Dritte Novelle

(Der Jude)
Nathan erfreute sich eines außerordentlichen Rufes. Mitridanes neidisch über dessen Tugend ahmte dieselbe eifrig nach; da er sie nicht erreichen kann, beschließt er Nathans Tod und begibt sich auf dessen Schloss, in der Absicht, den Mord mit eigner Hand zu vollziehen. Dort trifft er auf Nathan selber, den er nicht kennt und der sich ihm als ein unzufriedener Bediente des reichen Nathan stellt. Mitridanes vertraut ihm bald sein Vorhaben und verlangt einen Rat. Nathan zeigt ihm ein Wäldchen an, wo er des verlangten Opfers mit großer Leichtigkeit sich bemächtigen dürfte. Dieser stellt sich im Wäldchen auf Platz und Stelle ein; und spricht zu dem ebenfalls dort erscheinenden Mitridanes, der schon die blanke Mordwaffe über sein Haupt schwenkt: Hier hast du was du begehrt. Gerührt über diese Worte und ihn an der Stimme erkennend, wirft Mitridanes sich ihm zu Füßen; sie werden Freunde. (Letzter Tag Nov. 3) Es dürfte nicht schwer fallen, nachzuweisen, dass diese drei Novellen, wovon zwei im Buche Boccaccios hintereinander, die dritte aber etwas entfernt liegt, nicht nur von einem und demselben Geiste durchdrungen, sondern auch zu einem und demselben Zwecke da sind. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich die eine Novelle als die der religiösen Toleranz, die andere als die der moralischsten Religion, und die dritte als die der bestmöglichsten Moral selber bezeichnen werde. Dieses alles hat schon Boccaccio auf Seiten der jüdischen Religion sich gedacht. Jedermann kennt jetzt das Märchen aus der ersten Novelle, das religiöse Toleranz lehrt, und lässt der italienische Novellist diese Lehre von den Juden ausgehen. In der zweiten Novelle stellt sich die beste Moral als die Folge des Judentums heraus, und der Jude, behelligt durch christliche Freunde, geht zum Christentume aus einem Argument ab absurdo über. Wie soll denn anders eine Argumentation genannt werden, die zu einem Schluss gelangt, dass gerade weil eine Religion von der schlechtesten Moral bei ihren Trägern sich kundgibt, so müsse diese göttlich sein, als wären Göttlichkeit und Immoralität und nicht vielmehr Göttlichkeit und Moralität identisch. Nicht also die moralische Kraft einer Religion erhält dieselbe, sondern ihre Göttlichkeit und wenn sie der moralischen Kraft entbehre!! Diesen so offenbar falschen Syllogismus durfte jedoch Boccaccio aus gewissen Gründen zu rügen unterlassen.

