Abschnitt 3

II.
Neuyork.


In diesem und in andern Gerichtshöfen hört man von Prozessen, welche eine Menge furchtbarer Verbrechen und weitreichende Betrügereien enthüllen, bei denen man nicht weiß, ob man sich mehr über ihre Kühnheit oder über ihre Größe entsetzen soll. Noch schlimmer ist, daß das Gewicht kolossaler Reichthümer, Abneigung und Haß gegen Eingewanderte, und die Willensmeinung des Straßenpöbels nicht selten auf das Urtheil von Richtern und Geschwornen verderblich einwirken. Die Gerechtigkeit leidet dadurch mehr, als durch die geheimen Einflüsse von Mächtigen in europäischen Gerichten. Verbrechen und Unsittlichkeit sind in amerikanischen Städten selten durch Noth und Elend erzeugt. aber sie treten offener und rücksichtsloser auf. Auch der Verbrecher behält noch den trotzigen Eigenwillen, der schon in der amerikanischen Jugend großgezogen wird. In Konditoreien und an anderen Erholungsorten, welche mit verführerischer Pracht ausgeschmückt sind, haben übelberüchtigte Spieler Gauner und Dirnen ihre ständigen Plätze dicht neben ehrenwerthen Leuten. Vergebens sind die anständigen Leute ewig auf der Flucht vor solcher Gesellschaft. Auffallend ist, daß so viel Gewaltthaten gegen Frauen in einem Lande vorkommen, wo die Frauenachtung so allgemein zu Sitte und Gesetz geworden. Eine große Menge solcher und anderer Verbrechen kommt indessen auf Rechnung der Schwarzen und Farbigen. Jede amerikanische Stadtbevölkerung hat ihren Theil von dieser gräulichen Beimischung. Schon die Nähe der Negerquartiere macht sich im Sommer durch den widerlich thierischen Geruch bemerklich. Man kann nicht genug die Aufopferung weißer Damen bewundern, welche auch diese Parias dadurch zu sittlichen suchen, daß sie Schulen für die schwarzen und farbigen Kinder stiften und darin Stunden lang thätig sind. Diese Schulen umschließen ein Gewimmel von kleinen Wollköpfen, die statt etwas zu begreifen, nur das vorzüglichste Talent haben, sich wie Pudel abrichten zu lassen.


Von solcherlei Uebeln wird sich Neuyork, wo der Abschaum aus der alten und neuen Welt beutegierig zusammenströmt, noch lange nicht frei machen können. Besser ist es gelungen, die Unreinlichkeit aus den Straßen zu entfernen. Es muß früher damit sehr schlimm bestellt gewesen sein, wenn man den Erzählungen schon lange hier ansässiger Einwanderer trauen darf. Noch immer gehört aber Neuyork nicht zu den reinlichen Städten, und man möchte manchmal wünschen, es liefen auch hier noch Saufamilien durch die Straßen, um den Unrath wegzuräumen, der zwischen den Häusern sich aufhäuft. Zweifellos mehrt die Unsauberkeit die Zahl und Heftigkeit der ansteckenden Krankheiten. Die Verheerungen, welche einst auch in Neuyork die Fieber anrichteten, haben zwar zum großen Theil aufgehört. statt dessen hat ein anderer böser Gast, die Cholera, die amerikanischen Städte zu Lieblingsplätzen erkoren. Ueberhaupt ist es ein Irrthum, wenn in Deutschland viele glauben, gewisse Gegenden in Amerika seien ganz gesund. Das mittlere Europa, vor allem unser Deutschland, sind die gesundesten Länder der Erde; diese unschätzbare Wohlthat lernt man erst bei Reisen in fremden Ländern recht würdigen. In Amerika läßt sich eigentlich nur davon reden, ob der eine Ort weniger mit Fiebern behaftet ist, als der andere, je nachdem er nämlich nördlich und hoch gelegen ist, freien Luftzug und keine Sumpfausdünstungen in der Nähe hat. In Schottland kommt auf zwölf Menschen ein Sechzigjähriger, in Amerika noch nicht auf fünfzig. Auch scheint hier die Kurzlebigkeit in neuerer Zeit zugenommen zu haben; vor vierzig Jahren wurde das Lebensalter der Menschen in den Vereinigten Staaten durchschnittlich auf siebenundzwanzig Jahre berechnet, während es jetzt nur einundzwanzig beträgt. Wie außerordentlich groß hier die Sterblichkeit ist, wird man erst dann mit einiger Sicherheit wissen, wenn die Statistik in Amerika anfängt, eine Wissenschaft, und noch mehr, eine Wahrheit zu werden. Jetzt steht und erfährt es keiner, wie viele Leichen täglich nach den stillen Höfen wandern, und wenn man auch einmal ein Begräbniß sieht, im nächsten Augenblick ist’s vergessen. Die Wellen des amerikanischen Volkslebens gehen hoch, wer kümmert sich um die, welche untersinken?

