Ebbe und Flut.

Der Binnenländer, der nach unserer Nordseeküste oder ihren Flussmündungen verschlagen wird, steht nach wenigen Stunden dem großartigen Naturphänomen der Ebbe und Flut gegenüber, und mag er der Natur auch noch so entfremdet sein und in dem Leben der Großstadt die Naturerscheinungen noch so gleichgültig an sich haben vorübergehen lassen, dies Phänomen des in ewiger Abwechslung steigenden und fallenden Wasserspiegels, soweit sein Auge reicht, muss ihn packen und in ihm den Wunsch erwecken, etwas näheres davon kennen zu lernen. Im Allgemeinen dürfte sich nun die Kenntnis über Ebbe und Flut auf die recht unzureichende, dunkle Vorstellung beschränken, dass sie mit dem Mond zusammenhängen und eine Folge der Anziehungskraft desselben sind. Mehr davon zu erfahren, ist schon deshalb schwierig, weil man bei dem Unternehmen sofort wissenschaftliche Deduktionen mit in den Kauf nehmen muss, in die sich zu vertiefen, die meisten weder Zeit noch Lust haben.

In dem Nachstehenden ist der Versuch gemacht worden, diese Naturerscheinung in einer Form darzustellen, dass sie den Leser nicht ermüdet, sondern das Wissenswerte so vor Augen führt, dass er dadurch in Stand gesetzt wird, das Meer und sein Wirken und all die interessanten Erscheinungen am Strande, die durch Ebbe und Flut bedingt werden, mit Verständnis und Interesse zu betrachten.


Bei den Erklärungen sei zunächst das Allgemeine angeführt, um dann allmählich auf das ganz nahe Liegende, die Hoch- und Niedrigwasser-Erscheinungen an unseren Küsten und schließlich auf die Hochwasserzeiten, Fluthöhen, Springfluten und Sturmfluten überzugehen.

Am leichtesten wird man sich über das Wesen der Ebbe und Flut oder die Gezeiten oder die Tide (von dem englischen tide), wie man an der Küste sagt, klar, wenn man sich zunächst die Erde nur mit Wasser bedeckt vorstellt. Die Anziehungskraft des Mondes, seines Umkreisens der Erde und die Umdrehungen der Erde selbst würden sich dann folgendermaßen äußern:

Das Wasser direkt unter dem Monde wird von diesem stärker angezogen, als der Mittelpunkt der Erde, da es dem Monde näher ist, infolge dessen hebt es sich und bildet gewissermaßen einen Berg, die sogenannte Flutwelle. Dieselbe beträgt im offenen Meere etwa 1 Meter und ist von ungeheurer Ausdehnung. Es bildet sich nun aber nicht nur eine Flutwelle an der dem Mond zugekehrten Seite, sondern auf der entgegengesetzten Seite der Erde ebenfalls und zwar ist hier die Ursache die umgekehrte. Das Wasser ist hier weiter vom Mond entfernt als der Mittelpunkt der Erde, es wird weniger stark angezogen und bildet durch die hinzuströmenden Wassermassen auch hier einen Berg. Die Wissenschaft nimmt zwar auch eine Deformation des elastischen Erdkörpers durch die Anziehungskraft des Mondes an; auf dies noch wenig erforschte Gebiet hier näher einzugehen, dürfte sich aber erübrigen, da die obigen Erklärungen für unsere Zwecke ausreichen.

Die beiden Flutwellen umkreisen nun die Erde, dem Mond auf seiner Bahn von Osten nach Westen im ewigen Kreislauf folgend. Denkt man sich hierbei auf einem bestimmten Punkt der Erde stehend, so muss innerhalb von 24 Stunden infolge der Drehung der Erde nicht allein die direkt unter dem Mond befindliche Flutwelle durch diesen Punkt gehen, sondern nach 12 Stunden auch die entgegengesetzte Flutwelle, mit anderen Worten: Es ist zweimal Hochwasser und in den Zwischenzeiten Niedrigwasser. Die Erklärung für den ungefähr sechsstündigen Wechsel der Gezeiten wäre hiermit also gegeben.