Dass aber die gute Moral als eine Folge des Judentums sich herausstelle, ist in dem musterhaften Lebenswandel, den der Jude Abraham noch bevor er sich von seinem Freund Giovanni di Civigni aus der Taufe heben ließ führte, ersichtlich. Er bleibt diesem Lebenswandel auch nach dem besagten Akte treu, dem bekannten Sprichwort gemäß: Gewohnheit ist eine zweite Natur. Es bleibt nur noch zu wissen übrig, in was diese so erwünschte, dem Judentume so eigentümliche Moral bestehe. Wie soll ein Lebenswandel beschaffen sein, der der Phantasie eines Boccaccio würdig schien, um solchen im Schoße des Judentums erstehen, vor sich gehen und vom Nichtjudentum bis zur Eifersucht hierüber nachahmen zu lassen? Hierzu dient die dritte oben angeführte Novelle, die einem sehr reichen Manne Namens Nathan eine derartige Tugend beilegt, dass alle Welt mit ihm zufrieden ist, und der Osten wie der Westen von einem Ruhme widerhallen. Einem armen Weibe, das zwei und dreißig mal hinter einander in ein Haus, das zwei und dreißig Tore hat, eindringt, gibt er Almosen, zwei und dreißigmal hintereinander und wird nicht im geringsten böse. Ja, dem Freund, der sein Leben begehrt, ist er bereit, es wegzugeben, weil es von ihm verlangt wird. Seine Worte und Weltanschauungen sind die weitesten, die gemütlichsten und die versöhnlichsten der Welt. Ist nur noch nachzuweisen, dass hier vom Juden die Rede ist. Schon der Name Nathan zeigt genugsam an, dass der Dichter hier eine jüdische Figur zu zeichnen sich die Mühe gab, unter den Heiligen des christlichen Kalenders nimmt Nathan keinen Platz ein; hingegen ist dieser, dem alten Testamente entlehnte Name unter den Juden zu allen Zeiten zu häufig gewesen, als dass der Dichter einem Nichtjuden keinen anderen Namen, als den so jüdisch klingenden Nathan, beizubringen hätte. Aber auch die so merkwürdige Angabe, dass zweiunddreißig Tore zu Nathans Palast führten, und dass sein Nacheiferer und Nachahmer, Mitridanes genannt, der ebenfalls einen Besuch von dem alten Bettelweibe erhielt, sich schon am dreizehnten Tore ärgerte, kann nur der christlichen und der jüdischen Symbolik entnommen sein. Dass die Zahl Dreizehn in der christlichen Symbolik. Anstoß gibt, weiß Jedermann, dass aber in der jüdischen zwei und dreißig Bahnen zu der Tugend und Gotteserkenntnis führen, möge hier gesagt sein. Ohne auf etwa unzugänglichen Folianten, die in hebr. und lateinischer Sprache von der jüdischen Symbolik handeln, zu verweisen, will ich auf die alltäglichen Gebetbücher der Juden Italiens, die in neueren Zeiten vielfach mit italienischer Übersetzung erschienen sind, beispielsweise die des Fiorentino hinweisen, die das so alte hebr. Gebet an der Spitze haben, das mit den Worten anfängt: Zwei und dreißig sind die Bahnen, die zu dir führen. Einem Mann wie Boccaccio wäre die Kenntnis der Symbolik des alten und neuen Testaments nicht abzusprechen. Leicht möglich, dass in dem von einer Hand geschriebenen Originale des Dekameron, nach dem Namen Nathan das Wörtchen Giudeo (der Jude) sich befand; was aber mittelalterliche Kopisten und Drucker gern wegbleiben ließen, um nicht zu viel Tugend auf Rechnung des Juden kommen zu lassen.*) Eine Manipulation, die sie in der Novelle Melchizedek Giudeo und noch weniger bei Abramo giudeo nicht anwenden konnten und durften.


*) Anm. Fast in allen Ausgaben des Dekameron beginnt die Aufschrift für diese Novelle mit Mitridanes. Dieser Name kommt aber in dem Stücke erst dann zum Vorscheine, als die Novelle bereits im Erzählen vorgerückt ist. Die Suppression eines ganzen kleinen Satzes ist hier in der Aufschrift unverkennbar, der lauten dürfte: Natane Giudeo usando una somma cortesia ne divenne sommamente riputato Mitridanes etc. etc.

Wer in dieser letzten Novelle die nunmehr Natane Giudeo zu nennen sei, tiefer eindringen will, wird finden, dass selten ein geistreicheres Lesestück aus der Feder eines so zu sagen profanen Schriftstellers floss. Es verrät einen tiefen und bewährten Blick des scharfsinnigen Italieners in der weiten Zukunft, die von unserer Gegenwart begrüßt wird. Nathan und Mitridanes *) repräsentieren nicht nur ganz vollständig die jüdische und die christliche Religion, sondern auch den geschichtlichen Verlauf derselben. Die Tugenden des Nathan und der aus zu großem Tugendeifer bei seinem Gegner entstandene Hass sind zu scharf ausgeprägt, als dass diese Novelle für Individualitäten und nicht vielmehr für ganze Völkerschaften berechnet wäre. Wir haben nun zu sehen und zu prüfen, ob nicht der weltgeschichtliche Verlauf dieser Religionen dem Inhalte der Novelle fast in Allem gleiche. – Ich werde Inhalt und Anwendung gegen einander halten.

*) Anm. In der vor mir liegenden Ausgabe des Dekameron ist Mitridanes und nicht Mitridates zu lesen. Wenn ein Mann wie der Autor des besagten Werkes seine außergewöhnlichen Namen nicht dem Ungefähr abborgt, so möge hierdurch angezeigt sein, dass es sich hier weder von Persern, noch von Parthern, sondern von Personen handelt, die wegen des Kopfornamentes, Mitra, wohl Anspielungsweise so genannt werden. (Man vergl. übrigens Moreri, Dictionnaire hist. et critique art. Mitra, wo ein sehr alter Autor von einem Prälaten sprechend zitiert wird mit den Worten: Illius ergo caput resplendens Mitra tegebat) Auch der dem Judentume entlehnte Name Nathan ist nicht aufs Geratewohl gewählt. Die Tugenden Nathans bestehen in Geben; er gibt Almosen; er gibt sein Leben her, Nathan auf Hebräisch bedeutet geben.