Die Stadt Neuyork thut übrigens sehr viel, um Hülfe für verlassene Arme und Heimathslose, für Kranke und Irre zu schaffen. In der großartigen Ausstattung der wohlthätigen Anstalten bewährt sich der Reichthum, die Macht und der auf nichts Kleinliches gerichtete Sinn der Welthandelsstadt. Bei jedem neuen Besuche bewundert man, wie äußerst nett, sauber und sinnreich alles eingerichtet ist. Wer Amerika bereiset, wird von seinen Freunden bald nach solchen Anstalten geführt, und weil nach wenigen Wochen Aufenthalts in diesem Lande sein eigener Sinn mehr auf das Praktische sich richtet, sucht er sie mit größerem Interesse auf, als daheim in seiner Heimath. Welchem Touristen fällt es in Wien Berlin und München ein, die dortigen Krankenhäuser zu besuchen? Die Beamten derselben sind in Deutschland auch keineswegs erpicht darauf, sie fortwährend den Schaaren von Besuchern zur Parade vorzuführen. Ein amerikanisches großes Hospital wird daher viel häufiger beschrieben, als ein europäisches, obgleich keines der ersteren sich zum Beispiel Bethanien bei Berlin oder dem Münchener Krankenhause würdig zur Seite stellen kann. Selbst wo die äußere Ausstattung deutscher Anstalten dieser Art minder glänzend ist, bleibt ihnen der Vorzug, daß sie zur wirklichen Abhilfe des Elends mehr als die amerikanischen leisten, und daß ihre Verwaltung von rechtlichen Personen geführt wird, welche daraus ihren ernsten Beruf, und nicht durch gute oder schlechte Mittel ein möglichst gewinnreiches Geschäft machen. Daß der Humbug in Amerika auch so tief in die Humanitätsanstalten hineinreicht, verdirbt einem die Freude daran.

Wochenlang kann man sich in Neuyork aber vergnügen mit Ausflügen auf dem überaus herrlichen Hudsonstrom, oder nach den Inseln und Landspitzen in der weiten Bai, nach dem Arsenal mit seinen ungeheuern Zurüstungen, nach den Wasserwerken, welche an die einfache Größe und Zweckmäßigkeit von Römerbauten erinnern. Von den Landungsplätzen stößt jede Stunde mehrmal eine Dampffähre ab, um nach den lebhaften Städten an der andern Seite der Flüsse, nach Brooklyn, Hoboken, Williamsburg, Jersey City überzusetzen. Dort spannt sich eine Reihe lebensvoller Landschaftsgemälde aus und des Rückblickes auf die prangende Stadt wird man nimmer müde.

Die vorgenannten Orte sind besonders Lieblingsplätze der deutschen Bevölkerung, um sich in der schönen Natur zu ergehen oder auch der Menge und Vorzüglichkeit der deutschen Lagerbierhallen Ehre anzuthun. Ja es giebt sogar Deutsche in Neuyork, welche das Bedürfniß fühlen, des Sonntags nach einem entfernteren Küstenpunkt zu fahren, um in der Einsamkeit zwischen Land und Meer ihr Gemüth zu sammeln und sich selbst zu leben. Ob sie solche Sehnsucht nach stiller Natur noch im zweiten Jahre ihres Aufenthalts in Amerika empfinden werden, ist sehr fraglich. Landesart und Lebensart zehren rasch die romantischen Dünste auf, welche man hier nicht brauchen kann: der Kopf wird klar und das Herz kalt. Jedesmal, wenn ein Sturm in Europa durch die Völker brauset, schleudert er viele Tausende von Deutschen an die amerikanischen Küsten. Dann regt es sich aller Orten in der Union, neue deutsche Zeitungen, Gedichte, Schilderungen deutsch–amerikanischen Lebens lassen sich in Menge vernehmen, Haß gegen das pharisäische Yankeethum und überströmende Liebe für die Freiheit der neuen Heimath können sich nicht laut genug kund geben: des Deutschen Gemüth Rechtlichkeit und Idealität will in einem Athem den amerikanischen Charakter umwandeln. Und wie bald wird alles das wieder stiller und stiller! In der scharfen trockenen Luft, mitten im Geschäftsdrang, und in der Noth sich den Hunger abzuwehren, versiegen die poetischen Quellen. Mancher Deutschamerikaner denkt mit wehmüthigem Lächeln an seine erste Zeit im neuen Lande, wo das deutsche Gemüth ihn glücklich oder unglücklich machte. Der eingeborne Amerikaner aber kann weder die dumme Ehrlichkeit der Deutschen begreifen, noch ihre gesellige Fröhlichkeit, ebenso wenig ihren Mangel an straffem äußerm Anstand, an Selbstgefühl und an nobler Freigebigkeit in Geldsachen. Er seinerseits kennt keine Freude, als die Lust am Gelingen seiner Geschäfte, den Stolz auf sein großes Land, den Spaß eines Humbugs und zu Zeiten einen tüchtigen Trunk Branntwein. Hin und wieder beginnt indessen die Gemüthlichkeit auch bei gebornen Amerikanern einzuziehen, namentlich in jene zierlichen Landsitze an den Gestaden der Bai und der Flüsse, wo lichtblauer Himmel Baumgrün und helles weites Wasser Herz und Sinne erfreuen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III