Was ist uns Meister Bertram?
Lohnt es für den Kunstfreund, der nicht Forscherneigungen hat, sich mit Meister Bertram zu beschäftigen? Ist er für den Laien mehr als eine Kuriosität?
Beim Eintritt in den Saal, der die Werke Bertrams vereinigt, wird die Empfindung von einer leuchtenden Glut der Erscheinung gepackt, die keine spätere Kunst mehr überboten hat.
Die große goldene Wand zierlicher Architektur als Umrahmung einer Fülle von Statuetten, Halbfiguren und Reliefs, die Bilderreihen farbiger Gestalten auf altem Goldgrund entfalten eine feierliche Pracht, von der wir bisher in Hamburg kein Beispiel besaßen, auch durch Franckes Werke nicht, die kein Ganzes mehr bilden und einer andern Entwicklungsform angehören. Es gibt nur spärliche Reste dieser großen schmückenden Kunst in Norddeutschland und darunter sehr wenig, das bei derselben Wertigkeit so unberührt erhalten ist. In Bertrams Buxtehuder Altar ist uns die Lebensäußerung eines dekorativen Gefühls aufbewahrt, das dem Realismus der folgenden Zeitalter nicht standhalten konnte. Schon Francke hat es ein Menschenalter nach Bertram nicht mehr in demselben Sinne. Tafeln wie der Tod und die Krönung Maria vom Buxtehuder Altar strahlen in einer so überwältigenden Kraft und Schönheit der Erscheinung, dass man sie als Ganzes genießen kann, wie man sich bei einem Meisterwerke byzantinischer Goldschmiedekunst von der Gesamtwirkung berücken oder von einer in Goldmosaik und satten Farben schimmernden Kapelle von San Marco bezaubern lässt, ohne sich um Einzelheiten zu kümmern.
Wenn ein französischer Forscher in der „Gazette des beaux arts“ über den Franckesaal in der Kunsthalle gesagt hat: „il est permis d'écrire qu'il n'existe pas un ensemble aussi important de la peinture allemande du XV. siècle dans 1' Allemagne entière“ — so gilt nun künftig ganz dasselbe für das vierzehnte Jahrhundert vom Bertramsaal.
Die schmückende Schönheit wird vor allem den Eindruck bestimmen, den der Künstler empfängt. Und der Künstler wird, mehr oder weniger gleichgültig gegen alles übrige, den Mitteln nachgehen, mit denen diese Wirkung erreicht ist.
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Dem Freund der heimischen Geschichte hat der Meister etwas ganz anderes, aber darum nicht weniger zu bieten als dem Künstler.
Wer auch nur mit der Teilnahme für den sachlichen Inhalt, die der Geschichtsforscher hegt, an Bertram herantritt, wird seine Werke so leicht nicht ausschöpfen.
Von unsern Hamburger Vorfahren, die zu Bertrams Zeit das Eibkap eroberten und mit den Lübeckern und Bremern im Bunde die glänzende Machtstellung der Hansa heraufführen halfen, wissen wir unendlich wenig. Wie sahen die Menschen aus, in denen ein so großer Wille lebte? Wie trugen sie sich, wie gebärdeten sie sich,wiewaren ihre Wohnungen beschaffen und welchen Ausdruck trugen ihre Züge?
Das alles können wir nun aus den Bildern und Bildwerken Bertrams ohne Mühe ablesen, denn er malte die heiligen Geschichten, als hätten sie sich um 1380 in Hamburg zugetragen, und bildete die heiligen Gestalten, als wären sie zu seinen Tagen über die Straßen und Plätze Hamburgs gewandelt. Es ließe sich aus den Trachten und Rüstungen, die er mit einer seinen Vorgängern noch unbekannten Verliebtheit schildert, eine Übersicht der Moden von 1379 bis 1400 zusammenstellen. Seine Bilder sind eine Fundgrube für die Gewebe, die getragen wurden, für die Trachten und Geräte und für mancherlei dekorative Ideen, vom Schmuck des Spazierstocks bis zur Behandlung von Wand und Decke.
