Meister Bertrams künstlerische Persönlichkeit

Das sicherste Mittel, den Eigengehalt eines Künstlers zu bestimmen: der Vergleich mit dem Zustande der Kunst, die er vorfand, versagt vorläufig bei Bertram.

Wir können jedoch daraufhin der Frage nicht ausweichen, ob es andere Stützpunkte für eine Triangulation seines Wesens gibt.


Bei der außerordentlich großen Zahl gesicherter Werke seiner Hand sind wir in der Lage, Untersuchungen anzustellen und Schlüsse zu ziehen, die nicht zu rechtfertigen wären, wenn wir zwei oder drei Bilder vor uns hätten, und der zeitliche Abstand, der sich wenigstens zwischen den beiden Hauptwerken, dem Grabower und dem Buxtehuder Altar nachweisen lässt, gewährt Einblick in seine Entwicklung.

Eine Untersuchung der Lebensarbeit des Meisters hinterlässt die Vorstellung einer sehr geschlossenen Persönlichkeit. Wie Bertram den äußern Menschen sieht und den Innern erraten lässt, wie er das Drum und Dran der Kleidung und der Häuslichkeit schildert, wie er für Tier und Pflanze eine so lebhafte Zuneigung fühlte, dass er in ihrer Wiedergabe selbst der Nachwelt zu viel tat und von seinem unmittelbaren Nachfolger, dem großen Meister Francke nicht begriffen wurde, wie er Farbe fühlt und mit Mitteln ausdrückt, die weder zu seiner Zeit versucht wurden noch bei seinen Nachfolgern, soviel ich heute sagen kann, zu beobachten sind, das lässt sich ohne Zwang als eine Gruppe von wesensgleichen Lebensäußerungen einer in sich selbst ruhenden Natur auffassen.

Dieser unmittelbare Eindruck überhebt uns allerdings nicht der Nötigung, nachzuprüfen, ob das alles nicht doch aus anderer Quelle stammen könnte.

Doch zeigt die Untersuchung des Tatbestandes, dass schon die Annahme, Meister Bertram habe das Wesentliche seines Besitzes entlehnt, sein Bild bis zur Unkenntlichkeit verwirrt.

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat er bei einem einzelnen Lehrer oder Vorbild geborgt, oder er hat aus verschiedenen Meistern und Schulen zusammengetragen.

Hätte er sich an einen Meister gehalten, so müßte er sein Leben lang dessen Entwicklung getreulich verfolgt haben, denn der Buxtehuder Altar, der spätere, ist in jedem Zug eine Weiterbildung der menschlichen und künstlerischen Probleme des Grabowers. Wie wäre ein solcher Vorgang zu denken? In Hamburg, wo die gewaltigsten Aufgaben Bertram zufielen, war für diesen größern Meister kein Platz. Saß dieser in einer andern Stadt, wie hat man sich dann die fortlaufende Verbindung zwischen Bertram und ihm vorzustellen? Und wie kommt es, dass alleSpuren von ihm fehlen, wo auch andere ihn sicher benutzt hätten? Überdies kennen wir mit Sicherheit kein Beispiel einer solchen Gefolgschaft, die durch ein Lebensalter andauert. Der Typus des in der Abhängigkeit verharrenden Schülerverhältnisses sieht anders aus. Nun kommt hinzu, dass dies Vorbild zur selben Zeit und in derselben Reihenfolge genau dieselben seltenen Stoffe wie Bertram hätte in Auftrag bekommen müssen, die Geschichte des alten Testaments, das Marienleben, die Apokalypse. Die Entlehnung aus einer Quelle ergibt sich somit zum mindesten als höchst unwahrscheinlich.

Wird angenommen, Bertram hätte sich bei verschiedenen Meistern Rat geholt, so erscheint das Problem noch verwickelter. Er müßte den verschiedensten Meistern genau dasselbe, seiner Natur gemäße ausgewählt und in der Bearbeitung zu etwas Einheitlichem verschmolzen haben.

Auch dieTatsache der Entwicklung steht bei Bertram einer Entlehnung aus verschiedenen Quellen entgegen. Nur eine sehr selbständige Natur schreitet in der Entwicklung vorwärts. Der Handwerker, der Akademiker bleiben stehen bei dem, was sie einmal oder zweimal gelernt haben, oder sie verkümmern. Beispiele aus älterer Zeit und aus unsern Tagen gibt es die Fülle.