Es ist gesagt worden — ungefähr — , denn in Wirklichkeit verschieben sich die Hochwasserzeiten von Tag zu Tag um za. 50 Minuten und zwar in der Weise, dass jedes Hochwasser am nächsten Tage 50 Minuten später eintritt als an dem vorhergehenden. Der Grund hiervon ist darin zu suchen, dass der Mond infolge seiner Umlaufszeit um die Erde von 27 Tagen und 7,6 Stunden denselben Meridian nicht nach 24 Stunden wieder passiert, sondern hierzu 24 Stunden und 50 Minuten gebraucht, welche Zeit mithin auch jede Flutwelle zu ihrer Reise um die Erde brauchen würde. Übrigens halten die Flutwellen mit dem Mond nicht gleichen Schritt, sondern durch die Reibung des Wassers schleppen sie gewissermaßen hinter her, auch werden sie nach den Polen zu niedriger; letzteres ist leicht erklärlich, wenn man sich die Kugelform der Erde und ihre Abplattung an den Polen vorstellt.

Es ist nun aber keineswegs der Mond allein, der die Ebbe und Flut erzeugt, sondern auch die Sonne wirkt hier durch ihre Anziehungskraft mit, allerdings in weit geringerem Maße; sie hat nämlich noch nicht einmal die Hälfte des Einflusses auf die Gezeiten als der Mond es hat. Die Sonne ist zwar unendlich viel: größer als der Mond, dafür aber fast 400 mal weiter entfernt und eben auf die Entfernung kommt es weit mehr an als auf die Masse, denn die Anziehungskraft steht mit der Masse nur in direktem, mit der Entfernung in quadratischem Verhältnis.

Die Wichtigkeit der Entfernung zeigt sich uns auch dadurch, dass Mond und Sonne sichtbar stärker auf Ebbe lind Flut wirken, wenn sie in der Erdnähe sind, mit anderen Worten, wenn die Erde auf ihrer eliptischen Bahn um die Sonne, und der Mond auf seiner Bahn der Erde am nächsten sind. Besonders stark tritt dies wieder beim Monde hervor, bei dem die Flutwelle in der Erdnähe etwa ein Drittel höher ist als in der Erdferne.

Nach der Theorie müsste nun jedes Gestirn seine eigene Flutwelle erzeugen; es ist dies auch der Fall, aber die viel schwächere Sonnenflutwelle geht in die des Mondes auf, diese entweder verstärkend oder verringernd. Verstärkend wirkt sie auf letztere, wenn Mond und Sonne beide nach derselben Seite hinwirken, wenn sie also auf derselben Seite der Erde hinter einander stehen oder der Mond auf der einen Seite, die Sonne auf der andern Seite der Erde dem Monde gegenüber steht; in ersterem Falle haben wir Neumond, im letzteren Vollmond. Zu diesen Zeiten, also alle 14 Tage, sind ganz besonders hohe Fluten — Springfluten genannt — , die jeder Laie an der Küste mit Leichtigkeit erkennen wird. In der dazwischenliegenden Zeit beeinflusst die Sonne die gemeinsame Flutwelle jeden Tag anders und zwar, vom Tag der Springflut abgerechnet, sie allmählich immer weniger verstärkend, dann vom dritten Tag ab verkleinernd. Nach sieben Tagen endlich, wenn die Sonne im rechten Winkel zum Mond steht, wirkt sie dem Einfluss des Mondes direkt entgegen; wir haben dann Nipptide, d. h.: das niedrigste Hochwasser innerhalb von 14 Tagen; auch diese Erscheinung wird unter gewöhnlichen Verhältnissen ebenfalls von jedem Laien beobachtet werden können.

Die Flutwelle wird aber durch die Stellung der Sonne nicht allein in Bezug auf die Höhe, sondern auch in Bezug auf die Zeit beeinflusst und da diese Änderungen alle 14 Tage regelmäßig wiederkehren, so hat man sie halbmonatliche Ungleichheit genannt.

