Abschnitt. 3

Meines kranken Kameraden Zustand war mittlerweile derselbe geblieben. Er lag fortwährend in völliger Besinnungslosigkeit, aus welcher ihn die alte mitleidige Tante nur von Zeit zu Zeit durch irgend eine kleine Erquickung zu ermuntern strebte, bis am fünften oder sechsten Tage nach unserer Ankunft eine Krisis eintrat, die seine kräftige Natur glücklich überwand. Nach dieser Zeit erholte er sich trotz unserer dürftigen Kost und der unvollkommenen Pflege mit einer Schnelligkeit, die ans Unglaubliche grenzte, und bald war er imstande, sein Lager zu verlassen und gleichfalls ein Bewohner der Herrenstube zu werden. Diese war zugleich unser gemeinschaftliches Schlafzimmer, die Einrichtung sehr dürftig, da sie nur aus wenigen Möbeln und zwei Betten bestand. Eins gehörte den jungen Leuten, war mir von ihnen aber gegen die Streu abgetreten, und das andere dem Hausherrn. Über diesem war ein Brett angebracht, auf dem verschiedene Gegenstände ihren Platz fanden, die dem Besitzer gerade zur Hand sein mußten. Darunter nahm die erste Hauptstelle ein Taschenbuch ein, aus dem der gute einfache Mann, stets angewiesen auf den kleinen Raum, der ihm zum Wohnplatze diente, seine ganze Weisheit und Erfahrung geschöpft hatte. Dieses Buch ward, wenn die Langeweile aufs höchste stieg, zur Hand genommen, und wenn wir daraus auch keine große Unterhaltung schöpfen konnten, so gab sein Inhalt doch oft den Anlaß dazu.
Unsere Erzählungen belustigten unsern einfachen Wirt außerordentlich; seine Verwunderung erreichte aber den höchsten Grad, wenn wir den vorgelesenen Wundern einige weitere Erklärungen oder einige ausführlichere Beschreibungen beizufügen vermochten. Bald kannte er gar kein größeres Glück, als uns zuzuhören; aber unser Stoff begann endlich auszugehen, worüber unser Herr von Corries ganz trübsinnig ward. Um nun dem Mangel abzuhelfen, nahm mein Kamerad die Phantasie zu Hilfe und erzählte Abenteuer und Ereignisse, daß die Balken hätten krachen mögen. Gleichwohl fand er ein sehr andächtiges und, wie es bei den einfachen Menschen, unter denen wir lebten, nicht anders zu erwarten war, ein sehr gläubiges Publikum; denn auch die Frauen des Hauses lauschten in der halbgeöffneten Tür der Nebenstube mit einer Andacht, die zu belustigend war, als daß man immer seine Fassung hätte dabei behaupten können. Oft lachte ich auf meinem Schmerzenslager, daß ich mich schüttelte, wenn ich den jungen schönen Mann in erhöhter Kraft wiedergewonnener Gesundheit mit großen Schritten in seinem abenteuerlichen Aufzug umherschreiten sah, und ihn in jugendlichem Übermut seine Odysseen mit einer wahren Stentorstimme vortragen hörte. Oft ließen sie einem wirklich die Haare zu Berge steigen, diese Erzählungen; aber da sie gut vorgetragen wurden, ließ man sich die Kurzweil schon gefallen.
Eine neue Entdeckung trug wesentlich dazu bei, die Gunst, in welcher mein Freund schon bei dem Hausherrn stand, um ein Bedeutendes zu erhöhen. In jenem Allerleibuch nämlich war auch von Freimaurerei die Rede, und als wir dieses Kapitel gelesen hatten, bemerkten wir, daß unser Wirt den Mitgliedern jenes geheimnisvollen Bundes wenigstens einige übernatürliche und viele preiswürdige Eigenschaften beimaß. Zufällig also erfuhr er nun, daß mein Freund ebenfalls jenem Orden angehörte, weshalb dieser in der Achtung des alten Herrn wenigstens um das Zehnfache stieg, so wie diese Entdeckung wesentlich dazu beitrug, seine Gläubigkeit in betreff von C...s Erzählungen zu vermehren. Er würde es sogar sehr übel vermerkt haben, wenn jemand von seinem Hausstande den mindesten Zweifel in diese unglaublichen Geschichten gesetzt hätte.
