Abschnitt 1

II.
Neuyork.


Der Staat Neuyork nennt sich den Kaiserstaat und seine Hauptstadt die Kaiserstadt, das soll nicht blos Reichthum und Herrlichkeit bedeuten, sondern auch Macht und Herrschaft über das ganze Land. In der That herrscht Neuyork, obgleich es keinen Königshof und kein Parlament mit Landesregierung besitzt. Denn was in Amerika die Leute regiert und ihrem Verkehr die Richtung vorzeichnet, das ist der Handel, und dieser hat seine Fürsten in Neuyork. Durch ihre Unternehmungen wie durch ihre Kapitalien machen sie ihren Willen geltend bis in die entlegensten Ansiedlungen der Holzfäller und Bergleute am obern Mississippi und am Obern See. Der Handel regiert auch den Gang der Politik und erweckt oder hindert darin die Entschlüsse. Neuyorks Stimmung in politischen Dingen pflanzt sich daher rasch durch die ganze Union fort; ehe in dieser Stadt die Entscheidung gefallen ist, wagt keine Partei auf gewissen Sieg zu rechnen. Die Politik des Kaiserstaates ist in der Regel im Kleinen das Ab- und Musterbild der Politik, welche das Bundesganze leitet. Die Kaiserstadt ist ferner nicht allein die Tonangeberin in Sitten und Lebensart, die Königin der Moden und des Luxus, viel mehr noch als Hamburg es für die skandinavischen Länder, sondern die große Handelsstadt ist auch der Hauptheerd, von welchem die meisten anregenden Ideen für das geistige Leben der Amerikaner ausströmen. Das kleinste Winkelblättchen nährt sich mit den Artikeln Gedanken und Einfällen der Neuyorker Presse, jeder Buchhändlerladen versorgt sich von dorther mit seinem Bedarf. Daher ist der Großhändler wie der Hinterwäldler im Süden wie im Westen gewohnt, nach Neuyork zu schauen als dem Schauplatz aller Herrlichkeiten, die sein amerikanisches Herz erfreuen.


Dies große Uebergewicht Neuyorks auch in geistiger Beziehung hat vornehmlich seinen Grund in einer Thatsache, welche für die amerikanische Eitelkeit nicht gerade schmeichelhaft ist. Die Stadt ist der große Ausladeplatz von allem, was Europa der neuen Welt an Menschen und Ideen wie an Gütern zuschickt.

Die Vereinigten Staaten sind, wie ganz Amerika, in mehr als einer Beziehung noch jetzt nichts anderes als eine bloße Kolonie Europas; namentlich an geistigen Dingen giebt es auf amerikanischem Boden mehr Importirtes als Naturwüchsiges. Wohl aber muß, was von Europa herüberkommt, Ideen wie Menschen, sofort amerikanischen Charakter annehmen, es wird kecker und straffer, handlicher und praktischer, und verliert unterdessen an tieferem Gehalt. Diese amerikanische Behandlung läßt dann vieles als Landeserzeugniß erscheinen, was nur aus der Fremde kam. Welcher Amerikaner rühmt sich nicht mit der großen Morse’schen Erfindung des elektrischen Telegraphen, obwohl schon lange vorher deutsche Naturforscher durch dieses Mittel korrespondirten. Freilich was diese gelehrten und schöpferischen Deutschen zu ihrer geistigen Ergötzung und zu ihrer Bequemlichkeit ausdachten, davon zogen die Amerikaner einen Vortheil, der gleich in großem Maßstabe dem ganzen Volke zu Gute kam.

Hält man sich lange im Innern der Vereinigten Staaten auf, so gewöhnt man sich so sehr an das amerikanische Gepräge alles dessen, was hier vorgeht, daß die europäische Geburtsstätte der ersten Idee dazu weit hinter dem Meere versunken scheint. Nähert man sich wieder den Seestädten, so macht sich eine lebhaftere und feinere geistige Strömung bemerklich. Sie kommt von Europa herüber. Bei längerer Beobachtung ließe sich mit ziemlicher Sicherheit der Zeitpunkt feststellen, in welchem jede europäische Bewegung in Politik und Religion, in Mode Sitten und Industrie an den amerikanischen Küsten anlangt und in das amerikanische Leben eingreift, wenn auch äußerlich nicht sofort sichtbar. Die Amerikaner beuten die europäische Literatur nicht nur aus, sondern sie drucken sie geradezu nach, weil sie selbst, so entschuldigen sie sich, noch keine rechte Zeit zur Schriftstellerei hätten. Weil nun Neuyork der Einfuhrplatz der Literatur der alten Welt ist, weil hier Tausende von gebildeten Europäern anlangen und wo möglich haften bleiben, weil dadurch dem häuslichen wie dem öffentlichen Leben fort und fort ein neues belebendes Element zufließt, – deshalb ist in Neuyork eine Frische Kraft und Erregtheit im Denken und Thun der Menschen, wie in keiner andern Stadt der Union, deshalb ist die Neuyorker Presse so mächtig und ideenreich, daß im Vergleich mit ihr die meisten andern Blätter des Landes unfruchtbar erscheinen. Bis zu Anfang dieses Jahrhunderts nahm Philadelphia, noch früher Boston, die Stelle Neuyorks ein, – sie waren damals ebenfalls der Haupthafen für die europäische Einwanderung.