Schließlich wäre es wahrscheinlich, dass er, als Entlehner angenommen, es sich bequem gemacht hätte, wenn er zwei oder mehrmal denselben Gegenstand zu behandeln gehabt hätte. Das liegt aber nicht vor. Selbst wenn er viermal oder fünfmal dieselbe Aufgabe zu lösen bekommt, schafft er jedesmal neu, auch wo er ein Motiv nur in Einzelheiten abwandelt.

Während eine Entlehnung nicht nachgewiesen und nicht wahrscheinlich zu machen ist, fällt auf der andern Seite auf, dass sich schon bei der noch nicht zureichenden Denkmälerdurchforschung der letzten Jahre in Göttingen, in Lübeck, inDoberan, in Wismar-Tempzin unverkennbare Spuren der Nachahmung seiner Werke gefunden haben. Bei der geringen Zahl der erhaltenen Werke fällt diese ins Gewicht für die Wahrscheinlichkeit, dass wir es bei Bertram mit einer ausgesprochenen Künstlerpersönlichkeit zu tun haben.

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Wir besitzen nun noch ein anderes Mittel, Bertrams Eigengehalt zu erschließen.

Die zehn großen Bilder Franckes, die die Kunsthalle besitzt, sind an demselben Ort entstanden, der die Hauptwerke Bertrams besaß, und Francke war, das ist in der Monographie über ihn nachgewiesen, kein in reifer Meisterschaft Zugewanderter, sondern hat in Hamburg mindestens einige Jahrzehnte gewirkt. Auch muss er, wenn nicht in Hamburg geboren, doch jung sich hier angesiedelt haben. Denn ein weiter Entwicklungsabstand trennt den frühen Christus als Schmerzensmann von dem spätem, und dazwischen fällt der Thomasaltar von 1424.

Da nun Francke in der kleinen Stadt sicherlich die Werke Bertrams gekannt hat, kann bei der Bestimmung von Bertrams Charakter das Verhältnis der beiden Meister befragt werden. Hat Francke übernommen, hat er Gedanken von Bertram weiter gebildet?

Am raschesten führt der Vergleich der Bildbestandteile zum Ziel, in denen sich die Entwicklung besonders augenscheinlich vollzieht, der Landschaft und der Tierdarstellung. Anderthalb Menschenalter — genau 45 Jahre — liegen zwischen Bertrams Grabower Altar von 1379 und Franckes Thomasaltar von 1424.

Auf dem Grabower Altar ist bei der Erschaffung der Pflanzen der ganz ergreifend groß gefühlte Wald dargestellt, der in mehr als einem Zusammenhange betrachtet werden muss. Es ist durchsichtiges Helldunkel unter den dick belaubten Kronen, in denen Luft und Licht spielen, und deren Darstellung unserem Empfinden gar nicht fremd geworden. In allem Wesentlichen hat das siebzehnte Jahrhundert den Wald nicht stärker ausgedrückt. Das Grün des Baumschlags hat eine Vornehmheit, die an Constable gemahnt.

Die künstlerische Arbeit von fünfundvierzig Jahren bis 1424, sollte man meinen, müsste die hier eingeschlagene Fährte weiter verfolgt und eine Vollendung erreicht haben, die mindestens der Landschaft des Genter Altars gleich käme.

Aber auf den Feldhölzern im Hintergrund der Geburt Christi bei Francke fehlt jede Erinnerung an Bertrams Eindringlichkeit. Die Stämme sind ganz gleichartig und gleichmäßig, einer in Form und Farbe genau wie der andere, dunkel auf den gleichmäßig hellen Grund gemalt. Keine Spur Helldunkel oder Raumtiefe unter den Kronen; diese selbst bleiben ungegliedert, eine verfließende Masse, der Baumschlag ganz naturfern.

Wer Bertrams und Franckes Walddarstellung nach einem Ausschnitt dieser Bilder zu datieren hätte, würde ohne Zweifel die Zeitfolge umkehren.

Ebenso verhält es sich mit der Tierdarstellung. Gegen die Charakterisierung des Schwans, der Fische, des Hummers, der Säugetiere auf der Erschaffung der Tiere von 1379, gegen die Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit der Tierdarstellungen auf dem Marienleben Bertrams erscheinen die Schafe auf der Geburt Christi bei Francke gänzlich schematisch. Es ist, als ob sie mit einer einzigen Schablone mit dem Kopf bald nach links, bald nach rechts aufgetragen wären.

In beiden Fällen zeigt der jüngere Künstler keinen Sinn für die fortgeschrittene Beobachtung und sachliche Vertiefung seines Vorgängers. Seine Neigungen führen ihn andere Wege.

