Verjüngungstheorie des Lebens

14. Es hat mich dahin geführt, die sogenannten allgemeinen Naturgesetze ihrer unberechtigten Allgemeinheit zu entkleiden, und als besondere physikalische und chemische Gesetze hinzustellen, welche nur für die todte Natur Gültigkeit haben; und ebenso ein eignes Gesetz des organischen Lebens aufzustellen: das Gesetz der Verjüngung, weil in der Verjüngung der allgemeine Grundcharakter des organischen Lebens liegt, durch welchen allein er sich von der toten Natur unterscheidet.

Die dynamischen, idealistischen Lebenslehren sind seit und mit Haller und John Brown in dem Irrtum befangen gewesen, dass sie die Reizbarkeit als allgemeinen Lebenscharakter angesehen haben, und dass sie diese Reizbarkeit als eine geheime, nicht lebenstätige, sondern nur lebensfähige, an sich untätige Kraft betrachtet und charakterisiert, haben, welche erst der äußeren Reize zur Hervorbringung des Lebens bedürfe. Hiernach sind dann dem Leben zwei Faktoren: Reizbarkeit und Reiz gegeben worden, deren Zusammenwirken erst das Leben (die Funktion der Organe) bilden sollte. Diese Reizbarkeitslehre hat dann in der Praxis wieder zu der alten Kausalitätslehre zurückgeführt, nach der, wie in der neueren Chemiatrie, die Ursache des Lebens nur in den äußern Lebensbedingungen und deren Qualitäten, der Lebenszweck in den Lebensmitteln, gesucht wird, über die Reizbarkeitslehre hinwegzugehen, war die erste Bedingung einer lebenskräftigen Physiologie, wie ich sie in der Verjüngungslehre zu geben versucht habe; da es viele unzweifelhaft lebende Teile gibt, welche nicht zu Bewegungen reizbar sind, und viele reizbaren Teile selbst die Muskeln ihre Reizbarkeit verlieren können, ohne das Leben zu verlieren.


Die Verjüngung findet nur an dem Formgebilde der Organisation statt, die Organisation ist ihr Substrat, und nicht die Stoffe; sie darf also mit dem sogenannten Stoffwechsel nicht verwechselt werden; da die chemischen Stoffe keine Lebenseigenschaften besitzen. Sie vereinigen in sich, eine Selbstbewegung und Selbsterregung, welche der äußeren Reize ursprünglich nicht bedarf, und sich wo Reize einwirken, gegen diese assimilierend verhält; so dass die Reize nur als äußere (nicht innere) Lebensbedingungen, nicht als Faktoren des Lebens selbst, erscheinen; die Reizbarkeit aber die Selbsterregung zur Voraussetzung hat. Die Verjüngung hat innere feste Punkte der Bewegung, worauf ihre Selbsterregung beruht.

Darin beruht die Eigenmacht des Lebens, wodurch es sich von der toten Natur unterscheidet, gegen diese wehrt und sie als Lebensbedingung verarbeitet, und sich zugleich individualisiert; und als Individuum die Natur überwindet und beherrscht. Der lebende Organismus bildet daher so viele Funktionen aus, als er Seiten der Außenwelt zu überwinden hat. Das Sichabschließen, Abgrenzen gegen die Außenwelt gehört zum innersten Wesen der Individualisierung. Hier ist kein harmonisches Ineinandergreisen allgemeiner Naturkräfte, welche in der lebenden und toten Natur identisch sind; sondern ein Gegenüberstehn grundverschiedener, besonderer Naturkräfte, von denen die lebenden ihr eignes Ziel und ihren eignen Zweck verfolgen. Leben und Tod sind nicht identische nicht analoge, sondern entgegengesetzte Prozesse, und müssen für die Medizin als solche begriffen werden.