Noch wichtiger für uns sind die Menschentypen, die er für immer aus der verfließenden Erscheinungswelt herausgehoben hat. Neben den Idealgestalten von Gott Vater, Christus, Maria und den Heiligen taucht ein Gewimmel auf von Menschen aller Stände, die mit sichtlicher Freude an bildnismäßiger Kennzeichnung festgehalten sind. Stellenweise, wie auf der Hochzeit zu Kana, machen einzelne Gesichter durchaus den Eindruck von Bildnissen. Bertram kennt die vornehme Dame in Modetracht und ihren behäbigen Partner so gut wie den derben Hirten auf dem Felde oder den brutalen Kriegsknecht, der die bethlehemitischen Kinder umbringt. Gelegentlich stellt er zwei Gesichter mit offenbarer Freude an dem Gegensatz des vornehmen rassigen gepflegten Patriziers und des gewöhnlichen rohen ungepflegten Plebejers zusammen, und er hat das Gefühl, dass die Priester im Tempel und der heilige Joachim Juden waren und gibt ihnen semitisches Gepräge.
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Dieser vielseitige Sachgehalt würde den Werken des Meisters für jeden Hamburger unschätzbaren Wert verleihen, auch wenn sie weiter nichts böten.
Aber sie drücken nun obendrein das Wesen eines ganz bestimmten Einzelmenschen aus, und das ist wiederum etwas Neues für die heimische Geschichte jener Tage. Wir kennen den Gang unserer Geschichte, kennen die Namen der handelnden Personen, kennen ihre Verwandtschaftsverhältnisse, aber ich weiß keinen Hamburger aus Bertrams Zeit, und es hat mir niemand einen seiner Zeitgenossen nachweisen können, dessen inneres Wesen erkennbar vor uns stände.
Meister Bertram wird für uns durch seine Werke und die zahlreichen Nachrichten über sein Leben zum einzig greifbaren Menschen jener Tage. Wir erfahren, welche Empfindungen er gehegt, welche Einsicht er besessen hat, welche Neigungen ihn beherrschten und welche Entwicklung Anschauung und Ausdrucksvermögen bei ihm genommen haben. Als Gesamterscheinung wird Meister Bertram von nun an ein Hauptgegenstand der historischen Seelenkunde seines Zeitalters sein, denn von dem Innern Leben der Menschen aus der Zeit der aufstrebenden Hansa kann er allein uns eine deutliche Vorstellung vermitteln.
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Es ist auch nicht schwer, das geistige Band der bestimmten Persönlichkeit zu entdecken, die im Mittelpunktaller Lebensäußerungen des Menschen Bertram steht: Meister Bertram ist ein großer Künstler, eine reiche, mitfühlende Natur von einer sehr entwickelten und allseitigen Teilnahme für den schönen Schein und für das Weben der atmenden Welt. Er hat im höchsten Grade das Gefühl für das Schwelgen der Kreatur, wie sich mehr als ein Menschenalter vor Bertram der Mystiker Meister Eckart ausdrückte. Sein Gefühl lehrt ihn mit traumgeborener Sicherheit gestalten, wie Mann und Frau und Kind sich unter den einfachsten wie den verwickeltsten seelischen und äußern Antrieben gebärden, und seine Teilnahme beschränktsich nicht auf die Vorgänge im Menschenleben: Er ist unser frühester Tiermaler und Landschafter.
Wer sich in ihn vertieft, wird den begnadeten Erzähler erkennen, der alle Mittel zur Verfügung hat bis zur drastischen Schlagkraft im Sinne der heutigen Karikatur großen Stils, er wird den Physiognomiker bewundern, der überall, wo er nicht Idealtypen zu bilden hat, vollrunde Individuen schafft, er wird fühlen, wie eine räumliche Anschauungs- und Bildungskraft sehr seltener Art aus ihm wirkt, er wird einen hochbegabten, erfindungsreichen, feinfühligen und starken Koloristen bewundern und einen Künstler, der mit offenbarer Lust ein Maler ist und in der Schilderung der Welt und des Menschen überall die Richtung einschlägt, die geradenwegs auf die Höhepunkte unserer germanischen Kunst zustrebt. Es ist Schongauer, es sind Dürer, Holbein, Peter Brueghel und Rembrandt bei Meister Bertram im Keim vorgebildet.
Wem der Inhalt eines Bildes, wie etwa des Christusknaben im Tempel, erzählt wird, ohne dass er wüßte, in die Formen welches Jahrhunderts ersieh den Reichtum der Erfindung einzukleiden hat, dürfte am ehesten an eine Radierung von Rembrandt denken.
