunstvereins beschlossen, gleichzeitig aber stellte sich heraus, dass von den Anwesenden keiner sich rühmen durfte, Mitglied dieser vornehmen Vereinigung zu sein. Trotzdem warens prächtige Stunden. Vielleicht manchmal mit zu vollem Brustton gegeben, zu sehr im Sinne der Hecker-Schule, jedenfalls aber legten sie für die junge Literatur die erste Bresche.

Wohl merke ich, als ich jetzt wieder durch die Straßen schreite, warum mir der heutige Sciroccotag so bleiern in Gliedern und Nerven liegt. Ich will über Dichter schreiben, über „Kollegen“, wie man in München so reizend sich ausdrückt, als spräche ein Bezirksamtmann über den andern, oder ein Veterinärarzt über den Medizinalrat. Eine heikle Sache, die heikelste wohl vom ganzen Buche. Wird einer übersehen, dann fasst ers als Animosität auf, wird einer kritisiert, kriegt er erst recht eine Wut auf mich. Kommt man überhaupt auf die Dichter zu sprechen in einem Buche, das mit bestimmtem Umfang zu rechnen hat, dann schreien Maler und Musiker wie aus einem Munde: „Da hat mans wieder! Und die Münchner, die gewohnt sind, sich unter einem Dichter immer noch was vorzustellen in der Art wie ihn die arg verstaubten „Fliegenden Blätter“ unentwegt abbilden, mit Zitrone und Lorbeerkranz, findens erst recht gespreizt. Sie haben für diese Kunstgattung niemals viel übrig gehabt. Höchstens für einige Lokalgrößen, die was Fideles schreiben, oder was Treuherziges, Gschnasiges aus biederen Bergen. Die einzige, wirklich literarische Persönlichkeit, ders glückte, Fuß zu fassen, dürfte wohl nur Ludwig Thoma sein. Der Schöpfer der direkt aus dem Volke geholten Typen, der Dichter der unnachahmlichen „Soldatenlieder“, der Schilderer der ganz prachtvollen „Hochzeit“. Keiner hat vor ihm den oberbayrischen Dialekt mit allen Ausdrucksmitteln so gemeistert, keiner hat aus dem Landvolke mit solch intimer Kleinmalerei den stillen Humor behoben. Darum wirkt er auch nie verletzend, darum hat man ihn gern. Noch mehr aber als seine eigentliche Künstlerschaft trug zu seiner Popularität der „Peter Schlemihl“ bei. Das liebt man, wenn fortwährend auf den Staatsanwalt geschimpft wird, wenn die Preußen derbleckt werden und die Mucker die Maulschellen kriegen. Mag das auch auf die Dauer zum Klischee werden, ganz wurst — der Dichter ist einmal anerkannt.

Wer von auswärts hierherkommt, wer da glaubt, eine Rolle spielen zu können, wird bald wieder von dannen ziehen. Einen Stachel im Herzen, die schlechten Geschäfte im Kontobuch. Die Münchner sind nicht wie die Berliner. Die glauben von einem Bayern, er müsse in jenem Kostüm durch die Bendlerstraße tappen, das sie selber im Sommer am Tegernsee tragen, sie meinen, er müsse allen Leuten mit Nagelschuhen auf den Bauch treten, und setzen voraus, er müsse täglich ein Kalb und einen Hektoliter Bier konsumieren. Berauschende Phantasiegebilde, die nichts mit der nüchternen Wirklichkeit zu tun haben. Alles geht hier ohne Grimasse, alles geht hier seinen unbekümmerten Trott. Nur eine Stätte gibts, in dem schon einmal genannten Viertel der Theresien- und Amalienstraße, von der Jung-München den Adlerflug zur Reichshauptstadt nimmt: das vielgenannte Café Stefanie. Von außen wie jedes andere der zahllosen Lokale, worin die Münchner von zwei bis fünf dem Tertel obliegen, von innen ein wesentlich anderes Bild. Schon der Geruch ist verschieden. Keine Zigarren, nur Zigaretten, kein Bier, nur Stefan George. Nicht als ob der gefeierte Dichter in eigener Person zugegen wäre: seine Jünger, seine Bekenner, seine Verehrer sitzen herum. In allen Altern, in allen Typen, in allen Geschlechtern. Schwarzhaarige Jünglinge aus den Donaustaaten, Malweiber, die Reformkostüme tragen, und Studenten, die dichten. Alles nach Gruppen und Cliquen geregelt. An jenem Tische schwärmt man für Maeterlinck, da drüben für Huysmans, am dritten für Strindberg, am vierten für alle zusammen. Dazu klappernde Dominosteine, rollende Billardkugeln. Und dies alles vom Mittag bis zum Morgen. Dann ruhen die Herrschaften, getrennt oder gemeinsam — je nachdem — in den Betten. Möglich auch, ein besonderer Frühauf flaniert, die Hände in der Tasche, die Zigarette im Mundwinkel, zum Polytechnikum oder zur Universität, möglich auch, es pinselt einer auf einer Leinwand herum, die die reiche Impression der Rieselfelder darstellt, möglich auch, es komponiert einer an einer Oper, die das Orchester für „Salome“ um zwei Dreschmaschinen, drei Dampfpfeifen und vier Huppen dynamisch vermehrt.