Dieser Lebenszweck ist durch die Individualität des Körpers und die Persönlichkeit des Geistes vorgezeichnet. Es ist der Zweck des Lebens das Tote zu überwinden und die Individualität durch Verjüngung zu höheren Stufen der Vollendung und Veredelung auszubilden. Durch die Verjüngung ist das Leben ewig und trotz alles Strebens, nicht aus der Welt zu bringen. In diese Stufenentwickelung und Veredelung der menschlichen Persönlichkeit ist alle Kultur und Zivilisation, und auch das Wesen der Medizin begründet. Nur wenn die Medizin als Kulturwissenschaft aufgefasst wird, kann sie ihre Mission erfüllen. Hierbei muss überall über den naturnotwendigen Kreislauf der Stoffe, über den Stoffwechsel hinaus und zur menschlichen Freiheit übergegangen werden. Die Medizin ist eine freie, nicht eine naturnotwendige Wissenschaft. Die Iatrophysik betrachtet die Medizin als eine Wissenschaft, die nur die naturnotwendige Aufklärung und nicht den Menschen selbst zum Zweck hätte; aber mit Unrecht. Der Irrtum liegt darin, dass man immer noch den alten abstrakten Begriff der Teleologie, als Weltzwecklehre, im Auge hat, wonach der Mensch nur für den Zweck der Außenwelt; nicht umgekehrt die Außenwelt für den Zweck des Lebens und des Menschen da ist. Der höchste Zweck ist aber nicht der Weltzweck; sondern der Lebenszweck des Menschen. Dieser wird nur durch Verjüngung erreicht; das Leben und die Verjüngung ist die Weltregierung; und auch die Regierung, das Gesetz und die Herrschaft in der Medizin. Die Medizin ist von dem Begriff des Lebens getragen; ohne Leben keine Medizin. Darin liegt die hohe Bedeutung des organischen Lebens für die Heilkunst.

15. Um unsere Absicht zu verdeutlichen, wollen wir die zwei Grundanschauungen oder Weltauffassungen hier zusammenstellen:

1. Auffassung des Menschen im Naturzusammenhange, im Sinne der alten Weltanschauung und der neueren Physiokraten und Kosmologen. Baco v. Verulam, Rousseau und das Système de la nature, Montesquieu, des neueren Materialismus, Vogt, Moleschott, Liebig, A. v. Humboldt.

Hiernach sind die physikalischen, sogenannten allgemeinen Naturgesetze alleinherrschend in der Welt; es ist eine anorganische kosmologische Autokratie; der Mensch wird von der Außenwelt regiert; die Sitten, die Lebensart, die Staaten, Kirchen, die juristischen Gesetze sind von Klima, Boden, Witterung bedingt. Man sieht das Große darin, den Menschen im Weltzusammenhange; aber in einem solchen Zusammenhange aufzufassen; dass der Mensch seiner Freiheit beraubt und zum Sklaven der sogenannten allgemeinen Naturgesetze gemacht wird.

In dieser Auffassungsweise herrscht der Tod, der Tod ist die Weltregierung; die Erde ist der Herr des Menschen.

2. Auffassung der Natur im Menschenzusammenhange. Dies ist die Grundanschauung der Herrschaft des Lebens; die Auffassung des Menschen als Herrn der Erde. Dahin drängt die neuere Zeit, die sich aber mit der alten Wissenschaft noch nicht hat abfinden können. Man empfindet, dass die Sitten, das Menschenrecht aus dem Bewusstsein des Menschen hervorkeimen; aus der Persönlichkeit; allein indem man die Natur des Menschen untersucht, verfällt man in den alten Fehler, den Menschen wieder zur Maschine zu machen, und so hat man wieder maschinengesetzliche Sitten, Medizin, Rechte. Der Grund hiervon liegt darin, dass die Wissenschaft den prinzipiellen Unterschied von Leben und Tod nicht kennt, und das ganze wissenschaftliche Handwerkszeug, das alte Organon, die Logik, darauf führt, sich zu beweisen; dass Leben und Tod identische Dinge seien. Die anabiotische Auffassung beruht nun darin, das Leben als die höhere Macht und über Geist und Materie stehend zu erkennen; den toten Geist wie die todte Materie als dem Leben untertan zu betrachten, und das Ziel des Lebens in der Überwindung des Todes zu suchen, das Leben zur Herrschaft in der Körper- wie Geisteswelt zu machen. Was nun das Verhältnis der Anabiotik zur idealistischen Lebensauffassung betrifft, so ist es einfach dieses; dass der Idealismus das Leben, nämlich als allgemeines Naturleben, und damit auch die Lebenskraft aus dem Geist in abstracto ableitet; die Quelle des menschlichen Lebens also in dem Weltgeist sucht; die Anabiotik aber umgekehrt den Menschengeist aus dem Leben und das Leben aus seinen eigenen Verjüngungsgesetzen ableitet; so dass das Leben über dem Geist steht und der Menschengeist nur durch das Leben sein Dasein hat; wogegen der Weltgeist kein Dasein hat und nur in der Hypothese oder im alten Götterglauben existiert.

Die tote Natur ist keiner höheren Stufenentwickelung, keiner höheren Vollendung und Veredelung, keiner Kultur und Zivilisation, die wir suchen, fähig; die tote Natur ist unverbesserlich, weil sie fertig, wie man sagt nach ewigen Naturgesetzen einen Kreislauf beschreibt in dem sie abgeschlossen ist. Die allgemeinen Naturgesetze, welche diese Welt regieren, können uns also aus diesem geschlossenen Kreise heraus nicht zur höheren Vollendung, zur Lebensveredlung, zur Kultur, nicht zur Menschlichkeit führen; es sind, darf man sagen, unmenschliche Gesetze. Das Gesetz der Verjüngung dagegen ist das allein menschliche Gesetz.