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Die deutsche Kunstgeschichte wird mit Bertram als der aufschlußreichsten Erscheinung seines Zeitalters für immer zu rechnen haben. Nach unserer bisherigen Kenntnis des Denkmälervorrats ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass für die Zeit von 1360 — 1400 noch einmal eine solche Fülle von eigenen Werken und abhängigen Arbeiten sich um eine einzelne Persönlichkeit zusammenschließen wird.
Was wir von Bertrams eigenen Arbeiten und denen seiner Nachfolger kennen, beantwortet Fragen, die bisher nicht einmal gestellt werden konnten.
Denn wir können an Bertram zum erstenmal in jener fernen Zeit die Entwicklung des einzelnen Künstlers beobachten. Seine Hauptwerke offenbaren uns, wie das Farbengefühl, das Raumgefühl sich in dem begabten Einzelwesen ausarbeiten, wie die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, sich steigert, wie der Künstler Aufgaben verschiedenen Charakters löst — den Hauptaltar im Gegensatz zum Kapellenaltar — , wie er verfährt, wenn er denselben Gegenstand wiederholt zu bearbeiten hat und schließlich, in welcher Gestalt ein Künstler damals zugleich Bildhauer und Maler sein konnte. Denn seine Werke sind wiederum das einzige sichere Beispiel aus dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts, dass ein Künstler zugleich den malerischen und den bildhauerischen Teil eines Altarwerks ausgeführt hat.
Nun kommt zu alledem noch hinzu, dass wir in Meister Francke seinen Nachfolger und vielleicht Schüler kennen und an einer Fülle von Bildern des verschiedensten Inhalts in derselben Sammlung studieren können. Auch das begegnet uns um die Wende vom vierzehnten zum fünfzehnten Jahrhundert so durchsichtig nicht wieder. Denn auch bei Francke kennen wir nun in großen Zügen die Entwicklung. Die Beobachtung wird um so anziehender und ergebnisreicher, als beide ganz fest ausgeprägte Individuen sind, die sich wohl berühren, die aber schließlich nicht sehr viel gemein haben. An mehr als einem Punkte führt Francke die Entwicklung, die bei Bertram vorgezeichnet ist, nicht weiter, und der ältere Künstler erscheint uns stellenweise sogar als der Fortgeschrittnere, der weit davon entfernt ist, sich als Vorläufer und Wegbereiter seines großen Nachfolgers zu bescheiden.
Bertrams hohe Bedeutung für die örtliche und die deutsche Kunstgeschichte ist damit auf alle Zeit sicher gestellt.
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Das geistige Leben und die künstlerische Empfindungswelt in Hamburg aber erfahren durch die Einfügung seiner Hauptwerke in den Besitzstand unserer Sammlungen eine ungeahnte Vertiefung und Bereicherung und gewinnen eine Fülle neuer Ausgangspunkte zur Eroberung des edelsten, was unsere Kunst hervorgebracht hat.
Wir haben es erlebt, wie im Laufe weniger Jahre sich für Meister Francke, den Nachfolger Bertrams, das Gefühl entwickelt hat. Meister Bertram mit seinem unendlich reicheren sachlichen Inhalt, mit der Allseitigkeit seiner künstlerischen Gestaltungskraft und seiner künstlerischen Teilnahme, mit der für uns ganz neuen Welt einer ursprünglichen großen, auch uns noch unmittelbar verständlichen und auf neue ferne Ziele weisenden Skulptur, wird sich vielleicht noch rascher das Herz erschließen.
Es ist bisher nicht möglich, die künstlerische Stellung und Bedeutung Bertrams annähernd einzuschätzen. Dazu haben wir sein Zeitalter noch viel zu wenig erforscht. Trotz seiner unvollkommenen Ausdrucksmittel und seiner ringenden Anschauung ist er denen, die ihn bisher kennen gelernt, immer mehr als eine der anziehendsten Begabungen in unserer gesamten Kunst erschienen, in allem, was die Natur geben kann, seinem großen Nachfolger Meister Francke ebenbürtig.
Da ich die Überzeugung gewonnen habe, dass seine Kunst auch dem Laien zugänglich ist, wenn er von der Erkenntnis ausgeht, dass kein Menschengeschlecht alles zugleich besitzt, dass aber auf jeder Stufe einige Kräfte das höchste Maß der Entwicklung erreichen können, so will ich den Versuch wagen, dem hamburgischen Kunstfreund zu jener mehr als ein halbes Jahrtausend hinter uns liegenden Kunst den Weg zu weisen, den ich selber gegangen bin. Er führt nicht durch die Kritik der offenbaren Unzulänglichkeiten des alten Meisters, sondern durch andächtige Hingabe an seine große Persönlichkeit.