So aber ein Poet sich bereits den Schlaf aus den Augen gerieben hat, dann schafft er im Café Stefanie bei Melange und Zitronenwasser nur Ewigkeitswerte. Im Stile des Meisters, den er bewundert, und mit souveräner Verachtung all dessen, was an Plebejertum mahnt. „Gesund“ bedeutet das Wort, das die tiefste Erniedrigung ausdrückt, „krank“ die frohe Verheißung für duftiges Schaffen. Ein Tag wie der heutige, gesättigt vom Hauche des Südens, gepriesen sei er als Bringer der Stimmung. Stundenlang läßt sich da träumen, die Nase ans Straßenfenster gedrückt, von Botticellischen Sehnsuchtsgeschöpfen, vom Wiener Zahlkellner und Maiandachten. Von der Ludwigskirche, die so nahe dabeiliegt, von ausschlagenden Birkenstämmchen. Der Marienkultus ist ja so schön, er bietet eine so reiche Kunst in seinen formvollendeten Zeremonien, dass es, man mag in Krotoschin, in Agram oder in Lemberg geboren sein — überall zum katholisch werden ist. Diese Messen, diese innige Anbetung aller Heiligen, dieser Weihrauch, die rote Ampel in silberner Fassung vor dem dunkeln Hochaltar: das hatte der gute Luther freilich nicht kapieren können. Es war auch nicht für den Bauerntölpel berechnet, sondern nur für die eminent musikalischen Nerven der heutigen Hyper- Kultur. Die gerät am stärksten in Schwingungen, wenn man stundenlang als Geniessender in einer katholischen Kirche geträumt hat oder wenn auf reicher Palette alle Farben der Fronleichnamsprozession auftauchen. Beseligend wie ein Gedicht vom Meister oder ein Gebet von Franz von Assisi. Vom letztgenannten besonders. Denn dieser Heilige war einer der größten Dichter aller Zeiten, eigentlich war er der einzige. Wäre er ein bisschen später geboren worden — das tiefste Erfassen war ihm sicher und ein Stammplatz im Cafe Stefanie obendrein. Gleich bei der Büffetdame links. Oder noch besser, im Nebenzimmer, wo die wilden Weiber die Zeitungen lesen. Was er da alles in die Hand bekommt, ob die Bildpresse, jene auf höchste Stufe gelangte Kulturblüte Münchens, ob die mehr akademischen als „Süddeutschen Monatshefte“, ob den „März“, der die Witze des „Simplizissimus“ in demokratische Leitartikel überträgt und „jene Zeitschrift großen Stils darstellt, die Deutschland gerade noch gefehlt hat“ — es hängt davon ab, was im Café Stefanie aufliegt. Ich bekümmere mich jedenfalls nicht mehr um ihn, sondern schleiche die Häuser entlang, weiter nach Norden hinauf. Immer stärker liegt der Tag auf mir, immer stärker das Thema. Einen Atelierbesuch machen? Eine Stunde verschwatzen? Aber da scheue ich schon wieder die vier Treppen. Und schließlich, was schaut heraus bei der Geschichte? Mit Malern über Literatur reden? Schon besser eine Droschke nehmen ins entgegengesetzte Viertel, sich auf den Divan werfen und schlafen. Oder arbeiten. Nicht das Gewohnte. Nein, ein paar lyrische Gedichte, an irgend eine ferne Geliebte. Hab sie ohnehin immer beneidet, meine Kollegen mit der goldenen Harfe, und heute tue ichs erst recht. Möchte mir auch was zusammenträumen in der schwülen, lastenden Maienluft. Meine altgewohnten Modelle, die Leute, die Wasserstiefel und grüne Hütein tragen, will ich beiseite schieben vor neuen Bildern. Und weil mir selber so gar nichts einfällt, vor den Schöpfungen Anderer. Vor den heißen Stellen in den „Kindern der Welt“, vor dem „Sonnenspektrum“, dem eklatanten Bordelldrama Frank Wedekinds. Beides auf Münchner Boden gezeugt, beides so grundverschieden im Aussehen wie die Verfasser selber.

