Abschnitt 5

III.
Boston.


Verwandt mit dem Mäßigkeitseifer ist die Sonntagsstrenge. Auch diese wird in Boston mit größter Sorgfalt gehandhabt. Es giebt dort ganze Reihen von Häusern, in denen Sonntags kalt gegessen wird, damit keine Küchenarbeit die heilige Ruhe des Tages unterbreche. Viele fangen den Sabbath, das ist in Neuengland der Ausdruck für den Sonntag, schon am Sonnabend an, sobald die Sonne unter ist. Dann müssen alle Geschäfte ruhen, auch die Spielsachen der Kinder werden verschlossen. Blank und rein wie das ganze Haus sollen Herz und Geist aufgethan sein, damit der Sabbathsfriede in sie einziehe. Die lautlose Stille, welche Sonntags in den altamerikanischen Häusern herrscht, lastet anfangs wie Alpdruck auf dem Gemüthe des Fremden, er wagt kaum zu flüstern oder auf den Fußspitzen zu schleichen: später durchzieht auch ihn ein feierliches und hehres Gefühl, wie in der Grabesstille und dem Halbdunkel einer Moschee. Nach der Geschäftshetze einer ganzen Woche thun vierundzwanzig Stunden vollkommener Ruhe und religiöser Sinnesrichtung außerordentlich wohl. Diese Zeit, wo man der Welt abgestorben ist, gehört als nothwendiger Gegensatz zu jenem Treiben des Marktgewühls, und es ist eine große Thorheit, in diesem Lande dem Geist und Körper solche Erquickung zu versagen. Jeder ernst arbeitende Mensch bedarf zu Zeiten der Einsamkeit, wo sich seine Seele in die Tiefe ewiger Gedanken versenkt, um wie aus einem kühlen geistigen Bade mit neuer Frische und Kraft wieder hervorzusteigen. Der Amerikaner macht freilich, wie sein englischer Vetter, auch die Sonntagsruhe zu förmlich, ich möchte sagen zu sinnlich ab. Ihr Sabbath hängt zu nahe mit jener Gewohnheit beider zusammen, zu Zeiten aus Erschöpfung die Beine von sich zu strecken und in eine Art von Geistesschlaf zu verfallen. Althebräisch aber ist es, daß man sich darauf steift, nur der Sonntag sei der Tag des Herrn und kein Festtag über ihm. Ich hörte einmal eine hochgebildete deutsche Frau, welche von amerikanischer Anschauungsweise nur erst wenig angenommen hatte, mit dem größten Ernste der Welt die Frage untersuchen: ob dem Weihnachtsfest, wenn es nicht auf den Sonntag falle, wohl gleiche Ehre wie diesem zukäme? – Dem deutschen Einwanderer bringt der Sonntag in Boston nicht selten Unglück. Im ersten Jubel über seine Landung auf dem Boden der Freiheit will er auch des Sonntags ein Bischen zechen; vorsichtig schleicht er, schon gewitzigt durch seine Landsleute, in das Hinterstübchen einer Schenke. Das wache Auge eines Puritaners späht den Sünder aus, und eine halbe Stunde nachher wird der fröhliche Deutsche unsanft genug in’s Gefängniß gestoßen.


