Meister Bertrams Entdeckung

Die Entdeckung des ältesten deutschen Malers und Bildhauers, dessen Namen, Leben und Werke wir kennen, ist reich an überraschenden Wendungen und unvermuteten Glücksfällen.

Aber wenn wir jetzt, wo ein Abschluss erreicht scheint, die mehr als sechzig Jahre stiller Forschung überblicken, dürfen wir uns gestehen, dass bei aller romanhaften Seltsamkeit ihres Verlaufs eigentlich nirgends der Zufall gewaltet hat, dass kein Ereignis hätte eintreten oder fruchten können, wenn nicht von Anfang an in der stetigen Weiterführung der Arbeit etwas wie ein fester Wille wirksam gewesen wäre, der auf ein ursprünglich nicht geahntes, nach und nach langsam aufdämmerndes, von einem bestimmten Zeitpunkt dann plötzlich in blendender Helle erkennbares Ziel hinstrebte.


Es ist der Wille der heutigen Wissenschaft, die umsichtig Tatsachen sammelt, prüft und ordnet, bis die Stunde kommt, wo Baustoffe daraus werden.

Diese entscheidende Wendung trat im Jahre 1900 ein, als Friedrich Schlie zur allerhöchsten Überraschung der wenigen, die sich damals um norddeutsche Kunst kümmerten, auf dem Kunsthistorikerkongress in Lübeck verkündigte, dass der umfangreiche Altar zu Grabow in Mecklenburg, der nach der mündlichen Überlieferung aus Lübeck stammen sollte, als ein Geschenk nicht von Lübeck, sondern von Hamburg nach dem großen Grabower Brande 1731 gestiftet war.

Es war kein Zufall, dass einer der Pastoren der Kirche zu Grabow auf den Gedanken gekommen, die Akten über den Fall zu prüfen. Schlies großartiges Werk über die Altertümer Mecklenburgs, das durch die Unterstützung einer einsichtigen Regierung wirklich in alle Häuser dringen konnte, hatte überall im Lande zu Nachforschungen angeregt.

Das Ergebnis hat Schlie noch selber im christlichen Kunstblatt veröffentlicht:

Der Altarschrein in der Stadtkirche zu Grabow in Mecklenburg. Kein Lübecker, sondern ein Hamburger Werk.

„Es ist in kunstgeschichtlichen Kreisen bekannt, dass die bei Goldschmidt, Lüb. Malerei und Plastik, sowie im mecklenburgischen Denkmälerwerk, Bd. III, abgebildeten Altarschreine in den Kirchen der kleinen mecklenburgischen Städte Grabow und Neustadt, jener vom Jahre 1379, dieser vom Jahre 1435, zu den bedeutendsten niederdeutschen Kunstwerken des Mittelalters gehören. Beide Werke galten bisher als Geschenke der Stadt Lübeck an die genannten Städte nach zwei großen verheerenden Bränden, von denen der zu Grabow am 3.Juni 1725 und der zu Neustadt am 26./27. Juli 1728 stattfand. Aber erwiesen war dies nur von dem Schrein in Neustadt, den einstmals die St. Jakobi-Kirche zu Lübeck beherbergte. Von dem Schrein in Grabow dagegen wusste man nichts Sicheres, wenngleich es nach Mitteilungen in den Jahrbüchern für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde X, S. 318 und XXXVIII, S. 200 ff. den Anschein haben konnte, als wenn auch dessen Herkunft aus Lübeck zweifellos sei. Demgemäß hat denn auch Goldschmidt in seinem Buch über die Lübecker Malerei und Plastik bis zum Jahre 1530 keinen Anstand genommen, den Grabower Schrein als ein Hauptwerk lübischer Kunst anzusehen und zu charakterisieren. Ebenso hat der Verfasser zur Zeit der Herstellung seines dritten Bandes der mecklenburgischen Kunst und Geschichtsdenkmäler (S. 187) keine besseren Nachrichten gehabt. Aber dieser dritte Band gab bald nach seinem Erscheinen den Anlass, dass solche dem Verfasser zuteil wurden, und so ist es ihm möglich gewesen, noch in dem Nachtrage zur zweiten Auflage des dritten Bandes darauf hinzuweisen (S. 726). Auch hat er davon bereits den Mitgliedern des kunsthistorischen Kongresses in Lübeck eine kurze mündliche Mitteilung gemacht (Offiz. Ber. S. 31). Es liegt ihm daher nur noch ob, die besseren Nachrichten selbst, die dem Herrn Präpositus Sostmann in Grabow zu verdanken sind, hier zu veröffentlichen. Es sind „einige merkwürdige Nachrichten von der Kirche zu Grabow“ im Archiv der dortigen Kirchenökonomie, angeblich von der Hand des im Jahre 1802 in den Dienst eingetretenen Kirchenökonomus Müller nach ihm vorliegenden älteren Schriftstücken aufgezeichnet. Sie lauten, soweit sie liier in Betracht kommen, folgendermaßen:

„1731, den 9. Februar, das Altar von Hamburg und den 10. in der Kirche gebracht. NB. Hinter dem Berge Golgatha 1596. Am Altare stehet die Jahreszahl, wann solches verfertigt worden, nämlich 1379. Herr Johann Helwig Gerdes aus Hamburg, welcher dieses Altar von der St. Petri-Kirche in Hamburg aus Liebe für unsere Kirche losgebeten, auch die Reparatur-Kosten alldort verschaffet und in seinem Hause repariren lassen, auch anhero selbst gebracht. Das Fuhrlohn kostet 55 fl. 12 ½ S.“

Dazu folgt hier eine 1869 von dem derzeitigen Kirchenökonomus Fr. Dunckelmann gemachte Aufzeichnung über die in diesem Jahre vorgenommene Restauration. Sie lautet:

„Das Altarblatt (Altarschrein) in der hiesigen Kirche ist restauriert vom Maler Greve in Malchin unter Leitung des H. Geheim-Archivrats Lisch in Schwerin im Jahre 1869. Dasselbe trägt die Jahreszahl hinter der Mittelgruppe auf dem Kreidegrund der Wand: Ano dni m • c • c • clxxix (1379)

Hinter dem Berge, auf dem das Kruzifix steht, steht I • R • A • O • 1596.“

Grabow 1869. Gez. Fr. Dunckelmann, Kirchen-Ökonomus.

Durch diese aktenmäßige Mitteilung ist somit erwiesen, dass das wertvolle Werk eine der wichtigsten Grundlagen für die Hamburger und nicht für die Lübecker Kunstgeschichte bildet. Möge es den Archivaren der Stadt Hamburg, denen ein reiches lokalgeschichtliches Urkunden- und Aktenmaterial aus alter und ältester Zeit zu Gebote steht, gelingen — und schon läuten die Glocken davon! — , für dies Werk ebenso einen zu einer lebendigen geschichtlichen Persönlichkeit werdenden Meister mit sicherem Namen zu entdecken, wie den Meister Francke aus dem ersten Viertel des XV. Jahrh. als Schöpfer jenes Schmerzensmannes im Hamburger Museum, der ohne alle Frage zu den herrlichsten Inkunabeln des Mittelalters gehört und nunmehr in den neun Tafeln vom Altarschrein der Englandsfahrer im ehemaligen Hamburger Dom (Verwechslung; soll heißen: Johanniskirche. L.) die ihm gebührende und seiner würdige farbenreiche Korona erhalten hat.“

Friedrich Schlie

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Die Entdeckung, dass der Grabower Altar aus der Petrikirche in Hamburg stammte, fügte mit einem Schlage die zerstreute Einzelarbeit von zwei Menschenaltern zu einem festen Bau zusammen.

