Abschnitt 1

IV.
Philadelphia.


Diese zweitgrößte amerikanische Stadt wurde von Quäkern und von Deutschen gegründet. Noch jetzt spiegelt sich hier Beider Charakter ab.


Das Innere der Stadt ist auffallend still und leer. Wie man in den Quäkerkirchen ohne Sang und Klang steht und wartet, ob nicht der Geist der Rede in ein Mitglied, und Leben in die Versammlung kommen werde, so wartet man in den Straßen Philadelphia’s, ob sich nicht etwas von seiner halben Million Einwohner sehen läßt. Aber eine enge Straße nach der andern durchstreift man vergebens, die Bevölkerung scheint ausgewandert oder in das Innere ihrer Wohnungen vergraben. Ein Geist strenger Ordnung hält auch den rohen Irländer im Zaum. Die Straßen sind ferner so langweilig regelrecht und schnurgrade, die Häuser so gleichförmig und gleichfarbig, wie es nur eine Schaar von Quäkern sein kann, deren Röcke Hüte und Gesichter bekanntlich in Schnitt und Aussehen nicht zu unterscheiden. Schon in Neuyork kommt es dem europäischen Ankömmling sonderbar vor, daß stundenbreite Stadttheile ihre Straßen erst nach Zahlen und dann nach dem Alphabet benennen, und für die Querstraßen zur Bezeichnung ebenfalls nur Ziffern von eins bis zum Halbhundert haben. In Philadelphia sind die Straßen vollends numerirt, wie die Zeltreihen einer Armee. Das amerikanische Stadtideal, die Regelmäßigkeit des Schachbretts, ist hier am vollständigsten erreicht. Erst zählt man vom Delawarestrom dreizehn Straßen hintereinander, jede hat ihren Ziffernamen, dann kommt die Broadstreet, und jenseits dieser großen Straße fängt das Zählen wieder an, bis man zum Schuylkillfluß gelangt. In des Amerikaners Rechnungsgeiste scheinen die nackten Zahlen für Straßen eher und deutlicher zu haften, als sich seine Phantasie an Bild und Namen gewöhnt. Zum Glück hatte der amerikanische Wald Baumarten genug, um in Philadelphia danach die Querstraßen zu benennen, welche jene andern immer rechtwinkelig durchschneiden. Sähe man nicht die schattigen grünen Baumreihen entlang und am Ende der Straße auf’s freie Feld, so würde das Auge in manchen Straßen nirgends einen Ruhepunkt finden. In andern gewähren diesen die stolzen öffentlichen Gebäude, an denen Philadelphia reich ist. Wenn auch unscheinbar unter den prachtvollen Palästen der Neuzeit, so bleibt doch das denkwürdigste Gebäude in Philadelphia das alte Staatenhaus, in welchem unten links der einfache Saal sich befindet, wo die amerikanische Unabhängigkeit unterzeichnet wurde, jene Erklärung, welche einem neuen Welttheile sein eigenes Leben konstatirte. Die Wohnhäuser in Philadelphia sind nett und freundlich, und ganze Stadttheile hindurch von schmuckem Aussehen. Besonders ziert sie eine Art weißen Marmors, der in Pennsylvanien selbst gebrochen wird und, da er sich billig beschaffen läßt, sehr reichlich zu den Treppen Thürgebälken und Fenstergesimsen verwandt wird. Es ist in Philadelphia einmal hergebracht, daß dieser Marmor an den Häusern jeden Tag blank gewaschen wird, und da diese holländische Reinlichkeit nebst täglicher Wasserflut sich auch auf das Pflaster vor den Hausthüren erstreckt, so zeigen sich in den vornehmern Stadttheilen Häuser und Straßen so rein und sauber, wie die Kleidung der Quäker.