Solche Angeberei, wenn Jemand gegen die Sonntags- oder Mäßigkeitsgesetze frevelt, ist ein häßlicher Zug im Charakter der Yankees. Sie haben von den Eigenheiten ihrer Vorfahren, der Puritaner, noch jetzt viel zu viel an sich. Nicht die reine Christuslehre, sondern der Zwang, sich den gleichmäßigen englischen Gottesdienst gefallen zu lassen, das Aeußerliche der Religion hatte auf die Entstehung der Puritanersekten entscheidenden Einfluß. Jenem Zwange zu entgehen, flüchteten sie aus ihrem Vaterlande, und in der Verbannung und Abgeschlossenheit, in welcher sie in Holland und den Rheinstädten lebten, bildeten sie ihr seltsames Ideal der Gemeinde Gottbegnadigter aus, in welcher der eine des andern wachsame Polizei ist. Schon damals zeigte sich bei ihnen die demokratische Grundneigung, die eiserne Ausdauer, die Freudigkeit für ihre Ueberzeugung zu dulden, der geistliche Stolz und das ausgezeichnet sophistische Talent. In Amerika endlich fanden sie einen freien Boden für die Ausbildung ihrer Gemeinde. Sie waren völlig hülflos in dem rauhen wilden Lande, aber sie trugen in sich den festen Glauben, daß sie das auserlesene Volk Jehovah’s seien, und dieser Glaube machte sie stark, zu arbeiten und zu leiden. Sie hatten wenigstens Freiheit, in Einfachheit und Strenge nach ihrem eigenen Geschmack zu leben. Durch eiserne Arbeit wird dem Boden zuletzt die Nahrung abgewonnen, die Wälder geben Holz zur Schifffahrt, der Handel bringt Reichthum. Jedes Mannes erste Wünsche sind ein gutes Geschäft, fruchtbare Aecker und Wiesen, ein sauberes Haus und darin eine zahlreiche Familie, für welche er mit Ernst und Liebe sorgt. Nachdem die Ansiedlungen das erste Jahrzehnt hinter sich haben, werden bereits höhere Schulen errichtet und von Bürgern freigebig ausgestattet. Immer zahlreicher kommen Schiffe mit neuen Einwanderern, eine kleine Kolonie nach der andern entsteht und dehnt sich aus. Religiöse und bürgerliche Streitigkeiten treiben ganze Schaaren aus den älteren Niederlassungen fort, um neue zu gründen. Gleiche Herkunft, gleiche Zustände und Ansichten, gleiche Gefahren und Schicksale erzeugen unter allen ein gemeinsames Volksgefühl. Sechs größere Gruppen von Ansiedlungen, die jetzigen Neuenglandstaaten, entstehen, jede auf ihre Charte gegründet. Massachussets mit dem mächtigen Boston an der Spitze giebt den Ton an und weiß nach und nach durch Klugheit, List oder Gewalt die übrigen mit sich zu verbinden zu einem „Bunde der vereinigten Kolonien,“ welcher schon mehr als hundert Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung ein Vorbild wurde für den großen Bundesstaat. Daß sie sich lediglich selbst regieren müßten, blieb ihr unumstößlicher Grundsatz. Noch ehe der erste Baum gefällt war, vereinigten sich die Ansiedler schon über die Grundzüge ihrer bürgerlichen Einrichtungen. Bald dringt das Volk auf Abfassung geschriebenen Rechts, es werden Gesetzbücher gemacht, so genau und so strenge als nur möglich nach dem mosaischen Gesetze, und mit unerbittlicher Energie werden sie ausgeführt. Die Polizei hat das Innere der Familie zu bewachen und Jeden anzuzeigen, der die Kirche versäumt. Der bloße Besitz von Karten oder Würfeln zieht hohe Geldbuße nach sich, der Angeber erhält die Hälfte. Vollbürger ist nur, wer zugleich Kirchenmitglied ist, in der „Gemeinde der Heiligen“ steht. Wehe dem, der in den Kirchenbann fällt, weil er Uebles thut oder den „Heiligen“ verhaßt wird. Er ist wie der öffentliche Sünder und Zöllner, schon sein Athem verunreinigt. Ein finsterer kalter Fanatismus sitzt in diesen starrköpfigen Leuten, sie streiten Tagelang über Glaubenssätze, die Religion ist ihnen nichts als ein Waffenarsenal, den Gegner zu vernichten.

Die englische Regierung sah mit Unwillen, wie diese verhaßten Sektenmänner, welche für sie nur demokratisches Gesindel waren, im neuen Lande kräftig gediehen. Englische Junker, welche von ihnen kurz und gut zur Ordnung gebracht waren, Abenteurer und Kaufleute, die bei ihnen nicht gute Beute fanden, anglikanische Bischöfe, welche mit wachsendem Aerger die Fortschritte der Puritaner sahen, solche Leute hetzten fortwährend in England, daß man den Kolonien ihre Freiheit verkümmere. Aber schlauer und hartnäckiger konnte sich Niemand gegen seine Feinde benehmen, als die Puritaner. Durch geschickte Unterhändler und pfiffige Auswege wußten sie den gefürchteten Schlag hinzuhalten. Als ihnen ein Oberstatthalter aus England angesagt wurde, kamen die Räthe der Regierung in Massachussets mit sämmtlichen Predigern zusammen und ihr charakteristischer Beschluß war: „Wir sind verpflichtet, unsern rechtmäßigen Besitz (an Rechten, Freiheiten und Gütern) zu verteidigen, wenn wir es im Stande sind, wenn nicht zu vermeiden und aufzuschieben.“ Sie fanden aus, daß sie zu England nur wie Lehnsleute ständen oder wie die Hansestädte zum deutschen Reiche. Ihre Unterthänigkeit sei durch einen Vertrag entstanden, also eine blos freiwillige; diesen Vertrag, d. h. ihre Charte, könne der König nicht mehr ändern. Sie büßten zwar die Freiheit wieder ein, welche sie gleich in ihren ersten Zeiten als ihren ächten Besitz mit fester Hand ergriffen hatten, die englische Regierung ließ sie die Zügel fühlen, allein vergebens hoffte sie, dieses z?hen harten und verschmitzten Geschlechtes Meister zu werden. Es trug in seinem Herzen den festen Glauben, die Fremden seien nicht werth, über die „Heiligen Gottes“ zu herrschen. Als daher die Ansiedlungen an Zahl und Stärke gewachsen und ihre Waffen in den Kriegen gegen die Indianer und Franzosen erprobt waren, da wurde die Haupt–Stadt Neuenglands der Heerd, auf welchem das Freiheitsfeuer geschürt wurde, bis es zu hellen Flammen aufloderte. Dort auf dem Bunkershill empfingen die Engländer die erste blutige Zurückweisung, und nun kamen zehn Jahre voll Kämpfe und Leiden, voll Begeisterung und Verzweiflung, und nach dem endlichen Siegel noch eine Reihe von Jahren der gräulichsten Verwirrung im Innern, bis endlich das jetzige machtvolle Staatsgebäude sich auf Granitgrunde erhob.