Der Altar gehörte zu den größten überhaupt erhaltenen deutschen Altarwerken seiner Zeit — misst er doch bei offenen Flügeln 22 Fuß in der Breite — und enthielt, als er noch seinen ganzen Umfang besaß, mindestens vierundzwanzig Bildkompositionen und über achtzig Skulpturen. Somit konnte es sich, allein die Abmessungen in Anschlag gebracht, nur um den Hauptaltar handeln. In einer Kapelle war kein Platz für ihn. Es kommt hinzu, dass die Statuetten von St. Peter und St. Paul, den Schutzpatronen der Kirche, an der Hauptstelle stehen, was ebenfalls auf den Hauptaltar weist, und dass der gedankliche Inhalt des Werkes, die Heilsgeschichte des alten und neuen Testaments und der christlichen Kirche, nur mit dem allgemeinen Typus der Hauptaltäre stimmt. Franckes Englandsfahreraltar ist in seinen Stoffen der Typus des Bruderschaftsaltars. Dass die St. Petrikirche sich 1722 einen neuen Hauptaltar hatte bauen lassen, spricht ebenfalls für die Identität. Sie konnte nun den alten verschenken, der bei seinem riesigen Umfange im Wege sein musste.

Über diesen Hauptaltar von St. Petri aber waren wir schon durch Lappenberg unterrichtet in seinen Beiträgen zur altern Kunstgeschichte Hamburgs. Unter seinen Nachrichten über Meister Bertram, den meistgenannten hamburgischen Maler aus dem Ende des 14. Jahrhunderts, ist aus einer hamburgischen Chronik die Nachricht angeführt, dass Meister Bertram von Minden 1383 die Tafel des Hochaltars von St. Petri angefertigt habe. Dass der Grabower Altar die Jahreszahl 1379 trägt und die Notiz einer Chronik das Jahr 1383 angibt, ist unschwer zu vereinigen: das erste Jahr dürfte den Beginn der Arbeit, das zweite die Aufstellung bezeichnen. Ein Chronist wird nicht den Beginn der Arbeit kennen, der Künstler setzt das Datum des Anfangs oder des Abschlusses. Auf einem Bilde müsste es das des Abschlusses sein. Bertrams Datum steht jedoch auf dem Gipsgrund des Holzwerks. Übrigens kann sich der Chronist eher in der Jahreszahl als im Namen des Künstlers geirrt haben. Es mag in Erinnerung gebracht werden, dass Adam Kraffts Sakramentshäuslein zu St. Lorenz in Nürnberg die Jahreszahl 1496 trägt, aber nach Neudörffer erst um 1500 vollendet worden ist.

Meister Bertram ist nun obendrein der einzige oft genannte hamburgische Meister jener Tage. Auch wenn der Chronist seinen Namen nicht erwähnte, würden wir ein Recht haben, ihm den Altar mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu zuschreiben. Von 1367 anfangend führt Lappenberg zahlreiche Nachrichten über Bertram auf und veröffentlicht im Anschluss daran seine noch heute erhaltenen beiden Testamente.

Dass Bertram aus Minden in Westfalen stammte, war durch einen Fund Nordhoffs im Archiv zu Minden nachgewiesen. Adolf Goldschmidt hatte den Grabower Altar in seinem grundlegenden Werk über die ältere Lübecker Malerei und Skulptur als das wegweisende älteste datierte Werk der Malerei und Plastik unserer Gegend veröffentlicht.

Die Zusammenstellung aller dieser Daten ergab nunmehr das reich mit individuellen Zügen ausgestattete Bild eines hamburgischen Malers und Bildhauers aus dem Ende des 14. Jahrhunderts, einer Zeit, aus der uns in ganz Deutschland Malernamen die Fülle, typische Lebensnachrichten in großer Menge und auch — in sehr beschränkter Zahl — Bilder und Skulpturen erhalten waren, aber bisher nicht ein einziges Mal nachgewiesen ist, was uns nun Bertram sein wird: ein in Leben und Werken leibhaft vor uns stehender Künstler.

Die Zusammenfassung der Ergebnisse unserer altern Forschung diente als Grundlage für die weitere Arbeit.

Einmal musste die Forschung weiter geführt werden durch das genauere Studium der nunmehr bekannt gewordenen Werke des Meisters und durch die Untersuchung des aus seinem Zeitalter überhaupt vorhandenen Denkmälervorrats. Es war ja nicht unmöglich, wenn auch zunächst höchst unwahrscheinlich, dass noch andere Werke Bertrams auf uns gelangt wären. Sodann musste der Versuch gemacht werden, den Grabower Altar, das Hauptwerk der norddeutschen Malerei und Plastik der ganzen Epoche, für Hamburg zurückzugewinnen.

