Die Partei

Die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) ist eine summenkleine Partei. Sie hat nur etwas mehr als 600.000 Mitglieder. Nur etwas mehr als 600.000 Mitglieder bei einer Gesamtbevölkerung von mindestens 150 Millionen.

Es gibt Orte, zum Beispiel im Norden Russlands, größere Orte, mit nur wenigen Kommunisten.


Trotzdem herrscht die Kommunistische Partei Russlands. Sie beherrscht zwar nicht alle Seelen Russlands, aber der Verwaltungsapparat, die Armee ist in Händen der Bolschewiki.

Nicht viel mehr als 600.000 Menschen herrschen tatsächlich in Sowjetrussland. Augenblicklich noch viel weniger als 600.000 Menschen, denn ein großer Teil der Parteikommunisten, vielleicht der größte Teil, ist an der Front. Moskau beispielsweise wird nur von wenigen Kommunisten verwaltet. Nie zuvor hat ein Regime mit so wenig Menschenkräften geherrscht.

Das muss Gründe haben, stichhaltige Gründe, Schwergründe. Ein Volk von 150 Millionen Menschen erträgt nicht ohne weiteres und nicht lange, nicht Jahre hindurch die Herrschaft einer solchen Minderheit. Ein Volk hat immer die Kraft, eine Minderheitsherrschaft zu beseitigen, wenn es den Beseitigungswillen hat.

Der Beseitigungswille fehlt in Russland. Weshalb fehlt er? Weil kein Mensch weiß, was an die Stelle der Bolschewiki treten soll, wer das Amt übernehmen soll und wie das Amt wesentlich anders ausgeübt werden soll.

Viele Leute in Moskau sprechen von Denikin mit Inbrunst. Aber wenn man sie fragt, was denn Denikin Besseres bringen würde, so schweigen sie. Sie wissen es nicht und sie können es auch nicht wissen, denn keine Partei, kein Machtinhaber könnte wesentlich anderes bringen, wesentlich Besseres bringen als die Bolschewiki.

Ich fahndete nach der Ursache, nach den Ursachen. Denn das ist für die ganze Welt ein Problem von ungeheurer Bedeutung, Ich fahndete besonders nach den ökonomischen Ursachen. Ich fahndete unvoreingenommen danach, wirklich voraussetzungslos. Ich kam zu folgendem Schluss:

Die Übernahme der Macht durch die Bolschewiki war weiter nichts als die Firmierung und die Weiterorganisierung eines Zustandes. Sie war weiter nichts als der Ausbau einer schon bestehenden Organisation zur Überwindung der ungeheuren Landesschwierigkeiten mit Hilfe der Kraft des Proletariats. Alles andere war Begleiterscheinung. Begleiterscheinungen, die man billigen oder nicht billigen kann, aber es waren keine wesentlichen Erscheinungen. In meinem Buche ,,Wirtschaftsorganisation Sowjetrusslands“ werde ich den Erklärungsversuch, den Begründungsversuch für diese Tatsache machen. Ich erkannte deutlich den Charakter dieser Revolution, die wahrhaftig nur eine Mussrevolution gewesen ist. Allerdings eine Mussrevolution geführt von energischen Menschen mit Augen für die Gelegenheit.

Das war die Ursache der Machtergreifung und auch schon die Anfangsursache der Machtbefestigung. Befestigt, wirklich befestigt wurde die Macht dann durch Taktik, nach einem zwar grundsatzfesten, aber schmiegsamen Programm, über das augenblicklich wieder viel Unsinn verbreitet wird. Mit einem sozusagen kommunistisch realpolitischen Programm, kommunistisch-diplomatischen Programm.

Die Diktatur des Proletariats, die die Kommunistische Partei Russlands proklamiert hat, ist insofern wirklich eine Diktatur des Proletariats, als der allergrößte Teil des russischen Proletariats, des Industrieproletariats und der Kleinbauern die bolschewikische Verwaltungsform braucht. Auch der große Teil des Proletariats, der nicht der kommunistischen Partei mitgliedmäßig angehört. Andererseits ist es eine Diktatur der Kommunistischen Partei Russlands, die einfach versucht, die Notwendigkeiten der Entwicklung zu werten, auszunützen und zu organisieren. Das ist, in wenigen Sätzen, die ganze Ursache der Bolschewikenherrschaft.