Ein weiterer Faktor für die Stärke der Ebbe und Flut und ihre Dauer ist die Stellung der Gestirne zum Äquator, ferner ob Mond und Sonne zusammen oder einzeln auf der nördlichen oder südlichen Halbkugel stehen; durch all diese Faktoren wird nämlich bewirkt, dass die Tiden auch an ein und demselben Tage nicht einander gleich sind. Diese Erscheinung ist ebenfalls an unserer Nordseeküste deutlich erkennbar; man nennt sie die tägliche Ungleichheit; sie ist am stärksten, je weiter ab der Mond vom Äquator steht. Auf dies Thema hier weiter einzugehen, würde zu weit führen; die vielleicht, schon etwas zu detaillierten Ausführungen waren aber notwendig, um die Ungleichheit der Hochwasserzeiten und der Dauer der Flut und Ebbe, die jedem einigermaßen aufmerksamen Beobachter am Strande auffallen müssen, zu erklären, sowie, um die Angaben der Ebbe und Fluttabellen, die man an der Küste überall zu Gesicht bekommt, mit Verständnis zu lesen.

Wir hatten bisher angenommen, dass die Erde nur mit Wasser bedeckt sei und die Flutwellen die ganze Erde umkreisen können. Letzteres ist aber selbst auf der südlichen Halbkugel nicht der Fall, sondern es bildet sich, in jedem Meer eine besondere Flutwelle, die mit dem Eintritt dies Gestirns über das östliche Ufer beginnt, am stärksten ist, wenn das Gestirn über der Mitte steht und von da ab wieder abnimmt. Hierbei spielen sich die Gezeiten folgendermaßen ab:

Die eigentliche, direkt erzeugte Flutwelle entsteht am östlichen Uferrand und schreitet, wie bereits gezeigt, mit dem Mond von Osten nach Westen. Ihr folgt die ausgleichende Wellenbewegung, welche sich nach allen Seiten hin gleichmäßig auszubreiten sucht und an den östlichen Ufern der Meere — also bei uns — sowie an den Polen wahrscheinlich in erster Linie die Ursache der Gezeitenerscheinungen darstellt. Diese Ausgleichungswelle ist viel langsamer wie die eigentliche Flutwelle, sie stößt wie letztere gegen die Küsten, wird reflektiert und verläuft erst nach Tagen, während bereits eine ganze Reihe weiterer Flutwellen und Ausgleichungswellen unterwegs sind, die nun alle zusammen vereinigt die Ebbe und Flut erzeugen. Bei einem solchen komplizierten Ineinanderwirken dürfte es einleuchten, dass es vielleicht niemals gelingen wird, die Gesetzmäßigkeit der Ebbe- und Fluterscheinungen genau festzulegen.

All die Tabellen und Vorausbestimmungen sind denn auch weiter nichts als auf langjährige Beobachtungen gestützte Zusammenstellungen, die für die Praxis allerdings vollkommen ausreichen.

Auf dem offenen Meer merkt man von dem Steigen und Fallen des Wassers und der ungeheuren Bewegung, an der nicht nur die Oberfläche des Meeres, sondern jedes Wasserteilchen bis auf die tiefste Tiefe teilnimmt, nichts. Erst an der Küste kommt diese Erscheinung zur Geltung.

Durch Reibung der Wassermassen an dem flacher werdenden Meeresboden und an den Küsten wird die Flutwelle aufgehalten; sie staut sich je nach der Formation der Küsten, der Größe und Gestaltung der Meeresbuchten und der Tiefenverhältnisse mehr oder weniger auf, und so entstehen je nach den örtlichen Verhältnissen an den verschiedenen Küsten die verschiedenartigsten Ebbe- und Fluterscheinungen und sehr bedeutende Unterschiede der Fluthöhen.

Bei St. Helena, dass mitten im Ozean liegt, beträgt die Fluthöhe 0,7 m, bei St. Malo an der französischen Küste 1,5 m, in der Fundy Bay an der Ostküste von Kanada 20 m, bei Brest 5,8 m, bei Liverpool 8 m, London 6,3 m, Helgoland 2,1 m, Cuxhaven 2,8 m.

Je größer die Unterschiede zwischen Hoch- und Niedrigwasser, umso stärker müssen naturgemäß auch die Ebbe und Flutströmungen sein, die auf freiem Meere an der Oberfläche kaum bemerkbar, an den Küsten bis zu zwei deutschen Meilen Geschwindigkeit in der Stunde und darüber betragen können. Nach diesen Ausführungen dürften die nachstehenden Erklärungen über die Gezeiten in der Nordsee und speziell an unserer Küste verständlich sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und See. Unser Klima und Wetter