Wenn aber die Menschen in Philadelphia in ihrem Wesen so viel Ruhiges und Freundliches, ja sogar etwas Gemüthliches haben, so rührt das nicht allein von den Quäkern, sondern vielmehr von den Deutschen her. Diese bildeten gleich zu Anfang einen ansehnlichen Theil der Stadtbevölkerung, der sich durch neue Einwanderung fort und fort vermehrte; denn weil früher in Philadelphia die Einwandererschiffe landeten, so siedelten sich die Ankömmlinge, gerade wie jetzt in Neuyork, wo möglich gleich in der ersten amerikanischen Stadt an. Später, als Philadelphia seine Bedeutung im Seehandel einbüßte, in Gewerben dagegen sie desto erfolgreicher steigerte, zogen aus den gewerbreichen deutschen Bezirken des Staates eine Menge Familien hierher. Ein großer Theil dieser Deutschpennsylvanier hat zwar Sprache und Sitten der englischredenden Bevölkerung angenommen, allein der deutsche Kern ist, wie man sagt, in der Wolle gefärbt und läßt sich so leicht nicht austilgen; unter dem fremden Rocke schlägt noch lange Zeit das deutsche Herz. Deßhalb weht noch jetzt dem Deutschen in Philadelphia etwas wie heimathliche Luft entgegen, und gern wird jeder zugestehen, daß die vielen Tausende neuer Einwanderer aus Deutschland, welche sich in den letzten vierzig Jahren mit Vorliebe in Philadelphia niedergelassen, vorzugsweise dem deutschen Namen Ehre machen. Vielleicht zeigt diese Stadt auch darin einen Zug germanischen Charakters, daß sie so lange nicht ein einziges geschlossenes Gemeinwesen bildete, sondern sieben große Gemeinden, jede mit ihrer eigenen Verwaltung. Die Umgebung hat deutscher Fleiß in einen Garten verwandelt; unter allen amerikanischen Städten ist Philadelphia die einzige, die stundenbreit blos mit Gärten und wohlbebauten Feldern umzogen ist, ohne daß man auf Gestrüppplätze und Urwaldreste stößt. Gemüthliche Spaziergänger aber könnte man in diesen schönen Fluren mit der Laterne suchen, selbst das reifende Wissahinonthal bleibt Morgens und Abends leer und still. Es wird von König Friedrich Wilhelm I. erzählt, daß er auf der Straße Müßiggänger hart angefahren. Einmal habe sich ein Jude vor seinem Anblick geflüchtet, der König aber sei ihm spornstreichs nachgesetzt, und als der Geängstete auf die Frage: „Was läuft Er vor mir?“ gesagt: „O Majestät, ich forcht mir,“ habe der König zornig ihn mit dem Rohrstock bearbeitet und gerufen: „Er Hallunke, was fürchten! Lieben, lieben sollt ihr mich!“ Die öffentliche Meinung in Amerika scheucht ebenfalls den Spaziergänger an sein Geschäft und verlangt nicht minder, daß man diesen Zwang liebe und ehre als edle Sitte. In Philadelphia hat die deutsche Gewohnheit, öffentliche Gärten zu besuchen und bei guten Getränken sich der duftigen Abendkühle zu erfreuen, wenigstens in so weit Eingang gefunden, daß die Theegärten am andern Ufer des Delaware häufig recht belebt sind. Bei der Rückfahrt über die prächtige Strombreite hat man auch die beste Ansicht der Stadt. Sie stellt sich zwar nur als eine unabsehliche Reihe von Backsteinhäusern dar, aber die Schiffe und der Fluß davor geben doch ein Gemälde, während man von den Anhöhen in der Nachbarschaft, z. B. von den Fairmount Wasserwerken, auf die Großstadt nicht anders als auf ein ungeheures Feld voll Backsteinhaufen sieht.

In Boston hat der altenglische Grundstock der Bevölkerung einen soliden, aber vornehm förmlichen Ton einheimisch gemacht; in Neuyork strömen Geschäftsleute und Abenteurer aus aller Welt zusammen und halten dort ein schwungvolles Leben mit raschem Gewinn und raschem Genuß im Gange; Neuorleans ist die Hauptstadt der französischen Kreolen und der wilden Südländer und deßhalb der Sitz der Ueppigkeit und der Festlichkeiten; Philadelphia hat aus seiner vorbezeichneten Bevölkerung den Gewinn gezogen, daß hier der sichere Erwerb mit ruhigem und vielseitigem Lebensgenuß Hand in Hand geht. Der Dollar regiert zwar in allen diesen Städten, jedoch daneben macht sich in Boston Wissenschaft und Literatur, in Neuyork eine ungenirte großhändlerische Lebensanschauung, in Neuorleans ein gewisser kecker und abenteuernder Hang geltend, Philadelphia aber kann sich seiner Humanitätsbestrebungen rühmen. Jedoch ist diese Humanität nach amerikanischem und nicht nach deutschem Maßstabe zu messen. Sie hinderte nicht, daß der Pöbel aus Neugier Nonnenklöster stürmte oder mit Knitteln und Pistolen deutsche Festversammlungen überfiel und beidemal ziemlich ungestraft blieb. Auch kommt es wohl vor, daß ein Fuhrmann sein abgetriebenes gestürztes Pferd ausspannt und es unbarmherzig auf der Straße verenden läßt. Von dergleichen abgesehen macht sich in der That in Philadelphia ein Vorwiegen von Humanitätsrücksichten wohl bemerklich.

In keiner andern amerikanischen Stadt giebt es so viele dauernde engere Kreise zu heiterem geselligen und literarischen Verkehr. Musikalische Genüsse sind sehr beliebt, auch die englische Klubsitte findet hier beständige Freunde. Am meisten halten die Quäker zusammen, sie helfen und unterstützen einander, werden reich bei mäßigem Leben und großer Geschäftsklugheit, dulden aber keinen unter sich, der auf leichtsinnige Bankerotte ausgeht. Auch die Geselligkeit der Deutschen hat hier einen lebhafteren und wärmeren Ton als anderswo; Philadelphier Freundschaften pflegen beständig zu sein. Die neuere Einwanderung hat nach dieser Stadt nicht allein eine Menge wissenschaftlich gebildeter Männer gebracht, sondern sie denken auch in Philadelphia seßhaft zu bleiben. Es ist hier nicht das ewige Kommen und Gehen, wie in Neuyork, wo man heute Abend fröhlich beisammen und morgen nach allen Windstrichen zerstreut ist.

Eigenthümlich aber ist der Philadelphier höheren Gesellschaft ein besonderer Hang zu vornehmer Abgeschlossenheit. Um Zutritt zu erlangen, bedarf es der förmlichsten Gewährleistung bedeutender Mitglieder für die hohe, auf Reichthum und Anständigkeit gestützte Achtbarkeit des Bewerbers. Wenn an andern Orten der vornehme Amerikaner den Töchtern und Söhnen von reichgewordenen Bäckern und Kleiderhändlern sein Haus öffnet, so würden in Philadelphia erst die Enkel dies vielbegehrte Glück genießen. Es soll Kreise in Philadelphia geben, die ernstlich darüber Rath halten, ob berühmte Künstler der Einführung würdig seien, da ja deren Leistungen nicht vor Auserwählten, sondern vor aller Welt ausgeführt würden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III