Die Erscheinung ist auch an sich sehr wichtig, dass eine Leistung wie die Landschaften und Tiere Bertrams von 1379 noch 1424 von einem sehr großen Nachfolger nicht verstanden oder doch nicht beobachtet, jedenfalls nicht nach ihrer Bedeutung geschätzt werden. Wir haben dasselbe in einer ähnlichen Entwicklungszeit erlebt, dem 19. Jahrhundert, wo in Deutschland die Bedeutung der Neuerungen von Friedrich und Runge 1810 erst nach 1890 als solche wiedererkannt, von der Entwicklung der Zwischenzeit jedoch nicht oder kaum beachtet worden sind.

Dass Bertram 1379 Landschaften und Tiere malt wie die auf dem Grabower Altar, muss wohl als ein starker Beweis für seine künstlerische Selbständigkeit sein. Nur die unmittelbare Berührung mit der Natur, die selbständige Beobachtung, ergibt in ringenden Zeiten solche Kunst. Wer eine Tierform, eine Landschaft einem anderen entnimmt, sieht nicht so genau zu und versteht nicht alles. Was wird später bei Dürer und Burgkmair aus der Palme, aus dem Drachenblutbaum, die Schongauer wie für ein wissenschaftliches Lehrbuch nach der Natur studiert hatte, und die sie von ihm übernahmen? Und sollte Bertram, der noch kein unmittelbares Studium der Natur kannte, Landschaften und Tiere von andern genau kopiert haben? Denn dass es vor ihm einen Künstler gegeben hätte, nach dessen Werk der Wald auf dem Schöpfungsbilde bei Bertram nur eine flüchtige unzureichende Erinnerung sein könnte, widerstreitet unsern Erfahrungen. Der Altar des niederländischen Meisters Broederlam in Dijon hat 1394 zwar Architektur, Weg und Wasser in der Landschaft, aber seine Bäume sind nicht so gut wie bei Bertram und ein Wald wie der auf dem Grabower Altar findet sich bei Broederlam nicht vor. Die Schlüsse, die sich daraus ergeben, liegen auf der Hand.

Nun kann aber nicht leicht ein Künstler in Nebendingen so frei und groß schalten, wie Bertram mit Tier und Landschaft, und dabei in allem andern unselbständig sein. Es ist ein Zeichen großer persönlicher Freiheit, wenn ein Künstler des vierzehnten Jahrhunderts eine Landschaft malt wie die Verkündigung an die Hirten des Buxtehuder Altars.

Zu ähnlichen Ergebnissen führt ein Vergleich der Technik Bertrams und Franckes.

Bei Bertram kommen sehr auffallende Ausdrucksmittel vor. Der Grabower Altar lässt sie an zwei oder drei Stellen erst ahnen. Auf dem Buxtehuder Altar jedoch verwendet er ganz bewusst gewisse Mittel des Pointillismus, um einen Farbenton zu erzielen, der sich auf der Palette in der angestrebten Kraft nicht mischen lässt. Auf der Krönung der Maria bedeckt er das Feuerrot eines Futterstoffes mit kleinen gelben Punkten, die auf zwei Schritt Entfernung schon verschwimmen; auf dem Christusknaben im Tempel behandelt er das Mennigrot einer Jacke ebenso. Gelegentlich gibt er einem Gelb durch kaum sichtbare weiße Haken den Ton, den er will, oder er spinnt über ein Karmin das Netz einer zarten weißen Schraffierung.

Soweit ich beobachten konnte, finden sich diese Mittel bei keinem Zeitgenossen oder Vorgänger. Freilich habe ich sie erst erkannt, als ich im Sommer 1905 die gereinigten Gemälde in der Kunsthalle studieren konnte. Vielleicht — doch glaube ich es nicht — habe ich sie bei andern übersehen.

Meister Francke aber verwendet keins von all diesen Mitteln, obwohl er ihre Wirkung bei Bertram beobachten konnte. Nun kommt noch hinzu, dass Bertram im Ringen mit den grundlegenden Problemen des Raumes (der Perspektive) nicht nur in Anrechnung des Zeitabstandes, sondern absolut genommen weiter vorgerükt ist als Francke. Eine Perspektive wie die des Thrones auf der Krönung Maria, wo der Linie schon die Luftperspektive zu Hilfe kommt, ein Raumgebilde von solcher Geschlossenheit und Klarheit wie die Ecke des Paradieses auf der „Verwarnung“ des Grabower Altars, eine so völlig von allen Fesseln der Flächenkunst losgelöste Gruppierung von Figuren im Raum wie die des Adam und der Eva auf demselben Bilde findet sich bei Francke nirgend.

Alles dies gibt uns ein Recht, bis auf weiteres Meister Bertram aus sich heraus zu erklären.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415