Nathan ist mit Jahren beladen und lebt zu lange für den jüngeren Mitridanes, der gern sein Nachfolger sein möchte in dessen Ruhme; er leidet daher im Leben eine Konkurrenz nicht. Indem aber Nathan gar nicht daran ist zu sterben, und lebt und lebt, beschließt Mitridanes dem Leben Nathans gewaltsam ein Ende zu machen. Ist das nicht mit der Geschichte der zwei Glaubensbekenntnisse ganz identisch? Das mit Jahren beladene Judentum wurde von dem jüngeren Christentum, das ihm gern im Ruhme gefolgt hätte, gehasst, es fand eine Konkurrenz lästig, und da das alte Judentum gar nicht daran ist zu sterben, und lebt und lebt, beschloss das jüngere Christentum diesem Leben gewaltsam ein Ende zu machen. Es handelt sich hier um Tugend. Der Zweck der Religionen ist kein anderer. Der Hass entsteht aus Ruhmsucht. Ist das Alleindaseinwollen einer Religion etwas Anderes als selbstgefällige Ruhmsucht, die man ad majorem Dei gloriam nennt? Die Tugend Nathans ist eine derartige, dass er seinem Freunde ein so verlangtes Leben zu Gebote stellt, um ihm zu beweisen, dass er in der Kunst Tugend zu üben wirklich unübertrefflich ist. Haben die Juden während dem ganzen Mittelalter nicht aus Religion ihr Leben geboten, um zu beweisen, dass ihre Religion unübertrefflich sei. Hierüber gerührt, wirft Mitridanes sich Nathan zu Füßen. Hier ist's, wo der gesunde Menschenverstand Boccaccios einen prophetischen Aufschwung nimmt und seine Blicke nach der Zukunft, die unsere Gegenwart begrüßt, erhebt. Wenn das Christentum sich dem Judentume noch lange nicht zu Füßen wirft, so ist es über die mittelalterliche Leidensgeschichte der Juden schon jetzt äußerst gerührt, und indem es ein Verfahren früherer Zeiten desavouiert, so ist dieses die größte Abbitte, die eine so große Religionsgenossenschaft einer kleineren, wenngleich älteren, gegenüber tun kann. Nathan und Mitridanes werden Freunde; die Initiative ergreift Nathan und redet dem sich schuldig fühlenden Mitridanes die Schuld aus; indem eitle Ruhmsucht etwas Menschliches sei und in gar vielen Fällen des Lebens vorkommt. Hier ist die Gegenwart buchstäblich getroffen: das Christentum, weit entfernt das Judentum noch immer hassen zu wollen, ist vielmehr mit demselben ausgesöhnt, es leidet nicht nur eine Konkurrenz, sondern sieht in ihm einen Freund, mit dem es auf der Rennbahn der Tugend wetteifert, ohne hierbei von einer missverstandenen Ruhmsucht, die auf Religion gar nicht anwendbar sei, geleitet zu sein. Die Initiative in der Freundschaft ergreift das Judentum, das gern altes Unrecht vergessen will, um Freundschaft und Gleichstellung im Staate bittet und erhält. Die Natur der Gesellschaft bringt mit, dass die in der Minderzahl sich befindenden schwachen, die unvergleichlich in der Mehrzahl sich befindenden starken Glieder der Sozietät, und nicht umgekehrt, um die Freundschaft angehen.

Deutlich genug für den Forscher, der nicht selten mehr findet, als er zu finden wünscht, durfte Boccaccio verborgen bleiben, wenn er nicht ad majorem Dei gloriam verbrannt sein wollte. Die Schrift selbst erfuhr das Schicksal, dem ihr Autor geistreich zu entgehen wusste; nichts desto weniger kam sie wenig versehrt bis auf unsere Tage.

Der Mann scheint ein Werk gar nicht unterschätzt zu haben; schon die Zahl zehn, die von den Alten nur auf wichtige Dinge angewendet wurde und die er als Dividende für sein Buch annahm, zeigt an, dass er es für wichtig genug hielt, und der Leser habe nur nach beendeter Zehntagelektüre den Zyklus von Neuem zu beginnen.