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Bei der Untersuchung des Grabower Altars an Ort und Stelle bestätigte sich zunächst die schon vorher geäußerte Ansicht, dass der in Hamburg noch vorhandene Harvestehuder Altar von Bertram sein müsse. Lappenberg hatte ihn vermutungsweise einem Hamburger Meister Funhof von 1483 zugeschrieben und Martin Gensler hatte ihn veröffentlicht. Der Altar war seither in der deutschen Kunstgeschichte unbesehen unter diesem Namen und Datum geführt worden. In der Arbeit über Francke (Hamburg 1899) hatte ich ihn schon zurückdatiert. Von Meister Bertram hieß es, der aus Lappenbergs urkundlichem Material als bedeutendster hamburgischer Künstler seines Zeitalters gekennzeichnet sei, schiene kein Werk erhalten. „Doch dürfte ihm der Altar aus dem Archiv des Johannisklosters (der Harvestehuder Altar), der als ein Werk des Meisters Funhof (1483, also gerade ein Jahrhundert zu spät angesetzt) durch die Literatur geht, nahestehen. — Unter den Werken der benachbarten Schulen kommt den Bildern dieses Altars am nächsten der Grabower Altar, der in Lübeck 1379 entstanden ist. Die altertümlichen tutenförmigen Falten, die Art, wie die Arme in den Mänteln stecken, und einzelne Typen, so der des Simeon mit dem quadratischen Vollbart, sind fast identisch.“ Auch Goldschmidt hatte nach einer mündlichen Äußerung diese Werke unabhängig bereits zusammengestellt.

Aber nun tauchte in Grabow vor dem Altar Bertrams noch ein anderes Kunstwerk in meiner Erinnerung auf, das ich seit meiner Kindheit kannte und bei der Arbeit über Francke in der Hoffnung untersucht hatte, dass es auf dessen Entwicklung Licht werfen könnte, das Marienleben im Museum zu Buxtehude. Es war eins der liebenswürdigsten und reichsten Werke der norddeutschen Kunst vor 1400. Ein scharfes Auge und ein mitfühlendes Herz hatten die Erzählung mit einer erstaunlichen Fülle inniger, anmutiger und sogar pathetischer Züge wirklichen Lebens ausgestattet. Je mehr ich mich in den Grabower Altar hineinsah, desto fester wurde meine Überzeugung, dass auch der Buxtehuder Altar von Bertram sei. Die besonderen Kenner der Zeit, zuerst Goldschmidt, der auf meine Bitte den Altar in Buxtehude untersuchte, haben diese Annahme sodann einmütig bestätigt.

Das Werk Bertrams war damit um eine Anzahl von achtzehn Bildkompositionen erweitert.

Aber das Füllhorn der unerwarteten Gaben war noch nicht geleert.

Bei einem Besuch des South Kensingtonmuseums in London sah ich die mittelalterliche Abteilung auf Arbeiten aus Bertrams Zeit durch und fand ein umfangreiches Altarwerk, das auf den Außenflügeln verschiedene Heiligenlegenden, bei geöffneten Flügeln die ganze Apokalypse ausbreitete. Schon beim ersten Anblick kam mir der Name Bertrams auf die Lippen. Eine genaue Prüfung befestigte den Eindruck. Max Friedländer, den ich um eine Besichtigung des Altars bat, trat meiner Ansicht bei. Adolf Goldschmidt, der auf meine Bitte den Altar ebenfalls aufsuchte, rückte ihn ganz in die Nähe Bertrams, musste jedoch, weil der Tag ungünstiggewesen war, sein Urteil aufschieben. Die den Ausschlag gebenden, in dem dunkeln Raum nur mit Hilfe einer Leiter zugänglichen Flügel, hatte er nicht sehen können.

Das Unwahrscheinlichste ereignet sich jedoch ganz zuletzt.