Jetzt sind jene Zeiten der Mühsal und der Kämpfe vorbei, Pracht und Segensfülle bedecken den Boden. Auch an die Stelle des Sektenhasses und des finstern Puritanerthums ist wenigstens theilweise das segensreichere Wirken der Wissenschaft getreten. Boston vor allen andern Städten freut sich seiner hohen Erinnerungen und blickt mit Stolz und Dankgefühl nach seinem Friedhofe hin, auf welchem manche der alten Kämpen ruhen, die einst die Waffen von Erz oder die Waffen des Geistes schwangen. Es ist eine schöne Sitte, daß die amerikanischen Städte ihre Friedhöfe so hoch in Ehren halten. Wo man im Leben wenig Besitz hat, achtet man auch die Todten nicht. In Irland spielen im Schutte der Klosterruinen die Kinder mit Todtenschädeln, nach dem dreißigjährigen Kriege war es auch in Deutschland nicht anders. Je lebenskräftiger aber ein Volk sich fühlt, desto williger ehrt es seine Todten durch stattliche Grabmäler, jedoch bringt es sie sich aus der täglichen Gesichtsweite. Die Städte in Amerika legen ihre Friedhöfe gern auf Waldhügeln an, an deren Seiten unter Gras und Blumen und Blätterrauschen stille abgeschlossene Plätzchen gebildet werden, welche ein weißer Grabstein schmückt. Boston hat in seinem Mount Auburn einen der schönsten dieser Friedhöfe. Jedoch selbst in den Grabmälern kehrt die amerikanische Einförmigkeit wieder, die meisten sehen aus wie nach einem einzigen Modell gearbeitet; der Genius mit der umgestürzten Fackel oder das Lämmchen, das unter dem Palmbaume ruht, erscheinen jeden Augenblick. Dagegen sucht man nach der Sitte der Engländer durch höchst langstylige Grabschriften sein Andenken noch ein Bischen zu verewigen. Wie die Leute sich doch bemühen, daß auf der Oberfläche des Zeitenmeeres die Stelle markirt werde, wo sie untergesunken sind! Die Todeswoge spült auch diese Zeichen bald wieder weg.

Doch wir blicken von den Höhen, welche Boston umgeben, hinunter auf die herrliche Stadt, wie sie hügelauf hügelab sich ausdehnt und ihren Fuß im Meere badet. Die Sonne funkelt auf der Kuppel des hohen Stadthauses und auf den Fluthen, über welche Schwärme von weißen Segeln ziehen und sich durch die Inseln und um die Küstenvorsprünge winden. Welche Menge jugendlichen rastlosen Volks bewegt sich da unten, um sich aller Güter des Friedens und der Freiheit zu bemeistern, und hier oben, wie erfrischend weht hier der reine Athem der Natur, der ewige Hauch Gottes, der durch das Weltall wogt! Keiner dient wahrhaftiger dem göttlichen Geiste, als wer die untrüglichen Gesetze des Natur- und Menschenlebens zu erforschen, und begeistert durch solche Erkenntniß seinem Nächsten Heil und Frieden zu bereiten sucht. Der Männer und Frauen, welcher dieser edlen Arbeit ihr Leben gewidmet haben, giebt es in Boston viele. Amerika darf nicht allein stolz auf diese Stadt, es kann ihr auch dankbar sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III