Abschnitt 2

IV.
Philadelphia.


Die vornehme Gesellschaft in Philadelphia gruppirt sich in verschiedenen Kreisen nicht neben, sondern unter einander. Der höhere schreibt dem unteren das Urtheil in Sachen der Kunst und Literatur, des Anstands und der Sitte vor. Der untere macht eilends und blindlings alles nach, was eine Stufe höher geschieht. Hat eine Familie das Glück, aus ihrem bisherigen Kreise in einen höheren zu steigen, so gehört es zum guten Ton, ihre früheren Bekannten zu behandeln, als hätten sie niemals in der Welt existirt. So beladen sich die freien Amerikaner mit einer Sklaverei, welche jeder andere ebenso lächerlich als unerträglich findet. Die politische Freiheit will wahrlich ihr Gegengewicht.


Verwandt mit der Verfeinerung des Dünkels ist der nativistische Geist, der bei einem Theile der Philadelphier Bevölkerung wahrhaft gehässig auftritt, mit hoher Verachtung gegen die Irländer, mit rohem Haß gegen die Deutschen. Hier sitzen die rechten Großmeister der Knownothingslogen, welche niemals ablassen werden, auf das Gesetz hinzuarbeiten, nach welchem jeder Einwanderer als ein Kind angesehen und erst nach ein und zwanzig Jahren Aufenthalts im Lande zum amerikanischen Bürger mündig werden soll. Diese Bundesbrüder sind und bleiben noch viel thätiger darin, durch geheime Ränke dem Einwanderer nicht nur die Aussicht zu irgend einem Amte zu verderben, sondern ihm auch die Mittel und Wege zu guten Geschäften abzuschneiden. Der Nativismus ist gerade in Philadelphia so erbittert und hartnäckig, weil man sich dort wohl erinnert, welche Kämpfe es kostete, das Deutsche, welches in Pennsylvanien der vollen Mitherrschaft nahe war, zurückzudrängen. Gegenwärtig ist selbst in dieser Stadt die deutsche Volksthümlichkeit nur etwas mehr als geduldet; wollen sich die guten Deutschen höher heben, so schlägt man sie auf die Köpfe, bis sie sich wieder ducken.

Doch wenden wir uns ab von diesen häßlichen Auswüchsen, welche im grellen Gegensatze zu dem sonstigen Philadelphier Ton dieser Stadt bei einigen sogar die Bezeichnung einer kalten Quäkerstadt voll gehässiger Egoisten zuzog. Verweilen wir lieber bei den vielfältigen Anstalten, welche ein humaner Sinn hervorrief. Es ist nicht allein die Menge und stolze Marmorpracht der Zufluchtsstätten menschlichen Elends, was Philadelphia auszeichnet, sondern der lebendige Gemeingeist, mit welchem sich die ganze Stadt an diesen Anstalten betheiligt, und die musterhafte Verwaltung derselben. Neuyork gleicht einer üppigen Fürstin, welche ihre Beamten anweist, reichlich auch für die Armen zu sorgen, im Uebrigen aber sich nicht viel um die Ausführung ihrer Befehle kümmert; Philadelphia giebt in dieser Beziehung einen guten Haushälter ab, der mit wachsamer Liebe überall selbst zusteht. Die Bürger sind stolz auf ihre mildthätigen Anstalten, welche durch die ergiebigste Privatwohlthätigkeit fortwährend vermehrt werden. Für die Beamten derselben aber ist es Ehrensache, sie gerecht zu verwalten und gute Erfolge zu erzielen; sie denken und probiren ohne Aushören, um das Beste und Zweckmäßigste zu leisten.

Am meisten wird das große Staatsgefängniß besucht, das sich wie eine mittelalterliche Festung mit Thürmen und Zinnen neben der Stadt erhebt. Es ist nicht mehr die bedeutendste Anstalt dieser Art, seitdem in Deutschland und England großartigere Gebäude nach pennsylvanischem Muster aufgeführt sind; die Philadelphier aber bleibt immer merkwürdig als die erste Musteranstalt für eine Strafart, welche nur der kühle praktische Verstand des Amerikaners erfinden konnte. Für diesen ist der Mensch nur eine Art Maschine, und er rechnet genau die Mittel aus, welche anzuwenden sind, um eine bestimmte Wirkung hervorzubringen. Amerikanisch war auch jenes Mittelchen, den Widerspenstigen dadurch zu zähmen, daß er an die Wand gefesselt gerade unter einen fallenden Wassertropfen gestellt wird, der mit mathematischer Gewißheit jede Minute unerbittlich marternd auf seinen Schädel fällt. Lustiger war ein Mittel ausgedacht, Arbeitsscheu zu vertreiben. Der damit Behaftete kommt in einen Behälter, in welchen langsam Wasser zufließt und langsam immer höher und höher steigt, bis der hartnäckigste endlich zur nahen Pumpe greift, um nicht zu ersaufen; ruht er ein paar Minuten, so tritt ihm gleich wieder das Wasser an die Kehle, und zehnmal Willens, jetzt die Arme für immer ruhen zu lassen, arbeitet er doch jedesmal wieder auf Tod und Leben.