Es ergibt sich somit, dass schon der allerdings große Geist der einst in der menschlichen Hülle, die den Namen Giovanni Boccaccio trug, zum Ausdrucke kam, sich um die Juden und das Judentum nicht wenig verdient gemacht hat. Und nicht nur wegen der Abfassung der drei resumierten Novellen, sondern auch wegen dem Inhalt der vielen übrigen dieses Buches, das, obgleich es sogleich von den Klerikalen unterdrückt wurde, den Großen, den Machthabern und Prälaten nämlich, nicht unbekannt blieb, und nicht verfehlen konnte, Lichtstrahlen in ihren von mittelalterlicher Finsternis dicht umgebenen Gemütern eindringen zu lassen, um bei einer Anfeindung der Juden es nicht mehr auf das Äußerste ankommen zu lassen, und Szenen wie die der Kreuzzugzeiten seltener zu machen. Gemeingut konnte das Buch selbst nach der Erfindung der Buchdruckerkunst nicht werden. Man gab es Jahrhunderte lang höchst verstümmelt in Händen des Publikums und nur Italien erfreute sich bald mancher vollständigen Ausgabe, und so dachte kein Mensch daran und am allerwenigsten in Deutschland, wo es die Juden am meisten benötigten, dem Boccaccio etwas Gutes nachzusagen. Lessing erst ward es vorbehalten, das geistige Streben dieses Mannes für die Milderung des einst gegen die Juden obwaltend gewesenen Obskurantismus, und zwar unmittelbar durch die zitierten drei Novellen zu verarbeiten. So berühren sich verwandte Geister erst nach Jahrhunderten, sie gleichen jenen Sternen, deren Licht erst nach Jahrhunderten, um nicht zu sagen, nach Jahrtausenden unser Auge begegnet.

Wenn aber in der physischen Welt. Alles schon auf ganz natürlichem Wege vor sich geht, so ist's anders in der geistigen. Es müssen Zufälle vorhanden sein, die die Berührung der Geister bewerkstelligen und eine Wiederbelebung hervorbringen sollen; aber auch diese Zufälle bleiben nicht aus. Dreißig Jahre verstrichen, bis Lessing, nachdem er sein Drama „Die Juden“ herausgab, wieder daran dachte, für dieses Volk wieder etwas zu tun. Die Kraft, die die Geschichte des menschlichen Geistes beherrscht, hat ihre eigenen Wege. Der Zeitpunkt war gekommen, den Geist Boccaccios frisch aufleben zu lassen. Sie wählte hierzu Lessing, an dessen Juden sie den Funken Boccaccios erkannte und sie schuf die Zufälle, die diesen Funken zur hellen Flamme auflodern ließen.

Moses Mendelssohn, ein Jude, ein Philosoph, ein Freund Lessings, hatte sich durch den Ruf einer Tugend die Freundschaft des rühmlichst bekannten Züricher Paters, Namens Lavater, zugezogen, ja zugezogen, denn es gibt Freundschaften, die man sich wie eine Erkältung, oder sonst ein leichtes Leiden, ohne es verhindern zu können, zuzieht. Dieser neue Freund, ein zweiter Giovanni di Civigni, war für das Seelenheil seines jüdischen Freundes in Besorgnis. Aus purer Freundschaft ein Bestes wünschend, machte er dem Juden Moses den Antrag, die Religion Moses aufzugeben und zu der, deren Pater er in Zürich war, überzugehen. Widerspruch und Weigerung brachten den Freund auf die Idee, das bis jetzt im Stillen vor sich gegangene Antragen und Ablehnen auf das Gebiet der Öffentlichkeit zu übertragen. Lavater forderte in einer Schrift den jüdischen Philosophen M. Mendelssohn auf, die christliche Religion zu umarmen, oder dieselbe schriftlich und im Drucke zu widerlegen. Lessing, der dieses zusah, wurde über dieses freundliche Anerbieten nicht wenig ärgerlich.