Lappenberg erwähnt in seinen Beiträgen zur altern Kunstgeschichte Hamburgs bei der Aufzählung der alten Kunstwerke in der St. Jacobikirche, nachdem er die wichtigsten Altäre und Bildnisse besprochen, unter den übrigen Bildern eine Auferstehung des Herrn, von dem bekannten, in dieser Kirche beerdigten, infolge religiöser Unruhen aus Antwerpen nach Hamburg geflüchteten Aegidius Coignet, mit dessen Namen und der Jahreszahl 1595 bezeichnet.

Dieses Bild sei über ein älteres auf Goldgrund gemalt, wovon noch im Vordergrunde eine nackte, sich verbeugende Gestalt, von den Füßen bis in die Hälfte des Rückens, oben Sonne, Mond und Sterne — also vermutlich eine Darstellung der Schöpfung — zu erspähen seien.

Lappenbergs Beobachtung regte ein Gewirr von Fragen auf. Das Bild, das Coignet übermalt hatte, musste ein altes Hamburger Bild sein. Denn auf der Flucht hatte Coignet schwerlich ein altes Holzbild aus der Heimat mitgenommen. Und Sonne, Mond und Sterne deuteten sicher auf den dritten Schöpfungstag. Nun fehlten aber auf dem Hauptaltar von St. Petri, den wir von Grabow zurückerworben hatten, die ersten drei Schöpfungstage. Sollte Coignet sein Bild über einen der verlorenen Flügel des Bertramschen Altarwerks gemalt haben?

Es sprachen allerlei Umstände für die Möglichkeit. Auf Altarbildern kommt die Schöpfungsgeschichte nur bei Bertram vor. Sie gehörte eigentlich dem Reich der Miniatur an, das in seinen Stoffen sehr viel weitere Grenzen hat als das Altarbild.

Nun hat Coignet für die Petrikirche besonders viel gearbeitet. Noch heute ist ein großes — jüngst restauriertes — Abendmahl von seiner Hand im Turmsaal zu sehen. Zu Coignets Zeit war überdies der Hauptaltar von St. Petri restauriert worden. Die naturalistische Darstellung der Schädelstätte unter den Konsolen, die die Statuetten von Maria und Johannes tragen, stammt aus dieser Zeit, und zwei von den vierundvierzig Statuetten haben damals neue Köpfe erhalten. Es war denkbar, dass Coignet sich einen der vielleicht damals schon aufgegebenen Flügel ausgebeten hatte. Ihre Abgabe an Grabow war nicht verbürgt und nicht wahrscheinlich. Der Altar wurde restauriert, ehe er nach Grabow ging. Wären die beiden Flügel erhalten gewesen und mit restauriert worden, hätte man sie in Grabow aufzugeben keine Veranlassung gehabt.

Es galt mithin, Coignets auferstehenden Christus wiederzufinden.

In der St. Jacobikirche wusste man jedoch nichts mehr von diesem Bilde. Die Verwaltung war so liebenswürdig, alle Nebenräume mit zu durchsuchen, sogar die weitläufigen Böden unter dem Dach. Doch ohne Erfolg. Auch in den andern Hamburger Kirchen war keine Spur zu entdecken.

Bald darauf fand sich das Bild jedoch an anderem Ort. Die Sammlung hamburgischer Altertümer hatte es eben von einem Vorsteher der im großen Brande zerstörten Kapelle St. Gertrud, einer Filiale von St. Jacobi, als Geschenk erhalten. Bei der Untersuchung an Ort und Stelle ließen sich nicht nur die Himmelskörper, sondern auch einzelne Figuren erkennen. Das dünne Brett war genau von der Art und den Abmessungen der Tafeln auf dem Grabower Altar, auch die Sechsteilung schien unter Coignets Malerei deutlich hervor. In der obern Reihe mussten die drei Schöpfungstage, in den untern drei Darstellungen aus dem alten Testament vorhanden sein.