Freundlichere Eindrücke als in den Gefängnissen empfängt man in den milden Anstalten. Denn obgleich auch darin menschliches Elend angehäuft ist, so zeigt sich doch zweifellos der gute Erfolg, den werkthätige Liebe erringt. In der Blindenanstalt sieht man die Kinder mit Geläufigkeit durch das Tastgefühl der Fingerspitzen in den Bibeln und Unterrichtsbüchern lesen, welche mit erhabenen Lettern gedruckt sind und aus Deutschland stammen. Vorzugsweise gern stellt man hier Deutsche als Lehrer an. Aus allen Zimmern der Blinden hört der Besucher Klavier- und Saiteninstrumente. Taubstumme stellen bei den öffentlichen Prüfungen, welche zum Besten der Anstalt und zur Weckung des Ehrgeizes ihrer Zöglinge sehr häufig veranstaltet werden, durch bloße Geberdensprache Seeschlachten Festungsstürme und Gewitter dar. Der stumme Vortrag ist so lebendig verständlich, ja malerisch, daß man jeden Augenblick glaubt, jetzt müsse das laute Wort kommen. Stundenlang läßt sich mit den Taubstummen durch Schrift und Zeichen eine Unterhaltung führen; man folgt ihr, obwohl ringsum Grabesstille, mit Vergnügen, weil sich immer mehr Kenntnisse enthüllen, welche diesen unglücklichen Stiefkindern der Natur menschliche Kunst und Sorgfalt beizubringen verstand. In dem Rettungshause für verwahrloste Kinder sieht es spaßig aus, wie die lustigen Knaben nach der Pfeife exerziren und essen; sie rebelliren oft, aber bei dem Abendessen wird die Liste derer, welche Tags über unartig gewesen sind, vorgelesen und sofort ihren Eignern das Essen vor der Nase weggenommen. Auch Eltern, welche ihre Rangen nicht anders zwingen können, schicken sie hierher zur Besserung. Die Zöglinge in allen diesen Anstalten sind nützlich beschäftigt, die taubstummen Knaben machen Schuhe, die Mädchen Nadelarbeiten, mehrere bringen durch eigenes Nachsinnen kleine mechanische Kunstwerke zu Stande. Die Blinden verfertigen Teppiche Körbe Schachteln Bürsten und dergleichen, einige von ihnen sind bei Einwohnern der Stadt beschäftigt. Die kleinen Sträflinge müssen schlossern, drechseln, Instrumente schleifen. Vom Segen all dieser Anstalten spricht am besten das heitere und muntere Benehmen und Aussehen der wohlgekleideten Zöglinge. Selbst unter den armen blinden Mädchen trifft man auf manches Gesichtchen, dessen zarte Rosen mit denen ihrer schönen Besucherinnen wetteifern, wenn gleich sie nicht, wie so viele von diesen, das liebliche Farbengemisch dem Schminknäpfchen verdanken. Neben den herrlichen Marmorpalästen für Arme und Waisen, deren Bau Millionen kostete und deren Größe gleichsam den kommenden Jahrhunderten mit ihren Hülfsbedürftigen entgegensteht, verdient auch das große Invalidenhaus für Flottenmatrosen einen Besuch. An zweckmäßiger Einrichtung ist darin das Aeußerste geleistet, alles so sauber, wie das Verdeck eines Kriegsschiffs, aber – so still wie ein Grab. Die alten Theerjacken müssen sich darin wie halbe Leichen vorkommen. Das nahe Marinearsenal bietet ihnen wenig Unterhaltung. Von Kasernen und Uebungen zur See im Feuer ist dort keine Rede; kommt Kriegszeit, übt man sich desto eifriger. Die großen Fregatten stehen am Lande in ungeheuren überdachten Scheunen bis zum Gebrauche. Wenn die Regierung Schiffe und Ausrüstung braucht, so läßt sie das Nöthige bei sachverständigen Gewerbtreibenden arbeiten und spart dadurch einen großen Haufen Geld.

Philadelphia rühmt sich auch, eine religiöse Stadt zu sein. Das könnte zwar an der Lauterkeit seiner religiösen Gesinnung zweifeln lassen, denn solcher Selbstruhm hat in aller Welt einen pharisäischen Beigeschmack. Es ist das aber nicht blos Philadelphier sondern Landesgewohnheit; die ächten eingebornen Söhne Amerikas halten sich allen Ernstes für ausbündige Heilige, in denen erst das wahre Christenthum zur Erscheinung gekommen. Uebrigens denken sie dabei nur an einen Religionseifer, der sich im häufigen Kirchenbesuch und in Freigebigkeit zur kirchlichen Zwecken Genüge thut. In dieser Richtung ist man in Philadelphia besonders eifrig, und das Gespräch über kirchliche Angelegenheiten ebenso wie der Predigerbesuch ist stehend in allen Gesellschaften. Weil jeder frei seine Sekte gewählt und ihre Lehrsätze selbst geprüft hat, ist er stets geneigt, das Für und das Wider zu erörtern. Von Vielen geschieht das freilich sehr oberflächlich und nur deshalb, weil sie nichts anderes zu sprechen wissen. An einem Sonntagsmorgen kann man alle Arten von christlicher Religionsübung neben einander sehen, die hohe Pracht in den katholischen Kirchen, die ernste Feier der in Philadelphia wohlbegründeten deutschprotestantischen Gemeinden, die kühle Vornehmheit der bischöflichen Kirche Englands, das Uebermaß von Nüchternheit bei den Quäkern, und von Raserei bei den Methodisten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III