Abschnitt. 2

Wir legten uns nun schlafen; doch mochte es gegen 3 Uhr morgens sein, als ich von einem unwiderstehlichen Appetit geweckt wurde, den ich alsbald zu befriedigen beschloß. Ein junger Offizier aus Ansbach-Bayreuth wachte eben auch, fühlte ein gleiches Verlangen wie ich und stand mit mir auf, um mitten in der Nacht eine Suppe zu kochen. Brot fand ich noch in Menge; wir fachten die Glut des Ofens wieder an, stellten einen Topf mit Wasser hinein, und während dies kochte und mein junger Kamerad die Suppe, freilich nur mit ein wenig Salz gewürzt, fertig machte, kletterte ich auf den Ofen und nahm mir hier mittels eines elenden Messers den Bart ab. Man kann sich dessen Länge vorstellen, wenn man bedenkt, daß ihm seit Monden freies Wachstum gelassen worden, er daher mein Gesicht wie ein Wald von Haaren umgab. Darauf suchte ich mich seit ebenso langer Zeit zum erstenmal wieder rein zu waschen, was mir aber nur kümmerlich bei der oberen Hälfte des Gesichts gelang, die von Schmutz und Fett ganz bedeckt war. Sie bildete so einen grellen Abstich gegen die Leichenweiße der geschorenen Teile, so daß ich bei meinem herabgekommenen Zustand einem wandelnden Gespenste glich. Die Hände blieben gleichfalls noch sehr dunkel, nur wenn ich sie schloß, kamen weiße Ritzen darauf zum Vorschein. Doch war ich im ganzen genommen ziemlich befriedigt von dem Erfolg meiner Mühe, aß mit dem größten Appetit und schlummerte darauf wieder ein. Gegen Morgen ging ich in das Zimmer des Hausherrn, erhielt hier eine Mütze, die ich mir tief ins Gesicht rückte, und setzte mich, wie wir es verabredet hatten, hinter einen Tisch, anscheinend sehr mit Schreibarbeit beschäftigt. Mein Schafpelz leistete mir dabei treffliche Dienste, indem er meine übrige militärische Kleidung verbarg, und so hatte ich, besonders da ich auch meinen schönen Schnurrbart geopfert hatte, kein sehr verdächtiges Aussehen.
Richtig erschien, kaum graute der späte Wintermorgen, einer unserer Kosaken, trieb die Kameraden mit einem „ stopey Franzus“ von der Streu auf, rüttelte an C....., wiewohl vergebens, herum, und da er ihn für tot halten mochte, beraubte er ihn des letzten ihm gebliebenen Kleidungsstückes. Ohne den Kameraden Zeit zu lassen, sich mit etwas Brod zu versehen oder Abschied zu nehmen, trieb er sie von dannen, holte sich bei Herrn von Corries noch einen Schnaps, wobei er fragte, ob ich zum Hause gehöre, und als mein Wirt bejahte, ging er davon und war bald unseren Blicken entschwunden.
Wie pochte mein Herz, als man meine bisherigen treuen Gefährten so aus dem Hause jagte, dessen Dach mich selber gastfreundlich barg, wo ich nun meine Zufluchtsstätte, gleichviel auf wie lange, vor so bitteren Drangsalen gefunden hatte. Ich kann es nicht leugnen, daß ihr Schicksal mir Tränen auspreßte, die ich bisher nicht meinem eigenen geweint, und ich blieb, den Kopf auf den Tisch gelehnt, tief in Gedanken der schmerzlichsten Art versunken. Da weckte mich plötzlich aus demselben ein starkes Gepolter, dem ein heftiger Niederschlag folgte. Es schien aus der Küche zu kommen, und als man dem Orte zueilte, fand man den Backtrog umgestürzt, hinter welchem sich soeben unser junger Ansbach-Bayreuther hervorarbeitete. Wir waren alle ziemlich überrascht, lachten dann herzlich über des jungen Mannes Hilfsmittel; doch Herr von Corries nahm die Sache gar nicht so leicht, behauptete, den jungen Offizier nicht dabehalten zu können und traf Anstalten, ihn dem Transport nachzuschicken. Aber dieser, voll Witz und Laune, nahm den alten erzürnten Herrn beiseite, bekannte ihm, daß er sich nur für einen Offizier ausgegeben, wirklich aber nur Gemeiner und in seiner Heimat Knecht gewesen sei, und daß er dem Herrn von Corries für Brot und Wohnung in gleicher Eigenschaft ohne weiteren Lohn dienen wolle. „Können Sie dreschen?“ war die Frage des Gutsbesitzers, die mit einem überzeugenden „Jawohl“ beantwortet wurde, und nach einigen weiteren Worten war der Handel abgemacht und an die Stelle der höflichen Anrede trat das für den neuen Stand des Bayreuthers gebräuchliche „er“.
Ich merkte den Schalk hinter der treuherzigen Rede gar wohl, doch hütete ich mich, etwas zu sagen, auch sollte es nicht lange dauern, daß Herr von Corries enttäuscht ward. Am nächsten Tage trat er zu seinem neugeworbenen Knecht, gab ihm einen Flegel in die Hand und schickte ihn zum Dreschen. Da nun aber der junge Offizier alles in der Welt eher verstehen mochte als dies ländliche Geschäft, trat er seinem Brotherrn lächelnd näher und sagte: „Verzeihen Sie, Herr von Corries, ich täuschte Sie, ich bin allerdings Offizier und verstehe nichts von der Arbeit, welche Sie mir soeben übertrugen.“ – „Aber wat denn, wat is denn det,“ fiel der Hausherr zornig ein; doch er wurde von unserm lauten Lachen überstimmt, das sich wie im Chor in ziellosen Ausbrüchen Luft machte. Was wollte der alte Papa tun? Er mußte seinen Pflegling wider Willen dabehalten, nannte ihn von nun an wieder „Sie“, doch hielt es der junge Mann nicht lange mehr aus; er zog bald von dannen, sein Glück aufs neue zu versuchen, und ich habe nicht wieder von ihm gehört.
Mein rechter Fuß, den ich auf der Flucht erfroren hatte, begann nun fürchterlich anzuschwellen, während er mir zugleich heftige Schmerzen verursachte, und endlich stiegen diese zu einem so unerträglichen Grade, daß ich es nicht mehr auszuhalten vermochte. Die alte Tante wurde zu Rate gezogen; sie erklärte jedoch sogleich, daß der Brand bereits in den äußersten Gliedern der drei ersten Zehen enthalten sei, und daß es da keines langen Besinnens bedürfe. Auf der Türschwelle wetzte sie nun ein gewöhnliches Messer und machte sich herzhaft daran, das von dem Brande ergriffene Fleisch, welches von einem pestilenzialischen Geruch war, von den Knochen abzulösen. Es war dies wirklich ein Liebesdienst, wie ihn nur wenige Frauen geleistet haben würden. Doch gelang ihr sehr bald die Operation, nach welcher die Knochen frei und spitz stehen blieben. Weiter vermochte sie nichts zu tun; doch fand sich sehr bald wildes Fleisch. Wir ätzten dies mit Tabakssaft, der nun aber wieder, obgleich er das eine Übel milderte, den Fuß fürchterlich anschwellen ließ.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812