Abschnitt 3

IV.
Philadelphia.


Wie viele neue Sekten in Amerika noch entstehen werden, ist unberechenbar. Es genügt dazu, daß jemand aus Ueberzeugung oder um Ansehns und Geldes willen einen neuen Satz aufstellt, der von dem Lehrgebäude einer bestehenden Sekte abweicht. Hat er die Gabe der Rede, – und welchem Amerikaner wäre sie versagt? – und weiß er bei Frauen sich wohl einzuführen, so kann es nicht fehlen, daß er Anhänger bekommt, ein neues Kirchlein wird gebaut und die neue Sekte ist da. Der Amerikaner ist immer nach neuen Dingen begierig, und wenn Politik und Geschäfte seine Gedanken nicht mehr fesseln, so ergehn sie sich auf dem religiösen Gebiete. Die trockne rechnende Verstandesthätigkeit braucht einen Gegensatz, zu welchem sie abspringen kann, um Geist und Phantasie die Zügel schießen zu lassen. Deshalb findet grade das Seltsamste in Amerika leicht Gläubige, und trotz der Herrschaft, welche dort von jeher dem kalten männlichen Verstande gebührte, fehlten auch niemals Ungeheuerlichkeiten, die Hexenprozesse, Erwartung des jüngsten Tags bei lebendigem Leibe, und Klopfgeister. Bei der Leichtigkeit und Freiheit, alles ins Werk zu setzen, was nicht gegen Gesetze und öffentliche Meinung verstößt, und bei der allgemeinen Geschicklichkeit, mit jedem Dinge Geld zu machen, kann man darauf rechnen, daß so leicht keine Phantasterei im Hirne ihres Urhebers verschlossen bleibt. Jedoch ist nicht zu fürchten, daß jemals neue Sektenstifter wie reißende Wölfe in bestehende Kirchengebiete einfallen. Es fehlt ihnen die kühne Entschlossenheit und unerbittliche Logik, welche aus dem Hauptsatze Folgerungen ableitet, die zerstörend und umgestaltend in alle Lebensverhältnisse eingreifen. Die Gewohnheit, alle Dinge geschäftsmäßig zu betreiben, ist der stetige Dämpfer des Sekteneifers. Im ganzen genommen, vertragen sich daher die vielen Sekten ziemlich gut. Man möchte auch wenige Amerikaner finden, welche die Geschlossenheit einer einzigen Nationalkirche der blühenden Sektenmannigfaltigkeit vorzögen. Die meisten neigen sich zu der Ansicht, daß jede Sekte ihr eigenthümlich Wahres und Gutes habe, und gern vergleichen sie das Christenthum einem Walde, der um so stattlicher grüne und blühe, je mehr verschiedenartige Bäume darin neben einander Licht und Luft hätten. In Philadelphia war schon frühzeitig diese Duldsamkeit einheimisch, welche sich nach und nach über alle amerikanischen Städte verbreitet hat und, wenngleich sie stürmische Ausbrüche der Rohheit und gelegentliche Raufhändel, namentlich zwischen Irländern und Deutschen, nicht hindert, doch im Ganzen die Menge von Sekten ruhig neben einander entstehen und vergehen läßt. Daß übrigens keine Sekte die Welt für sich verlangt, sondern nur einen Platz darauf für ihre Anhänger, giebt sich auch in ihren kirchlichen Gebäuden kund. Fast alle sehen nur aus wie Kapellen zum Hausgebrauch: höchst selten erhebt sich eine dazu, vom unendlichen Weltall eine Idee darzustellen, wie der gothische Dom, zwischen dessen erhabenen Säulen das geheimnißvolle Dämmerlicht waltet, das gleich der menschlichen Erkenntniß mehr ahnen läßt, als aufhellt, während draußen an den Strebepfeilern lustig allerlei Gethier klettert. Auch die Griechen suchten in ihren Tempeln den Kosmos im Kleinen sinnlich vorzustellen, aber in seiner hellen faßlichen Regelmäßigkeit und entzückenden Schönheit.


Noch einer Liebhaberei der Philadelphier ist zu gedenken, welche recht deutsch ist, obwohl die Engländer darin wohl übertreiben, daß jeder Deutsche mit Lehrmeisterneigungen geboren werde. Die Philadelphier befriedigen diesen Geschmack, ohne darüber die Sorge für Handel und Gewerbe, für Macht und Reichthum des Staates zu vergessen. Die eigentlichen höheren Ehren der Gelehrsamkeit haben ihnen zwar die Bostoner vorweg genommen, auch ist nicht wie bei jenen die Wissenschaft in Philadelphia eine Angelegenheit des Hauses und des Geschäftes. Kunst und Wissen dienen hier dazu, dem Leben Gehalt und Schönheit zu verleihen; man ist nicht stolz auf seine literarischen Reichthümer, weiß aber daraus geistiges Vergnügen und Wohlsein zu ziehen. Die jungen Damen in Philadelphia treiben ebenso kunstgerecht wie in Boston ihre Muttersprache und geben sich nicht weniger Mühe, sich im Englischen fein, korrekt und wohllautend auszudrucken, ohne dabei so geziert und förmlich zu reden. Soweit in einer amerikanischen Stadt davon die Rede sein kann, findet sich in Philadelphia wirkliches Verständniß der Musik, welche in mehreren musikalischen Kreisen mit Liebe geübt wird. Im prächtigen und pomphaften Auftreten stehen die Philadelphierinnen zurück gegen ihre Schwestern in Neuyork, wo stets die neuesten europäischen Moden floriren und noch etwas mehr „aufgedonnert“ werden. Die erstern möchten aber leicht mehr feinen und natürlichen Geschmack in ihrer Kleidung zeigen.