Beim Eintritt in den Saal, der die Werke Bertrams vereinigt, wird die Empfindung von einer leuchtenden Glut der Erscheinung gepackt, die keine spätere Kunst mehr überboten hat.
Die große goldene Wand zierlicher Architektur als Umrahmung einer Fülle von Statuetten, Halbfiguren und Reliefs, die Bilderreihen farbiger Gestalten auf altem Goldgrund entfalten eine feierliche Pracht, von der wir bisher in Hamburg kein Beispiel besaßen, auch durch Franckes Werke nicht, die kein Ganzes mehr bilden und einer andern Entwicklungsform angehören. Es gibt nur spärliche Reste dieser großen schmückenden Kunst in Norddeutschland und darunter sehr wenig, das bei derselben Wertigkeit so unberührt erhalten ist. In Bertrams Buxtehuder Altar ist uns die Lebensäußerung eines dekorativen Gefühls aufbewahrt, das dem Realismus der folgenden Zeitalter nicht standhalten konnte. Schon Francke hat es ein Menschenalter nach Bertram nicht mehr in demselben Sinne. Tafeln wie der Tod und die Krönung Maria vom Buxtehuder Altar strahlen in einer so überwältigenden Kraft und Schönheit der Erscheinung, dass man sie als Ganzes genießen kann, wie man sich bei einem Meisterwerke byzantinischer Goldschmiedekunst von der Gesamtwirkung berücken oder von einer in Goldmosaik und satten Farben schimmernden Kapelle von San Marco bezaubern lässt, ohne sich um Einzelheiten zu kümmern.
Wenn ein französischer Forscher in der „Gazette des beaux arts“ über den Franckesaal in der Kunsthalle gesagt hat: „il est permis d'écrire qu'il n'existe pas un ensemble aussi important de la peinture allemande du XV. siècle dans 1' Allemagne entière“ — so gilt nun künftig ganz dasselbe für das vierzehnte Jahrhundert vom Bertramsaal.
Die schmückende Schönheit wird vor allem den Eindruck bestimmen, den der Künstler empfängt. Und der Künstler wird, mehr oder weniger gleichgültig gegen alles übrige, den Mitteln nachgehen, mit denen diese Wirkung erreicht ist.
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Dem Freund der heimischen Geschichte hat der Meister etwas ganz anderes, aber darum nicht weniger zu bieten als dem Künstler.
Wer auch nur mit der Teilnahme für den sachlichen Inhalt, die der Geschichtsforscher hegt, an Bertram herantritt, wird seine Werke so leicht nicht ausschöpfen.
Von unsern Hamburger Vorfahren, die zu Bertrams Zeit das Eibkap eroberten und mit den Lübeckern und Bremern im Bunde die glänzende Machtstellung der Hansa heraufführen halfen, wissen wir unendlich wenig. Wie sahen die Menschen aus, in denen ein so großer Wille lebte? Wie trugen sie sich, wie gebärdeten sie sich,wiewaren ihre Wohnungen beschaffen und welchen Ausdruck trugen ihre Züge?
Das alles können wir nun aus den Bildern und Bildwerken Bertrams ohne Mühe ablesen, denn er malte die heiligen Geschichten, als hätten sie sich um 1380 in Hamburg zugetragen, und bildete die heiligen Gestalten, als wären sie zu seinen Tagen über die Straßen und Plätze Hamburgs gewandelt. Es ließe sich aus den Trachten und Rüstungen, die er mit einer seinen Vorgängern noch unbekannten Verliebtheit schildert, eine Übersicht der Moden von 1379 bis 1400 zusammenstellen. Seine Bilder sind eine Fundgrube für die Gewebe, die getragen wurden, für die Trachten und Geräte und für mancherlei dekorative Ideen, vom Schmuck des Spazierstocks bis zur Behandlung von Wand und Decke.