16. Von der toten Natur und ihren allgemeinen Naturgesetzen (vom sogenannten Stoffwechsel) ist keine menschliche Hilfe zu hoffen. Sie geht unbekümmert um den Menschen, der in ihre Welteinheit eingeschlossen sein soll, ihren Gang; sie schützt ihre Angehörigen nicht; sie ist unvernünftig. Die tote Natur nimmt keine menschliche raison an. Oerstedt und Herschel sprechen zwar von einer Weltvernunft, einem Weltvernunftreich; geben diesem aber kein Substrat keinen Sitz, obgleich sie sonst Substrate für alle Dinge verlangen. Wir müssten sie in den Sternen suchen. Man weiß nicht wohin man sich an diese Weltvernunft wenden soll. Sicher ist nur, dass diese Weltvernunft keine Menschenvernunft hat; keinen gesunden Menschenverstand in ihrem Tun und Treiben zeigt. Das Feuer, die Wasserfluten, die Stürme auf Meer und Land, die Erbeben und Vulkane vernichten tausende von unschuldigen Menschen durch ihre rohe Gewalt, durch ihre chemischen und physikalischen allgemeinen Naturgesetze, welche die physikalische Physiologie als die höchste Menschenregierung preist. Diese lobten Naturgesetze sind unvernünftig und unbarmherzig zugleich gegen den Menschen; sie haben keine Menschenliebe, sie bekümmern sich nicht um das Menschenwohl und es ist eine traurige Verirrung des Materialismus der physikalischen und mechanischen Physiologie die Menschenliebe außer dem Menschen in der toten Natur zu suchen. Die Fluten des Wassers der Gangeszuflüsse und des Nils verschlingen ihre alten Anwohner, die das Nasser anbeten; das Feuer brennt auch die Feueranbeter, die es seit Jahrtausenden verehren.

Die Theorie des Weltabsoluten, des sogenannten Weltgeistes gehört einer Wissenschaft an, welche die Macht des Lebens noch nicht empfunden hol. Sie ist mit den Taten und Begriffen des Bewusstseins als Selbstbewusstsein, mit dem politischen Bewusstsein des Volks, mit dem sittlichen, dem Rechtsbewusstsein mit der Persönlichkeit, von deren Stufenentwickelung die Weltgeschichte getragen wird; dem persönlichen Gewissen ebenso wenig als mit dem organischen Bildungstrieb zu vereinigen. Der philosophische Weltgeist hat wie kein persönliches Selbstbewusstsein, kein persönliches Gewissen; so auch kein Gesellschafts- kein Staatsgewissen; wodurch Ehre Gut und Blut erhalten und gebildet werden. Das Rechtsbewusstsein, sittliche Bewusstsein, soll Festigkeit, Sicherheit und Würde der menschlichen Handlungen nach sittlichen und Rechtsgrundsätzen in der Politik; nach Heilgrundsätzen in der Medizin geben. Man verlangt dazu einen Plan, ein Programm, eine Handlungsidee, wie in der Medizin eine Heilidee; ein Prinzip; und der Schöpfung dieser Ideen liegt die menschliche Freiheit und Selbstbestimmung zu Grunde, welche aber mit dem naturnotwendigen Leerlauf; der im Kreislauf in sich zurückgehenden Ordnung der Tätigkeiten des Weltgeistes, der Weltharmonie, nicht zu vereinigen ist; sondern allein den menschlichen Lebensgesetzen entsprechend gebildet werden muss. Was man den absoluten Endzweck der Welt, den Weltgeist als moralische Weltordnung nennt, ist reine Hypothese, bloßes Hirngespinst und Aberglauben der alten Weltanschauung; ihr Dasein ist niemals bewiesen worden. Diese sogenannte ewige Weltordnung ist der tote Kreislauf der Natur, die dem Menschen die Außenwelt ist. Darin ist kein Herz, keine persönliche Freiheit, keine Selbstbestimmung und Selbstregierung, keine Heilidee, keine Kulturidee, die also aus der Weltseele und der moralischen Weltordnung der Sterne und Planeten nicht abzuleiten sind.

In dem Walten der toten Natur ist wie keine persönliche Freiheit, keine Liebe, so auch keine Wahrheit, keine menschengöttliche und keine menschliche Weisheit, keine Sittlichkeit, keine Treue, keine Rechtschaffenheit; vor allen keine Wissenschaft und Kunst als Träger der Weisheit.