Weiß wohl, einst gabs eine Zeit, da las ich als junger Fant Heyses mir verbotenen Roman des Nachts im Bette, weiß wohl, einst setzte mir, dem erst Widerstrebenden, Max Halbe mit aller Glut eines Freundes und Dichters die Vorzüge Wedekinds auseinander. In der längst entschlafenen „Nebenregierung“ wars, einer Künstlergesellschaft, die ihr Lokal in der Adalbertstrasse hatte. Mit rotem Rupfen war es ausgeschlagen wie eine Schießbude vom Oktoberfest. Tannen, denen die braungelben Nadeln ausfielen an den Wänden, verschüttetes Bier und Zigarrenreste auf dem Boden. Im Hintergrunde ein Podium. Dort musste an bestimmten Tagen jeder etwas Gutes vortragen, und wenn er das nicht konnte, was Anderes. Ein Vereinsleben, ein regelrechtes Vereinsleben. Selbst die Exkneipe hatten wir, drüben in der Dichtelei, einem nicht weniger ungeleckten Beisel. Und wies damals tollte bis zum frühen Morgen in den unvergesslichen Stunden der Rederkneipe, den Saufereien mit Hartleben, den Kegelabenden und den Atelierfesten, meinte ich eigentlich, das müsste dauern bis ans Ende aller Tage. Kein Mensch in München kannte uns, weder die Götter, das heißt die großen Kollegen, die bei den Propyläen wohnten, noch die Dichter, die der Ehre teilhaftig wurden, von Ernst von Possart regelmäßig gespielt zu werden, wie der treffliche Lyriker Martin Greif. Die „Allgemeine Zeitung“ übersah uns vollkommen, die „Neuesten Nachrichten“ brachten literarische Beiträge von Nudlmeier und Frau Wurzl, nur die Zentrumspresse schilderte uns manchmal als Anarchisten, die stets ein wohlassortiertes Lager explosionsreifer Bomben mit sich trügen. Auch soll gelegentlich der eine oder andere Dichter sich in schweren Zorn geredet haben, weil wir in bösen Epigrammen seine kaufmännische Tüchtigkeit höher ein- schätzten, als seine lyrischen Dichtungen. Aber das kümmerte uns nicht. Gekränkte Leberwürste lachten wir aus, und die Presseerzeugnisse wurden auf der Kneipe coram publico zum allgemeinen Gaudium verlesen. Oder sie kamen zum ewigen Angedenken in ein Album, dem Mittelpunkte der ganzen Vereinigung. In ihm floss zusammen, was an geistigen Strömungen sich regte. Nichts war ihm heilig vom lieben Herrgott an bis herunter zum kleinsten Dekadenten des Universitätsviertels. Und Witze und Ausdrücke! Ein strebsamer Staatsanwalt, ders zufällig fände, könnte heute mit ihm noch Karriere machen, als Entdecker ewiger Bosheiten.