Russland ist größtenteils nicht kommunistisch, aber es ist größtenteils sowjetistisch. Das ist das Geheimnis. Es gibt kein anderes System mehr, wenigstens nicht in diesem Augenblick und für lange Zeiten. Das System erfährt Biegungen, Abweichungen aus Realpolitik, über die viel Unsinn erzählt wird, aber das System selbst ist heute unausrottbar. Auch ein Zar könnte es nicht ausrotten. Er könnte nur ein Sowjetzar sein, und somit wäre er kein Zar. Man muss sich damit vertraut machen. Es ist so, es ist nicht anders, man kommt nicht herum, und Europa und Amerika schaden sich nur, wenn sie glauben, herumzukommen.

Vielleicht ist es möglich, die Kommunistische Partei Russlands von der Macht zu drängen und das eine oder andere anders zu machen als sie. Aber es ist nicht möglich, die Entwicklung zurückzubiegen. Sie ist so weit gediehen, daß sie nicht mehr zurückbiegbar ist. Oder aber das Land würde ein Chaos werden.

Die Kommunistische Partei Russlands greift in alles, programmisiert alles, stellt für alles Grundsätze auf, oszilliert mit Nebensätzen um die Grundsätze und sucht danach zu handeln. Sie ist wie ein Jesuitenorden, sie lässt nicht ab von den Hauptgrundsätzen, aber sie gibt nach mit Nebensätzen. Sie ist starr und biegsam, sie züchtet Staatsmänner und sie ist auf ihren Grundsätzen zu allerlei Konzessionen bereit.

Sie beherrscht die Stellenbesetzungen, die politische und wirtschaftliche Verwaltung. Sie beherrscht mit Wenigen die Armee. Eine Armee fügt sich nur Wenigen, wenn die Wenigen die Bedürfnisse der Armee als die Bedürfnisse des Landes erkennen. Es ist dabei ganz gleichgültig, im Augenblick ganz gleichgültig, ob Soldatenräte alter Kompetenz oder politische Kommissare bestehen.

Die Kommunistische Partei Russlands sucht die nationalen Beziehungen zu regeln, die Rechtsprechung, die Volksbildung, die religiösen Beziehungen, das gesamte wirtschaftliche Leben und die Sozialpolitik Sowjetrusslands.

Sie bedarf dazu einer wirklichen Disziplin. Sie muss eine Truppe sein. Eine Pioniertruppe und eine Durchhaltetruppe gegen alle die Widerstände, die noch vorhanden sind (auch darüber wird in diesem Buche noch gesprochen werden).

Deshalb siebt die Partei. Sie lässt nicht jeden hinein in ihre Front, sie sucht aus, sie prüft, sie beschließt die Aufnahme nur nach sorgfältiger Prüfung.

Denn die Partei könnte viel größer sein, wenn sie wollte. Viele wünschen den Beitritt, aber sie werden nicht aufgenommen. Sie wünschen ihn nicht der Verantwortung wegen, sondern der Stellung wegen.

Denn die Mitgliedschaft bedeutet eventuell die Übernahme wichtiger Posten. Sie bedeutet auch einen Schutz. Aber die Partei kann auf den wichtigen Posten nur Leute gebrauchen, die ihr mit dem Herzen angehören und mit voller Opferlust. Diese Leute nimmt sie auf und schützt sie auch.

Selbstverständlich wird es auch in der Kommunistischen Partei Russlands Herzabgewendete geben, Männer und Frauen, die positionsgierig sind oder schmeichlerisch und unterkriechsam. Davor ist keine Partei sicher, auch die Kommunistische Partei Russlands nicht. In Moskau wurde mir über das Vorhandensein derartiger Krankheitsstoffe in der Partei geklagt.

Die Kommunistische Partei Russlands hat die Macht übernommen. Prüft man die ökonomische Entwicklung Russlands in der Kriegszeit und besonders in der Kerenskizeit, so folgert man: keine andere Partei konnte in diesem Augenblick, im Oktober 1917, die Macht übernehmen, ohne das Land noch tiefer in die Katastrophe zu treiben.

Das sagten mir auch Nichtkommunisten in Moskau.

So ist nach meinen Moskauer Erfahrungen, kurz gesprochen, die Mission und das Wesen der Bolschewikimacht zu erklären.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Moskau 1920 - Tagebuchblätter