Nichts ist natürlicher, als dass er in diesem Verfahren einen neuen Angriff des Giovanni di Civigni auf einen Freund Abramo Giudeo sah? Groß musste die Spannung Lessings gewesen sein, zu wissen, ob der Jude Moses in die Fußstapfen des Juden Abraham, den Boccaccio in der jüdischen Religion hinreichend unterrichtet sein lässt, einherschreiten würde, um sich von Lavater aus der Taufe heben zu lassen. Allein, wenn auch der Jude Abraham in dem Zeremonialgesetz des jüdischen Volkes gut unterrichtet war, so war er doch in der Logik zu wenig geübt. Dazu war Mendelssohn zu sehr Philosoph, um offenbar einem Vernunftsschluss ad absurdum zu huldigen. Seine Antwort an Lavater fiel entschieden ablehnend aus, die ihn jedoch von einer unmittelbaren Widerlegung der abgelehnten Religion befreite*). Die Geschichte ging durch diese Antwort von dem Stadium der Novelle Abramo giudeo in das der danebenstehenden, welche Melchizedek giudeo sich nennt über.

*) Man vergl. Mendelsohns sämtliche Werke, Schreiben an Lavater

Lessing konnte also keine bessere Gelegenheit gehabt haben, um sich vom moralischen Werte dieser zwei Novellen hoch zu überzeugen.

Wenn nun dieses allein schon von der Natur war, Lessing, der Schriftsteller und Theaterdichter war, der schreiben wollte und schrieb, auf eine Umarbeitung dieser Novellen zu lenken und anstatt des christlichen Kaufmanns, Patriarchen, Klosterbrüder, Tempelherren und Pflegemütter wie Lavater, mitzunehmen und der Impuls zum Nathan war gegeben, so waren doch die wahren Triebfedern des Unternehmens, die nur aus dem inneren Bewusstsein des Unternehmers hervorgehen dürfen und die bei einem jeden großen Werke conditio sine qua non sind, noch nicht vorhanden. Die Kraft, die die Geschichte des menschlichen Geistes dominiert, entschlossen den Geist Boccaccios in Lessing neu aufleben zu lassen, schuf auch den Zufall, der bei ihm auch die innere Triebkraft zur Abfassung des Nathan fördern soll.

Lessing soll auf der Wolfenbütteler Bibliothek eine Schrift gefunden haben, die er als Fragmente eines Ungenannten herausgab, worin dem Axiom: der Buchstabe sei nicht der Geist und die Bibel nicht die Religion*) Geltung verschafft wird. Christliche Theologen erhoben hierüber ein Zetergeschrei und wenn die Einen Lessing der Ketzerei bezichtigten, so meinten die Anderen, der Sohn des protestantischen Geistlichen aus Kamenz wäre dem Katholizismus ergeben, und achte deshalb die Bibel wenig, indem anstatt ihrer, er lieber einem Papste, als dem Träger ihres Geistes und ihres Buchstabens huldigte. Lessing, der um die soziale Stellung, auf die sein Talent Anspruch hatte, längst und vielleicht wegen seine Juden gekommen war, den Vorwurf der Ketzerei gleichgültig hinnehmen konnte, musste über den Vorwurf seiner Hinneigung zum Katholizismus zur Abwehr entschlossen sein. Der Augenblick war gekommen, Patriarchen, Tempelherren und Klosterbrüdern Possen zu spielen, die wie er sagte ihnen ärger sein dürften als hundert Fragmente; er schrieb seinen Nathan, an den er etwa schon lange und zwar bald nach Verfertigung seiner Juden dachte, der aber durch seine und seines Freundes Moses Mendelssohns theologische Streitigkeiten die Form erhielt, die ihn als das große Produkt Lessings charakterisieren. Eine Analyse des Werkes Nathan der Weise, das von Jedermann als gekannt vorausgesetzt wird, soll dartun, dass in diesem Buche die drei Novellen Boccaccios als zusammengeschmolzen und wie von einem Guss erscheinen.

*) Man vergl. Lessings sämtliche Werke.

Der einen Novelle entlehnte Lessing das didaktische Märchen der drei Ringe, der zweiten entlehnte er das Axiom, dass der Wert einer Religion an der ihr innewohnenden moralischen Kraft, wie sich dieselbe in ihren Bekennern kundgibt, zu erkennen wäre.

