Der Londoner Altar

Das South-Kensington-Museum hat den Apokalypsenaltar Meister Bertrams 1861 in Brüssel erworben. Wie er dorthin gelangt ist, in welcher hamburgischen Kirche oder wo sonst er seine Heimat gehabt haben mag, kann ich noch nicht sagen. Vielleicht lässt es sich noch einmal erraten aus der Zusammenstellung der Heiligen, deren Legende erzählt wird.

Die äußere Erscheinung des Altars stimmt genau mit dem bei Bertram bekannten Typus. Da keine Skulptur angewandt ist, fehlt auch jede Architektur. Doch sind die Rahmen oben durch ein Zierbrett bekrönt. Von den Rahmen ist keiner vergoldet, auch die der Innenseiten nicht. Sie gleichen mit ihrem Ornament von Rosen und Lilien genau den äußern Rahmen des Buxtehuder Altars, nur dass die Abfasung ein wenig breiter verläuft. Die Schmuckleiste, die den oberen Abschluss bildet, hat ein Rahmenprofil, das von den Profilen der hineingestellten Kreise angeschnitten wird. Als oberer Abschluss dient eine Zierform aus Drittelkreisen. — Ornamente füllen die Flächen zwischen den Kreisen, von den Kreisen werden Köpfe von Männern und Frauen auf Goldgrund eingerahmt. Die Stellungen dieser Köpfe wiederholen sich nirgend ganz genau und zeugen von sehr feinem Gefühl für Rhythmus und Gleichgewicht. So blicken auf den Flügeln die seitlichen beiden Köpfe im Profil nach innen, der mittlere geradeaus — das eine Mal mit erhobenem, das andere mit so stark gesenktem Kopf, dass das Gesicht in der Überschneidung verkürzt erscheint. Um dies ausdrücken zu können, hat der Künstler einen bärtigen Kopf gewählt. Einmal wird ein Kopf im Profil über den Rücken gesehen. Diese Reihe von Köpfen weist auf hohen dekorativen Sinn, wie überhaupt die schmückende Kraft des Altars sehr stark ist.


395 Die Verkündigung Mariä

Außen- und Innenflügel sind insgesamt mit 57 Darstellungen bedeckt. Die zwölf auf den Außenseiten behandeln verschiedene Legenden, die fünfundvierzig Innern die Apokalypse.

Von den zwölf Darstellungen der Außenflügel sind für uns je drei aus dem Marienleben und dem Leben der heiligen Büßerin Maria von Ägypten die wichtigsten. Die aus dem Marienleben, weil sie sich mit den Szenen auf den Altären in der Kunsthalle berühren, die drei der Maria von Ägypten, weil der Typus der Gesichter und Figuren und die Behandlung von Bäumen und Erdreich am deutlichsten die Hand Bertrams verraten.

Wo beim Grabower und Buxtehuder Altar die Nachahmung kostbarer Goldschmiedsarbeit die Darstellungen trennen, ziehen sich auf dem Londoner schmale, rein dekorativ wirkende Inschriften hin.

397 Der Tod der Jungfrau Maria

Die Verkündigung steht am nächsten der auf dem Grabower Altar, nur dass dem mehr quadratischen Felde angemessen die Figuren mehr Platz haben. Im einzelnen sind alle Bestandteile dieselben und alles befindet sich an derselben Stelle. Nur der Gestus der Maria ist neu und kommt auch auf den übrigen Darstellungen der Verkündigung bei Bertram nicht vor. Mit dem Rücken der Linken hält sie das Blatt im Gebetbuch angedrückt, die Rechte ist erschrocken und abwehrend mit der Fläche nach außen erhoben. — Die Inschriften der Spruchbänder gehören dem (belgischen?) Restaurator.

Tod und Krönung der Maria können als abgekürzte Wiederholungen aus dem Buxtehuder Altar gelten.

398 Die Krönung Mariä

Beim Tode der Maria ist die Gesamtanlage identisch, nur dass oben links und rechts neben der Mandorla kein Platz für die Engel bleibt, und dass einzelne Züge, wie das Befühlen des Leichnams aus demselben Grunde wegbleiben mussten. Ähnliches gilt von der Krönung. Für den Baldachin fehlte der Platz, auch die spielenden Löwen am Fuß des Thrones und die Engel um den Baldachin sind weggeblieben. Nur oben in den Ecken war für zwei musizierende Engel Platz.