Vorbei — vorbei! In dem kleinen Hofe ists nicht mehr so stimmungsvoll. Die Kastanienbäume sind zwar dicker geworden in den zwölf Jahren, aus dem Kneiplokal riechts noch genau so stickig wie damals, aber die Literaten sind andere geworden. Vornehmer, abgeklärter, wie die alte Vorstadt Schwabing selber. Da grünen, wenn man jetzt weiter geht um Neureuthers neue Akademie herum, zum Siegestor hinaus, nicht mehr verwilderte Gebüsche auf breiten Wiesen: ein Riesenbau, ein Familienhaus prangt neben dem andern, und mit der Noblesse der Bauten wuchs auch die Noblesse der Dichter, die dieses Viertel, den Norden, nach wie vor als ihre Domäne betrachten. Nur noch mit zartem Schamgefühl werden sie jener Zeiten gedenken, da sie als stramme Vereinsmitglieder am Stammtisch saßen und die Monatsbeiträge schuldig blieben.

Seitdem ist eben so manches geschehen im literarischen Leben Münchens, was eine Veränderung hervorrief. Die Tage der Waschermadl sind nicht mehr, ein gesteigertes Drängen machte sich geltend nach bürgerlicher Ehe, nach Glanz und Highlife. Die Insel des Herrn Walter Heymel wurde von Otto Julius Bierbaum, dem Unermüdlichen, begründet, als Höhepunkt, als Krönungsmantel, als Spezialabzug auf Japan oder Van Geldern. Dicht vor dem Siegestor erstanden, und daselbst, nach dem Muster aller nicht illustrierten Zeitschriften, die in München ins Leben treten, auch wieder verschwunden, warf sie ihren Schimmer auf den ganzen Stadtteil bis zum Anfang der Fröttmanninger Heide, wo sich die Füchse mit freundlicher Miene gute Nacht sagen. Und es verstand sich von selbst, dass solch neugeadeltes Viertel bei der Beschaffenheit der Münchner Bodenverhältnisse auch einen Verein haben musste. Für reiche Leute, für Herrschaften, die außer der Tour ins Theater gehen, für Damen mit weit ausgeschnittenen Kleidern und Herren mit Kronen auf Taschentüchern und Unterhosen. Soweit hats die Münchner Dramatische Gesellschaft jetzt schon gebracht. Von der alten Garde ragt zwar nur noch Max Halbe in einsamer Größe. Alles andere ist mit geballten Fäusten und grimmen Geberden nach allen Richtungen zerstoben. Darunter ich selber. Die Weltanschauungen waren eben zu verschieden: wie Wedekind Rotwein trank, trank ich Thee, das musste zum Bruche führen. Und das Wetter, das Frühlingswetter, kam noch dazu. Es macht krabblig, es verzögert die Arbeit, es reizt zum Einschnappen. Ach, wenns doch schon Sommer wäre, knalliger, oberbayrischer Sommer! Da kann man schaffen, besser als hier, draußen in dem Bauernhäusl, das man sich in den Bergen gebaut hat. Da vergisst man die ganzen Cliquen, das literarische Gezänk, die widrige Maulfechterei, man sieht niemand von den „Kollegen“ sondern geht mit dem Münchner Bürger, der seine Geburtsstadt nur bis zur Peripherie des Schliersees verlässt, im seligsten Nirwana des kompletten Stumpfsinns zur Ruhe.