Insbesondere wird in Philadelphia gefördert, was zur allgemeinen Bildung gehört, was Jedermann nützen, jeden erfreuen kann. Oeffentliche Vorlesungen sind häufig und zahlreich besucht. Die Philadelphier sehr thätige und mit bedeutenden Mitteln ausgestattete philosophische Gesellschaft wirkt noch im Geiste ihres Patrons Franklin. Dieser ebenso liebenswürdige als höchstverdiente Mann, durch dessen Grabstätte Philadelphia geehrt ist, wußte aus allen Wissenschaften gleich das Gemeinnützige herauszuziehen und entwickelte eine wunderbare Meisterschaft darin, die Pflicht, das Gute zu thun, von der nützlichen Seite anzuempfehlen. „Ein Pfennig gespart, sind zwei verdient,“ dieser sein Lieblingsspruch war das Motto zu jener Art von Philosophie, die er mit so viel Genie und Eifer betrieb, und welche noch heute bei den Amerikanern beliebt ist. Nicht minder bezeichnend für dieselbe ist Jeffersons Kernspruch: „Zeigt mir, daß etwas theoretisch richtig ist, und ich will euch zeigen, daß es praktisch ausführbar.“ Ganz im Sinne der Amerikaner könnte man diesen Satz dahin umdrehen: was nicht praktisch ausführbar, ist auch theoretisch nicht richtig. So weit sind sie von der Leidenschaft entfernt, in metaphysischen Tiefen zu schwelgen. Nach der Weise der Engländer prüfen sie, ehe sie mit ihren Schlüssen weiter gehen, jeden Vordersatz von allen Seiten, ob er sich auch praktisch befestigen läßt. Was keinen Anhalt in der Wirklichkeit der Dinge hat und keinen ersichtlichen Nutzen giebt, fällt als werthlos in ihren Systemen aus. Der Gesammtinhalt der mancherlei öffentlichen Vorlesungen, welche man in Philadelphia in jeder Woche hören kann, scheint einem Deutschen etwas nüchtern und hausbacken; wenn jedoch der Redner mit irgend einer guten Lehre für den täglichen Gebrauch geschlossen hat, geht man zum Handeln aufgelegt nach Hause.

Die höheren Lehranstalten, besonders die medizinischen, sind in Philadelphia für amerikanische Verhältnisse bedeutend, am besten aber ist es mit den Volksschulen bestellt. Von Pennsylvanien ging das Freischulsystem aus, nach welchem statt des Schulgeldes der Kinder eine allgemeine Schulsteuer erhoben wird. Zu der Menge nützlicher Kenntnisse, welche die Knaben in der Schule sich aneignen, gehört nicht blos Geschichte und Geographie im Allgemeinen, sondern vor allem andern die genaue Kenntniß des eigenen Landes und Staates in politischer und volkswirthschaftlicher Hinsicht. Die Knaben lernen die Eigenschaften des Bodens, die landwirthschaftlichen und industriellen Erzeugnisse, die Mineralien und den Waldreichthum, die natürlichen und künstlichen Verkehrswege in jeder Gegend ihres Landes so fertig kennen, daß sie den Werth eines Bezirkes auf dem Papier ausrechnen. Die Verfassung der Union und ihres eigenen Staates ist in Schulbüchern nach Art wie Katechismen faßlich dargelegt. Den Schülern wird das Lernen durch viele sinnreiche Mittel erleichtert und zum wahren Vergnügen gemacht. Was an Naturalien beschafft werden kann, wird vorgezeigt; fremde Völker, berühmte Gebäude, Alpen und Vulkane werden in Bildern vor Augen gestellt. Bei jedem Ereigniß, bei jedem Dinge wird zuerst gefragt, was hat es den Menschen genützt und was läßt sich daraus machen. Die Lernbegierde wird in diesen Schulen so sehr angeregt, daß die jungen Leute es später nicht mehr lassen können, ihre Bildung nach allen Seiten hin zu vermehren. Dafür sorgen dann die Zeitungen, welche unglaublich reichen und mannigfaltigen Lehrstoff bringen, die öffentlichen Bibliotheken, welche in jeder Stadt fast ebenso früh da sind, als diese selbst, die Vorlesungen über allerlei wissenswürdige Gegenstände, meist ohne Eintrittsgeld, die Vereine, welche zur Beförderung der Wissenschaft und zur Verbreitung von gemeinnützigen Kenntnissen in jeder größeren Stadt in Blüthe stehen. Es ist für europäische Begriffe kaum faßbar, wie viel in allen diesen Dingen durch die Freigebigkeit von Privaten geschieht und wie rasch es geschieht. Kaum zählt zum Beispiel eine Stadt fünfzig oder sechzig junge Handwerker, so treten sie auch schon zusammen und schaffen sich eine Handwerkerbibliothek an, nach einigen Jahren haben sie ein paar tausend Bände zusammen und stattliche Lesezimmer, und was das beste ist, die Bücher gehen fortwährend von einer Hand zur andern, ihr Inhalt wird gelesen und bedacht. Wenn die gesammte Masse von Ideen und Kenntnissen, welche auf den bezeichneten Wegen täglich in dies rasch handelnde und in voller Freiheit ein ungeheures Land beherrschende Volk übergehen, Wurzel schlügen und fruchtbar würden, so müßte hier ein neues Zeitalter aufblühen, so groß und herrlich, wie die Weltgeschichte Aehnliches noch gar nicht gesehen hat. Es scheint indessen bei der eigenthümlich trockenen Natur des Landes und Volkes schon dafür gesorgt zu sein, daß auch hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III