399 Ein Engel bringt der heiligen Maria von Ägypten Speise. Engel tragen die heilige Maria von Ägypten im Gebet zum Himmel.

Die h. Maria von Ägypten, desselben Standes wie Maria Magdalena, war als Sünderin zum Osterfest nach Jerusalem gegangen. Als sie in den Tempel treten wollte, fühlte sie sich von unsichtbarer Macht zurückgestoßen. Sie tat Buße und begab sich als Einsiedlerin in die Wüste. Engel brachten ihr Brot und Gewand. Schließlich wuchs ihr so langes Haar, dass es den ganzen Körper einhüllte und das Gewand überflüssig machte.

Auf dem ersten Bild aus dem Leben der Maria von Ägypten werden zwei Szenen gegeben, was Bertram auf den andern Altären vermeidet. In der waldigen Einöde kniet sie links vor dem Engel, der ihr Brot und Gewand bringt. Auf einer Bergkuppe rechts tragen Engel sie im Gebet zum Himmel. Die Bewegung der Körper der Engel unter den straffen Gewändern ist überaus lebendig und entspricht genau der Art, die vom Buxtehuder Altar bekannt ist.

Dann findet der h. Zosimus, Priester und Einsiedler, die heilige Büßerin in der Einöde. Betend kniet die nackte Heilige vor dem Priester, der ihr im Bischofsgewande die Hostie reicht, in der Linken den Kelch haltend. Hinter ihm Kirchendiener, einer mit dem Krummstab, der andere mit der Kerze.

Auf dem letzten Bilde liegt der Leichnam der Heiligen nackt im langen Haar, die Hände gekreuzt über dem Leib unter den Bäumen im Walde. Zwei Engel schweben durch die Bäume herab und schwingen Rauchfässer. Oben tragen vier Engel ihre betende Seele in einem Tuch zum Himmel. Ein Engel musiziert dazu auf der Geige.

401 Der heilige Zosimus bringt der heiligen Maria von Ägypten das Abendmahl.
402 Der Tod der heiligen Maria von Ägypten

Die Anordnung dieser Bilder zeugt von dem seitenen malerischen Gefühl des Meisters. Er hat offenbar empfunden, wie stark der Gegensatz der nackten weiblichen Gestalt zu dem Bischof in seiner prunkenden Amtstracht wirkt, vor dem sie kniet. Den Oberkörper der Leiche lässt er dunkel gegen den goldenen Himmel silhouettieren, die Beine und Füße hell gegen das Dunkel des Waldes. Die Bäume und das Helldunkel des Waldes entsprechen genau den verwandten Darstellungen des Grabower Altars.

Die Untersuchung der übrigen Darstellungen des Altars, die nicht so unmittelbar überzeugend Bertrams Urheberschaft verraten, muss einer spätem Gelegenheit vorbehalten werden. Für den Augenblick kommt es nur darauf an, die Zugehörigkeit nachzuweisen.

In den drei Bildern aus dem Leben der h. Maria von Ägypten offenbart sich das Raumgefühl und die Naturfreude des Künstlers. Der Legende von dem Büßerleben der heiligen Einsiedlerin entsprechend, nimmt die Landschaft sehr breiten Raum ein. Die Figuren stehen so frei in der Landschaft, dass sie wenig, einmal überhaupt nicht mehr mit dem Goldgrund in Berührung kommen. Die Bäume sind im Verhältnis zum Menschen noch zu klein, wirken aber doch schon durchaus als Wald.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415
395 Verkündigung Mariä

395 Verkündigung Mariä

397 Der Tod der Jungfrau Maria

397 Der Tod der Jungfrau Maria

398 Die Krönung Mariä

398 Die Krönung Mariä

399 Ein Engel bringt der H. Maria von Ägypten Speise

399 Ein Engel bringt der H. Maria von Ägypten Speise

401 Der H. Zosimus bringt der H. Maria von Ägypten das Abendmahl

401 Der H. Zosimus bringt der H. Maria von Ägypten das Abendmahl

402 Der Tod der H. Maria von Ägypten

402 Der Tod der H. Maria von Ägypten

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