Wirklich? So weg über Wunsch und Welt? So stolz, so philosophisch? So erhaben über alle Dinge, über Maibock, Frühling und Literatur, dass nichts, nichts mehr aufrütteln kann aus der sicheren Ruhe? Ach, nein, leider nein. Ich müsste kein Münchner sein, keiner vom Schlage derer, die ich schon so oft verlacht habe, und zu denen ich ja doch selber gehöre, mit Haut und Haaren, als Fleisch vom Fleisch, als Geist vom Geiste, hätte die allgemeine Vereinsmarotte, jenes Gespenst, das immer wieder auftaucht und einfach nicht auszuräuchern ist, nicht mich selber beim Kragen gefasst. Also gründete ich auch was. Schon der Konkurrenz wegen. Und die königlich bayrische Universitätsbehörde war so liebenswürdig, meine Absichten in entgegenkommendster Weise zu fördern. Sie löste den Akademisch -Dramatischen Verein auf. Wer das war, wusste sie bis dahin selber nicht; am letzten der Herr Rektor. Sein Siegel prangte zwar mit breiter Würde auf der Bekanntmachung, dass der Verein Schnitzlers „Reigen“ aufführen wollte. Aber der weltentrückte Gelehrte hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung, welchem Satanswerke er damit seine amtliche Genehmigung erteilte. Belletristik geht ihn nämlich nichts an; sie schlägt in die andere Fakultät. So muss der Nationalökonom was wissen von Kohlensyndikaten, der Gynäkologe von der Gebärmutter, der Theologe von der unbefleckten Empfängnis; darüber hinaus ist weder der Theologe, noch der Gebärvater, noch der Nationalökonom im öffentlichen Leben zu irgend welcher geistigen Leistung verpflichtet. Allerdings vom Literaturprofessor sollte man meinen, er müsste hier wohl oder übel .... aber zu jener Zeit war die offizielle Statistik über Gottfried Keller noch nicht hinausgekommen; Paul Heyse wurde als junger Spritzer behandelt, eben in den Gesichtskreis getreten, dessen schönes Talent man mit Lächeln begrüßte. Darfs einen da wundern, wenn die Herren höchlich entsetzt taten, als die liebe Zentrumsfraktion wieder einmal wimmernd angesockt kam und mit flammender Entrüstung auf die Existenz eines so bösen Vereins aufmerksam machte. Man denke, seit fünfzehn Jahren bestand er schon, dreißig Werke hatte er aufgeführt, darunter die besten der jungen Literatur, das schreit nach Sühne, nach Inquisition!

Mit solchen Worten oder schärferen habe ich damals in der sozialdemokratischen „Münchner Post“ geredet, dem einzigen Blatte, wo man in Bayerns Hauptstadt manchmal frei von der Leber reden darf, vorausgesetzt, dass nicht öde Parteiwut es ebenso blind macht, wie die andern Blätter die Loyalität. Dann rief ich alle Freunde zusammen, wo ich nur einen wusste. Ich hab sonst im Leben wenig Ambitionen, aber, dass ich Ehrenmitglied des aufgelösten „Akademischen“ war, ist heute noch mein besonderer Stolz. Darum sollte eine reiche Vergangenheit nicht ohne weiteres jener Fraktion zum Opfer fallen, die nach Karl Stielers schlagendem Wort wohl die dümmeren Mitglieder hat, aber „de mehran aa.“ Die neuen Aufführungen hatten zu bürgen für Wahrung des Ansehens und schwer erworbener Traditionen. Und auch vom Geiste der seligen „Nebenregierung“ sollte wieder etwas rebellisch werden. Weiterpflanzen sollte sichs mutatis mutandis, was davon noch zu retten war an persönlicher und künstlerischer Freiheit. So gings denn wieder an, mit dem altgewohnten Präsidium, dem Schriftführer, dem Schatzmeister, den Beisitzern: die schönste Vereinsmeierei. Aber auch mit prächtigen Künstlerabenden in der Türkenstrasse, im Quartier Latin. Wo einst die „Elf Scharfrichter“ gehaust haben, wo Marya Delvaard ihre blassblauen Lieder sang, wo Monsieur Henry in absichtlich gebrochenem Deutsch „die Errschaften bat, nicht zu ra-uchen“, wo Hanns von Gumppenberg, Leo Greiner, Paul Schlesinger und Otto Falckenberg ihre famosen Satiren aufführten, wo Wedekind zur Guitarre sang und Hannes Ruch nicht immer eigene, aber nette Musik machte, da sitzt jetzt der „Neue Verein“ im umgestalteten Gesellschaftslokal. Der Namen hat er nicht mehr so viele, wie die „Nebenregierung“, aber er hat was Wichtigeres, was ihn stets halten wird, wies den Akademisch-dramatischen Verein stützte: die Jugend und die Begeisterung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Muenchen.