Die Prüfung der obern Farbenschicht führte zu der erfreulichen Gewissheit, dass unter Coignets Gemälde der Goldgrund des alten Bildes vorzüglich erhalten sei. Einzelne Kratzer aus alter Zeit gaben es deutlich zu erkennen. War nun aber der Goldgrund erhalten, so musste auch die ganze alte Malerei Bertrams unversehrt sein. Denn bei einer gründlichen Reinigung, hätte Coignet sie vorgenommen, würde der Goldgrund zuerst zerstört sein, da er unvergleichbar empfindlicher ist als die Malerei.

Es fragte sich nun, ob der Versuch gemacht werden sollte, Bertrams Bilder freizulegen. Da Coignets Auferstehung ein Bild von sehr mäßigem Kunstwert war, erschien es nicht zweifelhaft, dass Bertrams Gemälde unendlich wichtiger für uns sein würden. Die obere Farbenschicht ließ sich entfernen, wenn Bertrams Bild noch den alten Firnis hatte. Dass Coignets Farbe sich durch zufällige Kratzer vom Goldgrund gelöst hatte, machte es wahrscheinlich.

Die Sammlung hamburgischer Altertümer überwies der Kunsthalle das Gemälde und erklärte sich mit der Bloßlegung der Bilder Bertrams einverstanden. Die Tafel wurde zu Professor Hauser nach Berlin geschafft, und nachdem auch Geheimrat Bode und Dr. Friedländer der Auffassung beigetreten waren, dass der Coignet unbedenklich geopfert werden könnte, wenn damit sechs Bilder von Bertram gewonnen würden, machte Professor Hauser die ersten Versuche.

Als aus einer Ecke zuerst probeweise ein Kopf herausgeholt wurde, konnte an der Urheberschaft Bertrams nicht mehr gezweifelt werden.

Es stellte sich ferner dabei heraus, dass der alte Firnis erhalten war, dass also die Übermalung sich entfernen ließ.

Durch Coignets Übermalung allen Angriffen und dem Licht entzogen, ist nun Bertrams Tafel in ausgezeichneter Erhaltung bewahrt worden. Von einem fußgroßen Stück alter Malerei, das schon zu Coignets Zeit in der Arche auf dem Noahbilde fehlte, und einigen Kratzern abgesehen, ist alles in bessere Zustand als auf den Tafeln, die in Grabow waren. Der Goldgrund, der so empfindlich ist und so selten auf Bildern selbst des fünfzehnten Jahrhunderts unversehrt blieb, hat seine alte Frische und Pracht.

Es lag nun nahe, anzunehmen, dass Coignet 1595 nicht nur den einen, sondern beide Flügel des Altars an sich genommen und den zweiten genau wie den ersten benutzt habe. Obwohl die Wahrscheinlichkeit sehr gering war, dass auch der zweite auf unsere Zeit gelangt sei, mussten alle in Hamburg und auswärts erhaltenen Bilder des Künstlers daraufhin untersucht werden.

In Hamburg besaß die Petrikirche, deren Hauptaltar Bertrams großes Werk einst geschmückt hatte, noch zwei Gemälde von Coignet, ein Abendmahl und die Ausgießung des heiligen Geistes. Beim Brande von 1842 waren sie mit dem Christus als Schmerzensmann von Francke und einer Anzahl anderer alter Kunstwerke von Otto Speckter und den Brüdern Gensler mit Gefahr des Lebens gerettet worden.

Die Ausgießung des heiligen Geistes wurde, weil auf Holz gemalt und in den Maßen stimmend, zuerst von der Wand genommen und untersucht. Ein flüchtiger Blick genügte, um unter Coignets Bild die Umrisse der sechs Kompositionen Bertrams zu erkennen. Es hatte freilich einer äußern Anregung bedurft, das gleichgültige Bild in gutes Licht zu bringen.

Auf Antrag der Kunsthalle hat die Kirche der hamburgischen Gemäldesammlung das Werk als Leihgabe überwiesen mit der ausdrücklichen Erlaubnis, Coignets Bild zu entfernen. Es war noch unbedeutender als der auferstehende Christus.