Noch wichtiger für uns sind die Menschentypen, die er für immer aus der verfließenden Erscheinungswelt herausgehoben hat. Neben den Idealgestalten von Gott Vater, Christus, Maria und den Heiligen taucht ein Gewimmel auf von Menschen aller Stände, die mit sichtlicher Freude an bildnismäßiger Kennzeichnung festgehalten sind. Stellenweise, wie auf der Hochzeit zu Kana, machen einzelne Gesichter durchaus den Eindruck von Bildnissen. Bertram kennt die vornehme Dame in Modetracht und ihren behäbigen Partner so gut wie den derben Hirten auf dem Felde oder den brutalen Kriegsknecht, der die bethlehemitischen Kinder umbringt. Gelegentlich stellt er zwei Gesichter mit offenbarer Freude an dem Gegensatz des vornehmen rassigen gepflegten Patriziers und des gewöhnlichen rohen ungepflegten Plebejers zusammen, und er hat das Gefühl, dass die Priester im Tempel und der heilige Joachim Juden waren und gibt ihnen semitisches Gepräge.
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Dieser vielseitige Sachgehalt würde den Werken des Meisters für jeden Hamburger unschätzbaren Wert verleihen, auch wenn sie weiter nichts böten.
Aber sie drücken nun obendrein das Wesen eines ganz bestimmten Einzelmenschen aus, und das ist wiederum etwas Neues für die heimische Geschichte jener Tage. Wir kennen den Gang unserer Geschichte, kennen die Namen der handelnden Personen, kennen ihre Verwandtschaftsverhältnisse, aber ich weiß keinen Hamburger aus Bertrams Zeit, und es hat mir niemand einen seiner Zeitgenossen nachweisen können, dessen inneres Wesen erkennbar vor uns stände.
Meister Bertram wird für uns durch seine Werke und die zahlreichen Nachrichten über sein Leben zum einzig greifbaren Menschen jener Tage. Wir erfahren, welche Empfindungen er gehegt, welche Einsicht er besessen hat, welche Neigungen ihn beherrschten und welche Entwicklung Anschauung und Ausdrucksvermögen bei ihm genommen haben. Als Gesamterscheinung wird Meister Bertram von nun an ein Hauptgegenstand der historischen Seelenkunde seines Zeitalters sein, denn von dem Innern Leben der Menschen aus der Zeit der aufstrebenden Hansa kann er allein uns eine deutliche Vorstellung vermitteln.
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Es ist auch nicht schwer, das geistige Band der bestimmten Persönlichkeit zu entdecken, die im Mittelpunktaller Lebensäußerungen des Menschen Bertram steht: Meister Bertram ist ein großer Künstler, eine reiche, mitfühlende Natur von einer sehr entwickelten und allseitigen Teilnahme für den schönen Schein und für das Weben der atmenden Welt. Er hat im höchsten Grade das Gefühl für das Schwelgen der Kreatur, wie sich mehr als ein Menschenalter vor Bertram der Mystiker Meister Eckart ausdrückte. Sein Gefühl lehrt ihn mit traumgeborener Sicherheit gestalten, wie Mann und Frau und Kind sich unter den einfachsten wie den verwickeltsten seelischen und äußern Antrieben gebärden, und seine Teilnahme beschränktsich nicht auf die Vorgänge im Menschenleben: Er ist unser frühester Tiermaler und Landschafter.
Wer sich in ihn vertieft, wird den begnadeten Erzähler erkennen, der alle Mittel zur Verfügung hat bis zur drastischen Schlagkraft im Sinne der heutigen Karikatur großen Stils, er wird den Physiognomiker bewundern, der überall, wo er nicht Idealtypen zu bilden hat, vollrunde Individuen schafft, er wird fühlen, wie eine räumliche Anschauungs- und Bildungskraft sehr seltener Art aus ihm wirkt, er wird einen hochbegabten, erfindungsreichen, feinfühligen und starken Koloristen bewundern und einen Künstler, der mit offenbarer Lust ein Maler ist und in der Schilderung der Welt und des Menschen überall die Richtung einschlägt, die geradenwegs auf die Höhepunkte unserer germanischen Kunst zustrebt. Es ist Schongauer, es sind Dürer, Holbein, Peter Brueghel und Rembrandt bei Meister Bertram im Keim vorgebildet.
Wem der Inhalt eines Bildes, wie etwa des Christusknaben im Tempel, erzählt wird, ohne dass er wüßte, in die Formen welches Jahrhunderts ersieh den Reichtum der Erfindung einzukleiden hat, dürfte am ehesten an eine Radierung von Rembrandt denken.
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Die deutsche Kunstgeschichte wird mit Bertram als der aufschlußreichsten Erscheinung seines Zeitalters für immer zu rechnen haben. Nach unserer bisherigen Kenntnis des Denkmälervorrats ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass für die Zeit von 1360 — 1400 noch einmal eine solche Fülle von eigenen Werken und abhängigen Arbeiten sich um eine einzelne Persönlichkeit zusammenschließen wird.