Der dritten Novelle borgte er die Person Namens Nathan, in der er den Juden erkannte und ihn als den Vertreter des Judentums in seinem Stücke wählte. Die Rollen, die dem Islam und dem Christentum übertragen sind, sowie das sich so hübsch abwickelnde Märchen von der Familie Filmeck-Stauffen scheint der Dichter, um aus den dafür angezeigten trüben Quellen zu schließen, aus eigenen Mitteln bestritten zu haben. Das Programm des Stückes ist in der Hauptsache dieses:

Assad, ein Moslem, ein Bruder Saladins des Eroberers, reitet eines schönen Morgens ohne Begleitung aus, und kehrt nicht mehr wieder nach Haus. Er folgt einer Christin, die mit dem Kreuzzuge nach dem Orient gekommen war, nach Deutschland zurück, wo er unter dem Namen Wolf von Filneck Christ wird und mit einer Christin einen Sohn zeugt, den er Leu von Filneck nennt. Dem Familienadel seiner Mutter nach Ritter, tritt dieser Sohn schon sehr junge in den Templer-Orden, wo er den mütterlichen Familiennamen annimmt und Conrad von Stauffen sich nennt. Assad der Moslem, nunmehr Wolf von Filmeck der Christ, folgt mit einer Christin einem neuen Kreuzzug und kommt wieder nach dem Orient, um gegen seine alten Glaubensbrüder, ja gegen einen leiblichen Bruder zu kämpfen. Da angelangt, gebärt ihm eine Christin ein Töchterchen und stirbt. Der Kampf wird heiß, eine sehr zahlreiche Judenfamilie fällt als Opfer des christlichen Glaubens- und Kampfeseifers. Wolf rettet dem Familienvater, einem Greise, das Leben, und schließt mit ihm ein Freundschaftsbündnis. Zum neuen Kampfe gedrängt, wird Wolf wegen seines ein paar Wochen zählenden Töchterchens verlegen. Er lässt seinen Reitknecht zu sich kommen, übergibt diesem das Mägdlein mit dem Auftrage, dasselbe dem Juden, einem Freunde, auszuliefern; übergibt ihm ferner ein Brevier, wo eine ganze Sippschaft eingetragen ist, er selber geht kämpfen und fällt. Der Reitknecht entledigt sich eines Auftrages, liefert das Kind an den Juden aus, das Brevier aber für sich als Gebetbuch behaltend; er wird nach dem Tode seines Herrn ein Klosterbruder.

Von diesem Vorgang macht die Amme des Kindes einer christlichen Freundin Namens Daja Mitteilung. Diese begibt sich zum Juden und erklärt ihm, hierüber das Gewissen ängstlich zu haben. Der Jude beruhigt dieses Gewissen durch Geschenke; da die Frau übrigens eine Witwe und arm ist, bestellt er dieselbe als Pflegemutter des Kindes in ein Haus; ich jage Pflegemutter, denn Erzieher ist er selber. Das Gewissen der armen Frau wird von Zeit zu Zeit wach und überströmend, wird jedoch immer vom Juden durch neue Geschenke auf das rechte Maß zurückgebracht. Der Jude samt der kleinen Adoptivtochter und der verwitweten Pflegemutter beziehen eine Wohnung in Jerusalem, wo Saladin thront; er selber unternimmt Geschäftsreisen und bleibt oft vom einem Hause weg.

Ein neuer Kreuzzug, kommt nach dem Orient und bringt in seinem Gefolge den jungen Ritter, den Templer, den Sohn Wolfs, eigentlich Assads. In die Reihen eines Ordens tretend, bricht dieser den mit Saladin geschlossenen Waffenstillstand. Von Saladin überwältigt, sind alle Templer bis auf einen – zwanzig an der Zahl – des Todes, der Sultan wohnt der Hinrichtung an.

Schon schwingt der Henker das tödliche Beil über das junge Haupt unseres Ritters, als Saladin diesem nochmals in die Augen sieht und in ihm den Gesichtstypus eines verschwundenen Bruders Assad erkennt; er gebietet Pardon und lässt den jungen Mann laufen. Sich einer wahren Herkunft wohl bewusst und dem Sultan sein Leben schuldig, beschließt dieser, nimmermehr die Waffen gegen den Islam und noch weniger gegen seinen Oheim, den Sultan Saladin, zu führen; sich Niemanden vertrauend, verschwiegen und misstrauisch treibt er sich in Jerusalem müßig herum.

