Charakter der deutschen Physiologie und Medizin

17. Indem wir den Missbräuchen in der Anwendung der chemischen und mechanischen Theorien in der Physiologie und Medizin entgegentreten, wollen wir keinesweges die großen Dienste verkennen; welche Physik und Chemie der Physiologie und Medizin geleistet haben. Jetzt aber sind Physik und Chemie nicht im Dienste der Physiologie, sondern sie haben sich die Herrschaft in derselben angemaßt; so dass die Physiologie als Lebenslehre in den toten chemischen und mechanischen Theorien untergegangen ist und der Name Physiologie nur noch für ein Aggregat anorganischer Doktrinen gemissbraucht wird. Die Physiologie hat ihre Selbstständigkeit, man darf sagen, sie hat den Kopf verloren und es ist ihr von der Chemie und Physik ein Totenkopf aufgesetzt worden; ja sie stellt nur noch ein armseliges Gerippe toter Knochen vor. Diesen Zustand wollen wir zur Anschauung bringen, und der Physiologie zur Eigenmacht und Selbstständigkeit verhelfen; wobei Chemie und Physik als Lebensmittel der Physiologie dienen können, ohne sich an die Stelle der Lebenstheorien selbst zu setzen. Überall in der Physiologie und Medizin müssen wir den Weg des Lebens gehen, wenn wir zur Gesundheit gelangen wollen. Wir dürfen die Lebenskraft nicht verwerfen; sondern nur die Lebenskraftlehre verbessern. Dann bleiben wir auf den Wegen deutscher Wissenschaft. Nur durch die, wenn auch unvollkommene und mystische Idee des Lebens ist Paracelsus dem römischen Mechanismus, der toten galenischen Qualitätenlehre, der alten griechischen Humoral und Dyskrafieenlehre entgegengetreten; nur durch das, wenn auch dunkel geheimnisvoll, darin steckende Leben hat diese Lehre gewirkt. Das wissenschaftliche Zerstören der Lebenskraft ist eine Zerstörung des deutschen Charakters der Physiologie und Medizin, wie sie schon durch die jatromathematischen mechanischen Lehren von Borelli und Bellini im romanischen Geiste versucht wurde. In den Adern der neueren Iatrophysik strömt noch altes griechisches und römisches totes Blut, wodurch kein Bildungstrieb, kein Fortschritt der Wissenschaft möglich ist.