Schon die erste Untersuchung des Zustandes ergab wiederum, dass der Goldgrund der Bertramschen Bilder vorzüglich erhalten war. Somit konnte als gewiss angenommen werden, dass sich auch die Farbe in ähnlich gutem Zustand befinden müsse, wie auf der andern von Coignet übermalten Tafel.

Die von Prof. Hauser in Berlin vollzogene Reinigung hat die Annahme vollauf bestätigt. An zwei Stellen nur scheint in den Gewändern ein Versuch gemacht zu sein, die Malerei Bertrams mit einem scharfen Messer zu beseitigen. Es dürfte der steinharten Masse gegenüber aufgegeben sein.

Nunmehr war die Wand von vierundzwanzig Bildern, die der Altar bei geöffneten Außenflügeln ausbreitete, wieder vollständig.

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Die Behandlung der Außenseiten bleibt noch heute Problem. Coignet hat auch beide Rückseiten der Tafeln bemalt. Die Bilder sind noch weitaus flüchtiger als die der Vorderseiten, und sie waren durch wiederholte rohe Parkettierung sehr mitgenommen. Weshalb er diese Bemalung vorgenommen, lässt sich nur vermuten. Es wäre denkbar, dass die Kirche die Tafeln dem Altar wieder hat einfügen wollen. Aber dann hätten der auferstehende Christus und das Pfingstfest als Seitenstücke wirken müssen, und dazu waren sie weder nach Farbe noch Form geeignet. Vielleicht hat der Künstler, der eine flinke Hand besaß, die Rückseiten bemalt, um die Holztafel besser zu schützen. Bei der Dünnheit der Tafeln erscheint es ziemlich sicher, dass die Außenbilder der Flügel auf besondere Tafeln gemalt waren. Doch das bleibt Vermutung. — Irgendwelche Spur einer Bemalung aus Bertrams Zeit war auf den Rückseiten bei der sorgfältigsten Prüfung nicht zu entdecken.

Bei der Durchforschung der Kirchen und Museen in den umliegenden Staaten fand sich noch mancherlei, das auf die bedeutende Stellung, die Bertram in seiner Zeit für den ganzen Umkreis zukommt, hinweist. Die Ausstattung des Hauptaltars in der Gruftkirche der mecklenburgischen Herzöge zu Doberan dürfte zum Teil von ihm selber herrühren, wenigstens die untere Reihe der geschnitzten Figuren des Hauptaltars; anderes, wie das Ciborium und das Laienkreuz mit seiner Fülle von Figuren und Reliefs könnte ihm oder seiner Werkstatt zugeschrieben werden. Die Christusseite des Laienkreuzes steht wiederum dem Landkirchner Altar im Thaulow-Museum zu Kiel so nahe, dass dieselbe Werkstatt angenommen werden muss. Die Entscheidung muss künftiger Forschung vorbehalten bleiben.

Zu diesen zahlreichen Werken, die von Bertram oder vielleicht aus seiner Werkstatt stammen, gesellen sich noch einige Arbeiten, die von Schülern oder Nachahmern herrühren. Der Altar der Antoniterkirche in Tempzin in Mecklenburg wiederholt die Motive des Buxtehuder Altars. Diesem Tempziner Altar ist ein sehr restaurierter in Wismar nahe verwandt. Der Göttinger Altar im Provinzialmuseum in Hannover (1424) enthält zwei Motive, die aus Bertrams Buxtehuder Altar stammen. Die nahe Verwandtschaft des Engels der Verkündigung beim Meister des Neukirchner Altars mit Bertrams Engel auf der Predella des Grabower Altars, hat schon Friedrich Knorr nachgewiesen. Der Meister des Neukirchner Altars aber ist einer der bedeutendsten Lübecker Künstler aus der Generation nach Bertram.

Der Bilderkreis, der sicher von Bertram herrührt oder ihm nahe kommt, hat damit einen Umfang erreicht, der die Künstlergestalt des Meisters zu einer in jener Zeit völlig unerhörten Erscheinung macht. Es lässt sich danach erkennen, dass Meister Bertram zu seiner Zeit für einen weiten Umkreis dasselbe bedeutet hat, was in der folgenden Generation sein Nachfolger in Hamburg Meister Francke war.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415