Wirklich waren es diese Erzählungen aber auch nur allein, welche mir selber die trübe Einförmigkeit meines Lebens erträglich machten, von dessen traurigem Verlauf man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Frühmorgens, nachdem wir aufgestanden waren, erschien unsere Suppe, die in regelmäßiger Abwechselung einmal aus Kartoffeln, das andere Mal aus grauen Erbsen bereitet war, zu welcher wir so viel trockenes Brot essen durften, als uns beliebte. Nach deren Genuß zündeten wir unsere Pfeifen an, mit denen wir die Zeit bis zum Mittagessen hinbrachten, welches abermals entweder aus grauen Erbsen oder Kartoffeln bestand, denen manchmal ein Stück Fleisch oder Speck beigemischt war. Da nun mein armer Kamerad nicht rauchte, so fehlte es ihm selbst an diesem Lückenbüßer, mit welchem wir abermals uns bis zum Abendbrot die Zeit vertrieben. Es wurde regelmäßig um 4 Uhr aufgetragen und bestand wieder aus einer Suppe und aus trockenem Brot, welches einer wie der andere aß. Bald darauf legte unser Herr von Corries sich zu Bette, und da uns nichts anderes übrig blieb, wir uns auch. Jetzt trat die rechte Stunde des Erzählens ein; doch wurde sie oft sehr abgekürzt, indem Herr von Corries, das dünne Dreierlicht ausblasend, sagte: „Meine Herren, det Vertellen jeht och in Finstern!“ Nun aber erhob sich die Opposition von allen Seiten; jeder schwur nun Stein und Bein, kein Wort mehr sprechen zu wollen, bis das Licht wieder angezündet sei, und in unserm Unmut und der Bosheit unsers Herzens kehrten wir uns denn auf die andere Seite und schliefen ein. Dieser Schlaf dauerte indessen nicht lange; wir wachten bald wieder auf, einer weckte den andern, und Herr von Corries ward ersucht, nach der Uhr zu sehen. Bei der spärlichen Helle, welche die Funken von etwas Stahl und Stein hervorbrachten, suchte der gutmütige Mann unsern Willen zu erfüllen, und in der Regel ward uns dann die trostlose Nachricht: „10 Uhr, meine Herren!“ – Was war zu tun? Schlafen konnten wir nicht, aufstehen noch weniger, so ging es denn an unser letztes Auskunftsmittel; Herr von Corries bot eine Pfeife an, die er mir selbst, wenn ich im Unmut aufzustehen mich weigerte, angezündet brachte. Natürlich war er dabei im höchsten Grade interessiert; er wußte, daß, wenn nur erst geraucht, auch bald erzählt würde, und weiter wünschte er nichts. Wirklich ging es auch nicht anders; wir plauderten eine Weile fort, bis der Schlaf, ein willkommener Tröster, uns wieder beschlich.
Am Neujahrstag ward uns vom Wirt mit großer Feierlichkeit angekündigt, daß wir einen herrlichen Genuß haben würden, indem es heute ausnahmsweise Kaffee mit Süt und Weißbrot zum Frühstück gäbe. Wirklich erschien ein Eichelkaffee mit Honig, dem ein selbstverfertigtes Gebäck beigegeben war, welches uns herrlicher als Marzipan schmeckte. Der Hausherr war sehr guter Laune und, sich ganz vergnügt über sein gutes Frühstück die Hände reibend, wandte er sich an seine Frau und sagte: „Ja, ja, Muderke, dat schmeckt prächtig, aber wenn de Schepel Korn erst wedder ‘n Gulden kost’t, denn wolle ‘w mal wedder echten Kaffee drinken!“ – Jetzt kaufte man ihn zu vier Groschen, woraus sich die Armut jener Gegend erklären läßt! –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Mit der großen Armee 1812