Ein Haus brennt, das des Juden, der auf Reisen ist, der müßige Templer kommt herbeigeeilt und mischt sich unter die Neugierigen. Ein Jammerschrei dringt aus der Feuersbrunst zu den Ohren der Menge; es ist die Tochter des Eigentümers, des Juden, die um augenblickliche Hilfe ruft. Keiner wagt es, sein Leben den von dichtem Rauche umgebenen Flammen anzuvertrauen, das Mädchen wird aufgegeben. Unser Templer, vom Pfeil der Menschenliebe getroffen, springt in das Feuer und entreißt dem Todesengel sein Opfer; das Mädchen auf starkem Arme tragend, erscheint er unter der Menge wieder, Niemand ist versehrt, ein Mantel hat ein wenig gelitten.

Was ist natürlicher, als dass sich zwischen dem jugendlichen Templer und dem Judenmädchen ein Liebesverhältnis mit all seinem Zugehör gestaltet, das bis zum Heiratsantrag heranreift, wobei sich die christliche Pflegemutter als Ehestifterin sehr geschäftig zeigt. Der Jude, der heimgekehrt ist, nimmt keinen Anstand, eine christlich geborene Adoptivtochter an einem Christen zu vergeben, will sogar auf die Verbindung ein großes Vermögen setzen, glaubt jedoch zuerst über die Familie des Brautwerbers im Klaren sein zu müssen.

Als er vernimmt, dieser, der Herr Templer, nenne sich Courd (Conrad) von Stauffen, steigen in einer Brust Vermutungen auf, der Brautwerber könne ja dem Mädchen in einem Grade verwandt sein, der eine eheliche Verbindung zwischen denselben unzulässig macht. Ohne hiervon etwas spüren zu lassen, nimmt er vorläufig den Heiratsantrag Seitens des Templers kaltblütig auf, sein Jawort bleibt derweilen aus. Tempelherr und Pflegemutter verlieren die Geduld. Besonders wird bei der letzteren das zwei Jahrzehnte beinahe durch Geschenke fortwährend beruhigte Gewissen wiederum so ängstlich, dass es nicht mehr zu beschwichtigen sei. Sie beschließt, die achtzehnjährige Adoptivtochter des Juden ihrem Vater durch Gewalt entreißen zu lassen und der Religion, der sie der Geburt nach angehört, zurückzugeben.

Was geschieht, der Jude wird an die christliche Geistlichkeit der Stadt Jerusalem verraten, der Patriarch dieser Stadt gelangt zum Schluss: der Jude wird verbrannt.

Zum Glück gehen die Sachen in einem Staate vor, dessen Regierung der Geistlichkeit keinen Vorschub leistet, und das noch so garantierte, sogenannte päpstlich-kaiserliche Recht hat keine Wirkung. Der Spruch des Patriarchen, der sich auf dieses Recht beruft, bleibt eine Stimme in der Wüste.

Der Herr Tempelherr, getäuscht in seiner Erwartung, zum Teil auch seinen bei dem Patriarchen getanen Schritt bereuend, geht zum Sultan in der Absicht hin, sich ihm zu entdecken, um von ihm das dem Juden allerdings durch Gewalt zu entreißende Mädchen zu erhalten. Kaum sieht der Sultan den Typus eines Bruders Assad wieder, als er alles verspricht, der Templer hat gar nicht nötig, sich zu entdecken. Das Mädchen wird nach dem Palast Saladins gebracht.

Der Jude, der mittlerweile durch die eingetretene Berührung mit der Geistlichkeit in den Besitz des in Händen des noch lebenden, zum Klosterbruder avancierten Reitknechtes sich befindenden Breviers gelangt, eilt damit um Blutschande zu verhindern zum Sultan, die Sachlage klärt sich und ein doppeltes Wiedererkennen von Geschwistern tritt ein. Der Jude heißt Nathan, ein Märchen von den drei Ringen ist bloß eine Episode zum Ganzen, die aus der Geldnot des zu milden Saladin herbeigeholt, mehr für die Didaktik des dramatischen Gedichtes, als für den historischen Verlauf desselben berechnet ist.

Außer diesen Vorgängen die zum Teile dem Drama als Antizedenzien voranzuschicken sind, herrscht auch im Privatleben des beteiligten Personals keine Leere. Im Palast des Sultans wird viel Schach gespielt, ökonomisiert und spekuliert, was einem Finanzminister der dem Juden gut ist, viel Verlegenheit macht.

In der Umgebung des Klosters wird viel politisiert, und im Hause des Juden humanisiert und instruiert.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lessings Verdienste um das Judentum