Mit diesem toten Weltgeist kann man zu keiner menschlichen Wissenschaft und Kunst gelangen. Wir sehen eine Millionen Jahre alte Tätigkeit der Natur in der Urwelt; aber der urweltliche Weltgeist, welcher doch auch der heutige sein soll, obgleich er Mammute und Riesenfaul-Tiere erzeugt, und Erdrevolutionen auf Erdrevolutionen getürmt hat, ist unfähig gewesen Kunst und Wissenschaft hervorzubringen; erst mit dem Leben der Menschen tritt diese neue Schöpfung hervor, welche zugleich ein Beweis für die Unfähigkeit und Sittenlosigkeit des Weltgeistes und den Mangel aller Weisheit in menschlichen Dingen in ihm ist. Dieser sogenannte Weltgeist hat kein Menschenwerk, keinen irdenen Topf, geschweige denn Wissenschaft und Kunst hervorbringen können.

Die Philosophie hat sich in der Weltseelenlehre eine naturwissenschaftliche Aufgabe gestellt, wo sie das kunstwissenschaftliche Rätsel des Menschengeistes zu lösen vor sich hatte.

Den wichtigsten Punkt in der Lehre von der Weltvernunft oder dem Weltgeist bildet gewiss das Verhältnis des Menschen und seiner Werke zu der angenommenen moralischen Weltordnung. Dieses Verhältnis betrifft außer der Bedeutung von Leben und Tod überhaupt, die Begriffe und die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit; von gut und böse; von recht und unrecht; von menschlicher Freiheit und Naturnotwendigkeit, von Selbstbestimmung und Abhängigkeit; Schuld und Unschuld; Verantwortlichkeit und Unverantwortlichkeit; von Freiheit und Gesetz; von Naturgesetz und menschlichen Gesetzen.

Um diese Verhältnisse drehen sich die wichtigsten Fragen des Menschengeschlechts, die eigentlichen Lebensfragen, welche aber die (Weltvernunft) Kosmoslehre bisher gar nicht, oder auf eine unbefriedigende Weise hat beantworten können; so dass das größte Kopfzerbrechen, und die unnatürlichsten Ansichten über die obengenannten Dinge dadurch entstanden sind. Der Mensch bleibt nach dieser Lehre ein totes Rad in der Weltmaschinerie, und wie Leben und Tod, so sind nach ihr Gesundheit und Krankheit, Recht und Unrecht, gut und böse, Schuld und Unschuld, Freiheit und Notwendigkeit, alles identische Dinge für den Menschen; ihr Unterschied ist ein bloßer Schein.

Diese Lehre ist auf die Medizin als Heilkunst; auf Menschenrecht und Menschenwohl, auf Politik, Moral völlig unanwendbar, und steht mit aller menschlichen Praxis und Kunst überhaupt mit aller menschlichen Kultur in einem absoluten Widerspruch. Denn die Bestimmungen von Krankheit und Gesundheit, von Recht und Unrecht, gut und böse, Tugend und Laster, Freiheit und Gesetz sind die Träger und Bedingungen aller Kultur und aller menschlichen Veredlung, und wer sie leugnet, leugnet alle Kultur. Wenn Kultur und Veredlung überhaupt trotzdem vor sich gehen; so gehen sie ohne die Lehre der Weltvernunft; ohne diese Wissenschaft, die sich an menschliche Kultur gar nicht heranwagen darf.

Die medizinischen Begriffe und die Natur von Gesundheit, Krankheit und Heilung sind hier die wichtigsten, und stehen vor allen andern obenan. Denn wir sprechen auch von Gesundheit und Krankheit der ganzen menschlichen Bildung; der Politik, der Moral, der Erziehung, und wenn wir medizinisch nicht wissen, was Gesundheit und Krankheit ist; so können wir von kranker und gesunder Politik, Moral, Erziehung u. s. w. gar nicht sprechen. Die Wege aller menschlichen Praxis und Kultur sind organische Lebenswege; nicht Weltlebenswege, oder Weltvernunftwege; es sind Wege desjenigen Lebens, was den Tod beherrscht.

Nur durch die Wirkung der Lebensgesetze allein; durch Wissenschaft und Kunst, als Werken des Lebens, können wir den Wirkungen der toten Natur Widerstand leisten; indem wir ihre feindliche Natur in freundliche Mittel für unsre Lebenszwecke umlenken. Die Karlsbader Quellen haben nicht von Natur Heilung bewirkt, sie haben ihren Ruf nicht den allgemeinen Naturgesetzen zu verdanken; erst der Lebensgeist der Medizin hat ihre Heilkraft erkennen gelehrt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Leben, Gesundheit, Krankheit, Heilung