Die Ebbe und Flut an unserer Nordseeküste

Wie in allen Meeresbecken wird auch in der Nordsee eine eigene Flutwelle erzeugt; dieselbe ist aber im Verhältnis zu der aus dem Atlantischen Ozean kommenden so gering, dass sie ganz unberücksichtigt bleiben kann; die Ursache hiervon ist neben der verhältnismäßig geringen Ausdehnung der Nordsee vor allem auch ihre geringe Tiefe. Von den beiden im Norden und Süden um England herum in die Nordsee schlagenden Flutwellen ist natürlich die von Norden herkommende die wichtigere. Wie dieselbe mit der durch den Kanal kommenden in der Nähe der Doggerbank sich vereinigt und gemeinsam mit ihr wirkt, ist wissenschaftlich noch nicht völlig klargestellt. Als Resultat sei hier angeführt, dass die Flutwelle auf dem 54. Breitengrade in offener See den Charakter einer breiten, hin und herschwappenden, stehenden Welle hat, die bewirkt, dass wenn sich der Wasserspiegel im Westen an der englischen Küste hebt, er sich im Osten an der schleswig-holsteinischen Küste senkt und auf dem ganzen zwischenliegendem Gebiet der Strom sechs Stunden in westlicher und sechs Stunden in östlicher Richtung läuft.

In unserer deutschen Bucht, die ungefähr einen rechten Winkel bildet, dessen Scheitelpunkt die Elbmündung ist und deren einer Schenkel fast direkt nach Norden, deren anderer nach Westen verläuft, äußert sich die Ebbe und Flut in der Weise, dass zur Zeit der Flut das Wasser von allen Seiten nach der Elbmündung zuströmt. Man hat also an der schleswig-holsteinischen Küste außerhalb der Inseln Sylt und Amrum zur Zeit der Flut einen aus Norden kommenden Strom, an der Außenseite der am westlichen Schenkel gelegenen Inseln Wangeroog, Norderney, Borkum usw. einen von Westen kommenden Strom. Zur Zeit der Ebbe verbreitet sich das Wasser wieder strahlenförmig nach alten Seiten aus dem Scheitelpunkt des rechten Winkels heraus und die Strömungen sind die umgekehrten wie zu den Zeiten der Flut.


Selbstverständlich beziehen sich die angegebenen Stromrichtungen nicht auch auf das Wattenmeer zwischen Inseln und Festland; hier sind die örtlichen Verhältnisse, wie z. B. die Lage der Fahrrinnen, die Niveauhöhe der Witten und Sande und anderes mehr fast allein maßgebend.

Aus dem Fortschreiten der Flutwelle ist klar, dass das Hochwasser die außengelegenen Inseln und die Flussmündungen früher erreichen muss, als die weiter von der See abgelegenen Orte, so z. B. ist in Helgoland 1 Stunde 16 Minuten früher Hochwasser als wie in Cuxhaven, in Brunsbüttel dagegen ist es 1 Stunde später, in Glückstadt 2 Stunden, in Hamburg 4 1/2 Stunden später als in Cuxhaven. Je weiter landeinwärts, um so später und schwächer natürlich die Wirkung von Ebbe und Flut. Beiläufig sei bemerkt, dass die Flut noch bis 20 deutsche Meilen Elbaufwärts bemerkbar ist.

Unsere Küste und die ihr vorgelagerten Inseln werden selbstverständlich auch nicht gleichzeitig von der Flutwelle erreicht; der Zeitunterschied zwischen den einzelnen Orten bleibt sich aber immer gleich, sodass, wenn man von einem Orte die Hochwasserzeiten weiß, man hiernach die Hochwasserzeiten an allen anderen Orten unserer Küste mit Hilfe einer Tabelle, die die Zeitunterschiede enthält, mit Leichtigkeit feststellen kann.

Als Beispiel seien hier zunächst die Hochwasserzeiten nebst Fluthöhen in den Monaten Juli und August 1907 der als Zentralstation geltenden Beobachtungsstation in Cuxhaven angegeben.

Wir sehen in der Tabelle all das vorher Erklärte bestätigt. Vor allem fällt die tägliche Ungleichheit, deren Ursachen ebenfalls dargelegt worden sind, auf. Noch nicht erklärt sind hierbei die großen Unterschiede der Fluthöhen am Vormittag und Nachmittag, ein Faktum, dass jeder Laie nicht nur aus der Tabelle, sondern auch am Strande selbst beobachten kann. Die Ursache dieser Erscheinung ist darin zu suchen, dass das höhere Hochwasser an einem Tage immer dasjenige ist, welches von der oberen Mondkulmination herrührt, wenn hierbei der Mond nördlich vom Äquator steht. Sehr allgemein gilt die Regel, dass im Sommer die Tages-Hochwasser, im Winter die Nacht-Hochwasser die höheren sind, was hier allerdings nicht vollständig zutrifft.

Die Tabelle lehrt uns ferner, dass die Springfluten nicht genau mit Voll- und Neumond zusammenfallen, sondern sich verspäten. Der Grund ist das bereits erwähnte Nachschleppen der Flutwelle hinter dem Gestirn her, sowie der Ausgleichungswelle infolge von Reibung an Küsten und Meeresboden.

Nach der obigen Tabelle lassen sich die Hochwasserzeiten der nachstehenden Orte durch Zuzählen, oder Abziehen bestimmter Zahlen leicht errechnen, nämlich:

Wir hätten hiermit das Wichtigste über Ebbe und Flut dargestellt. Zum Schluss sei noch bemerkt, dass die Ebbe und Fluterscheinungen noch wesentlich durch die herrschenden Winde beeinflusst werden. Starke Ostwinde treiben das Wasser aus der deutschen Bucht heraus, die Fluthöhen werden kleiner; starke Westwinde, die das Wasser auf die Küste zutreiben, bewirken höhere Fluten und können, wenn verschiedene ungünstige Momente zusammentreffen, Sturmfluten erzeugen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und See. Unser Klima und Wetter