Was wir von Bertrams eigenen Arbeiten und denen seiner Nachfolger kennen, beantwortet Fragen, die bisher nicht einmal gestellt werden konnten.
Denn wir können an Bertram zum erstenmal in jener fernen Zeit die Entwicklung des einzelnen Künstlers beobachten. Seine Hauptwerke offenbaren uns, wie das Farbengefühl, das Raumgefühl sich in dem begabten Einzelwesen ausarbeiten, wie die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, sich steigert, wie der Künstler Aufgaben verschiedenen Charakters löst — den Hauptaltar im Gegensatz zum Kapellenaltar — , wie er verfährt, wenn er denselben Gegenstand wiederholt zu bearbeiten hat und schließlich, in welcher Gestalt ein Künstler damals zugleich Bildhauer und Maler sein konnte. Denn seine Werke sind wiederum das einzige sichere Beispiel aus dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts, dass ein Künstler zugleich den malerischen und den bildhauerischen Teil eines Altarwerks ausgeführt hat.
Nun kommt zu alledem noch hinzu, dass wir in Meister Francke seinen Nachfolger und vielleicht Schüler kennen und an einer Fülle von Bildern des verschiedensten Inhalts in derselben Sammlung studieren können. Auch das begegnet uns um die Wende vom vierzehnten zum fünfzehnten Jahrhundert so durchsichtig nicht wieder. Denn auch bei Francke kennen wir nun in großen Zügen die Entwicklung. Die Beobachtung wird um so anziehender und ergebnisreicher, als beide ganz fest ausgeprägte Individuen sind, die sich wohl berühren, die aber schließlich nicht sehr viel gemein haben. An mehr als einem Punkte führt Francke die Entwicklung, die bei Bertram vorgezeichnet ist, nicht weiter, und der ältere Künstler erscheint uns stellenweise sogar als der Fortgeschrittnere, der weit davon entfernt ist, sich als Vorläufer und Wegbereiter seines großen Nachfolgers zu bescheiden.
Bertrams hohe Bedeutung für die örtliche und die deutsche Kunstgeschichte ist damit auf alle Zeit sicher gestellt.
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Das geistige Leben und die künstlerische Empfindungswelt in Hamburg aber erfahren durch die Einfügung seiner Hauptwerke in den Besitzstand unserer Sammlungen eine ungeahnte Vertiefung und Bereicherung und gewinnen eine Fülle neuer Ausgangspunkte zur Eroberung des edelsten, was unsere Kunst hervorgebracht hat.
Wir haben es erlebt, wie im Laufe weniger Jahre sich für Meister Francke, den Nachfolger Bertrams, das Gefühl entwickelt hat. Meister Bertram mit seinem unendlich reicheren sachlichen Inhalt, mit der Allseitigkeit seiner künstlerischen Gestaltungskraft und seiner künstlerischen Teilnahme, mit der für uns ganz neuen Welt einer ursprünglichen großen, auch uns noch unmittelbar verständlichen und auf neue ferne Ziele weisenden Skulptur, wird sich vielleicht noch rascher das Herz erschließen.
Es ist bisher nicht möglich, die künstlerische Stellung und Bedeutung Bertrams annähernd einzuschätzen. Dazu haben wir sein Zeitalter noch viel zu wenig erforscht. Trotz seiner unvollkommenen Ausdrucksmittel und seiner ringenden Anschauung ist er denen, die ihn bisher kennen gelernt, immer mehr als eine der anziehendsten Begabungen in unserer gesamten Kunst erschienen, in allem, was die Natur geben kann, seinem großen Nachfolger Meister Francke ebenbürtig.
Da ich die Überzeugung gewonnen habe, dass seine Kunst auch dem Laien zugänglich ist, wenn er von der Erkenntnis ausgeht, dass kein Menschengeschlecht alles zugleich besitzt, dass aber auf jeder Stufe einige Kräfte das höchste Maß der Entwicklung erreichen können, so will ich den Versuch wagen, dem hamburgischen Kunstfreund zu jener mehr als ein halbes Jahrtausend hinter uns liegenden Kunst den Weg zu weisen, den ich selber gegangen bin. Er führt nicht durch die Kritik der offenbaren Unzulänglichkeiten des alten Meisters, sondern durch andächtige Hingabe an seine große Persönlichkeit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Meister Bertram tätig in Hamburg 1367-1415