Die Naturwissenschaften der neusten Zeit streben wie die politischen Zeitideen dahin; die Ansichten des Mittelalters zu beseitigen oder zu zerstören; die Neigung zum Mystizismus und der Glaube an übernatürliche Kräfte und Geister; man drängt aus dem geheimnisvollen Dunkel zur Aufklärung und zum Licht. Es ist auch keinem Zweifel unterworfen, dass wir über den Zustand der Wissenschaft im Mittelalter hinausgehen müssen, wenn wir überhaupt fortschreiten wollen. Indessen müssen wir uns dabei über den Charakter der mittelalterlichen Wissenschaft und ihr Verhältnis zum Altertum erst klar werden, und dann einen sicheren Weg finden; auf dem wir wirklich zum Fortschritt in der Naturwissenschaft und Medizin gelangen können. Allein wie die Sachen jetzt stehen, schreitet die Wissenschaft nicht über das Mittelalter hinaus zu einer neuen Stufe fort, sondern sie geht vielmehr zu den Prinzipien des Altertums zurück; sie verwirft den zum Leben strebenden mystischen Dynaimus des Mittelalters, um wieder die antike todte Elementen-, Qualitäten- und Dyskrafieenlehre an deren Stelle zu setzen. In der Moral und Politik hat man sich theoretisch gegen den Satz Stahls, dass die Wissenschaft umkehren müsse, aufs äußerste gewehrt; in der Medizin triumphiert man, dass man stillschweigend in Praxi von der Neuzeit zum Altertum völlig umgekehrt ist. Im Mittelalter glaubte man froh sein zu können, dass der todte Aberglaube an die toten Mächte überwunden und beseitigt sei; jetzt hält man die mittelalterlichen, Ansichten für Aberglauben und sucht die neue Wahrheit in den starren, leblosen Ansichten des Altertums. Dann müsste das Mittelalter der Sündenfall der Wissenschaft sein. Wenn, wie nicht zu bezweifeln, das Mittelalter wirklich einen Fortschritt über das Altertum hinaus enthält; so müssen wir uns über die Prinzipien desselben klar werden. Es sind nach unsrer Ansicht die Lebensprinzipien, die in dem Zustande des dunklen Mystizismus im Mittelalter zum Bewusstsein gelangt sind, und die nicht zu verwerfen, sondern zur wissenschaftlichen Klarheit auszubilden sind. Das Mittelalter hat große Unvollkommenheiten darin, dass es nach Leben nur durch den Glauben an dasselbe strebte; und sich aus der Wissenschaft ins dunkle Mysterium zurückzog; daher die träumerischen schwärmerischen Idealismen jener Zeit. Die Unvollkommenheit lag in dem unentwickelten Keimzustande eines neuen Menschenbewusstseins. Mit der Zerstörung dieses Bewusstseins zerstört man aber das Leben in der Wissenschaft selbst, indem man den Tod auf ihren Thron setzt; man zerstört dadurch den Lebensgeist der deutschen Medizin. Dann suchen wir in Hygieia und Äsculap noch die alten Gesundheitsgötter, und stellen todte Gottheiten als Symbole der nach Leben strebenden Wissenschaft hin; wir kehren, indem wir fortschreiten wollen, zum Aberglauben des Hesiodus und Homer zurück, und wollen mit der geheimnisvollen, dunklen, alten Mythologie unsre neue Wissenschaft und Aufklärung erhellen. So sucht man das Leben auf dem Wege des Todes. Dagegen wollen wir uns erheben. Der wahre Gesundheitsgott, den wir uns zu schaffen haben, muss ein lebendiger sein, der den Tod zu bewältigen die Macht hat; es darf kein toter olympischer oder kosmologischer Gott sein. Die wahre Hygieia ist das Leben und die Lebenskraft der Wissenschaft; nicht der abstrakten Wissenschaft, sondern das konkrete Lebensprinzip in ihr. Diese Lebenskraft können wir nur gewinnen, wenn wir die Welt als ein solches Ganze ansehen, in welcher das Leben herrscht und der Mensch in Wahrheit zum Herrn der Erde gemacht wird, was für die kosmologischen Theorien ein frommer Wunsch bleibt. Affekten ist das, was dem Gange des Lebens zuwider ist; die kranken und faulen Zustände herbeiführt. Die menschliche Gesundheit überall ist das Natürliche für den Menschen; und da die Gesundheit nur im Leben ist, so ist das Leben das Natürliche; das Unnatürliche ist das Todte auf allen menschlichen Gebieten. Das Natürliche für den Menschen können wir also im Gebiete der Natur überhaupt, in den Sternen und Planeten in der Astronomie, Geologie, der Mechanik und Physik nicht finden, weil es ein Zustand des Lebens, und kein allgemein naturgesetzlicher Zustand ist. Die physikalische, mechanische, chemische Physiologie ist daher eine unnatürliche Lehre, wodurch der Mensch, anstatt zum Herrn der Erde, zum Knecht toter Mächte gemacht wird. Sie führt zu einem künstlichen System, wie es das Linné'sche System der Pflanzenklassifikation war, überhaupt zu verschrobenen Zuständen des menschlichen Lebens.


Das Leben steht über den Geist und über der Materie; auch der Zeitgeist muss lebendig sein und den Tod bewältigen können, wenn er zur wahren Kultur und Zivilisation führen soll. Und so wünschen wir, dass unsere Wissenschaft und unser Vaterland Leben und Lebenskraft bewahre, an Lebenskraft zunehme, und sich dadurch stärke, und dass die deutsche Wissenschaft in der Lebenskraft ihren wahren Charakter finde, da sich von allen toten Lebensresiduen in der Wissenschaft selbst zu reinigen im Stande ist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben, Gesundheit, Krankheit, Heilung