So liegt Neuyork gleichsam zwischen zwei Welten. Es empfängt zuerst und am stärksten den Wellenschlag von Europa her und pflanzt ihn fort über das ungeheure Unionsgebiet, es nimmt zugleich die unablässige Zuströmung aus dem Norden und Süden der Vereinigten Staaten auf, wo von alter Zeit her europäische Kultur eingebürgert, und nicht minder aus den weiten Westlanden, in denen jedoch ein neues selbstständiges Volksleben mächtig und mächtiger anschwillt. All die Kinder der Union kommen nach Neuyork, um hier Anregung Nachrichten und die Genüsse zu finden, die ihnen ihr eigener Wohnplatz nicht bietet, und zugleich Handels- und Gewerbsunternehmungen zu besprechen, durch welche sie das Hinterland ausbeuten wollen. In Neuyork pulsirt jetzt am raschesten das junge aufstrebende Volksleben der Amerikaner, das nach allen Seiten seine Arme erobernd ausstreckt, von überall her neue Kräfte und Stoffe an sich zieht und rasch sich in Saft und Blut übergehen läßt. Deshalb wurde Neuyork auch die Hauptstadt der Demokratie, als diese der Herzschlag des amerikanischen Volkes wurde. Philadelphia und Boston neigen sich mehr und mehr dem Whiggismus zu, wie alte Herren, welche Ansehen und Reichthümer genug haben, an ruhiges Erhalten denken und sich gern ein vornehmes und würdiges Ansehn geben. In Neuyork vereinigt sich dagegen die junge Kraft des amerikanischen Volkes mit gebildeten Männern und mit vielerfahrenen Abenteurern aus Europa, welche sich hier die ersten amerikanischen Sporen verdienen wollen, noch viel öfter aber sich die Hörner ablaufen. Man denke sich hinzu den rastlosen, ungestümen, alles gleich in Wort und That umsetzenden Geist der Amerikaner, der nach wenigen Tagen die Ankömmlinge ergreift, und man kann sich das Drängen und Wirbeln des Verkehrs vorstellen, das die ganze Stadt erfüllt. Die Gasthöfe sind für viele Hunderte von Gästen eingerichtet; die öffentlichen Hallen dienen Morgens zu kirchlichen, Nachmittags zu industriellen, Abends zu politischen Versammlungen; in den Kaufhäusern bestellt der Reichgewordene gleich eine ganze Hauseinrichtung für zehntausend Dollars mit Möbeln und Silbergeschirr, Betten und Vorhängen, die goldgerahmten Oelgemälde nicht zu vergessen, welche gleich Teppichen nach der Elle verkauft werden. Nach diesem Maßstabe ist das Meiste in Neuyork beschaffen. Unaufhörlich wiederholen sich öffentliche Aufzüge von einigen zwanzig Tausenden, Straßengefechte, bei denen aus bloßem tollen Uebermuth alsbald die Pistolen knallen, und Geschäftswetten, bei denen Hunderttausende auf dem Spiele stehen.

Alles das trägt freilich einen gewissen rohen Zuschnitt, es macht sich darin von den Neigungen und Leidenschaften der Mittelklassen, wo nicht des großen Haufens, viel mehr geltend, als von einer feingebildeten Aristokratie. Die Menschen leben im Ganzen genommen hier etwas oberflächlich. Es ist ein ewiges Wagen und Gewinnen und Verlieren und Wiederwagen, um Reichthümer und derbe Genüsse zu erobern, alles Uebrige tritt dagegen zurück. Der Stadt hängt noch jetzt etwas an von dem Treiben in einer großen Karavanserei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III