Abschnitt 4

VII.
Natur und Schicksal der Indianer in Nordamerika.


Die Religion der Indianer ist also keine Ehrfurcht vor dem hehren allgewaltigen Weltgeiste, keine kindliche Liebe zu Gott, sie ist Furcht, tiefe düstere Furcht vor den unheimlichen Gewalten. Alles in der Natur kann dem Indianer plötzlich verdächtig scheinen, dann schreckt er in sich zurück und verhält sich still und stumm, und zittert insgeheim wie ein armes Schlachtopfer. Zum Begriff von Gott kann er sich gar nicht erheben, der „große Geist“ ist ihm alles Unbekannte und Geheimnißvolle, das er nicht näher zu bezeichnen weiß. Aus seinen unzähligen Manitus von stärkerer oder geringerer Macht errichtet er in seiner Phantasie eine Geisterpyramide, aber auf seinen Sinnen liegt es wie eine drückende Nebeldecke, so daß er die Blicke nicht bis zur Höhe der Pyramide erheben kann. Sieht er eine Leiche, so ist ihm unklar, ob die Seele noch darin weilt, oder schon weit weg ist. Er setzt bei der Leiche Speisen und Getränke nieder, und fabelt dabei vielerlei über den Geisterpfad, den die Seelen der Abgestorbenen wandeln, ohne über das geheimnißvolle Land, das sie am Ende ihres Pfades aufnimmt, irgend mehr als eine unklare dämmerige Vorstellung zu haben.


Schon viele Reisende, welche lange im Stillen das Treiben der Indianer, ihren Gedankengang, ihre Sitten und Gebräuche beobachteten, überkam es plötzlich wie eine dunkle Erinnerung an ein untergegangenes Kulturvolk. Es blitzten Streiflichter auf, welche eine versunkene geistige Welt erhellten, um gleich wieder zu verschwinden. Möglich ist es, daß diese Indianer nur verwildert sind, nur verkommene Trümmer eines einst höher gebildeten Volkes. Daß ein solches vor ihnen in Nordamerika da war, ist unbestreitbar, – daß Völker unter der Einwirkung des Klimas, im einförmigen Prairie- und Urwaldleben, abgeschnitten von den Kultursitzen, verwildern können, ist wenigstens nicht unmöglich. Dunkle Traditionen der Indianer, daß sie einst ein einiges großes und glückliches Volk gewesen, und dem gegenüber der eigenthümliche unaufhaltsame Zersetzungsprozeß in zahllose Völkerschaften und Sprachen, ferner mancherlei einzelne Reste in ihrer Sprache Sitte und Religion, welche auf Völker höherer Bildung zurückweisen, – dergleichen Stützen lassen sich jener Ansicht zuführen, daß die jetzigen Indianer blos verwildert seien. Es bleibt aber nur eine Ansicht, feste Anhaltspunkte dafür hat noch keine Forschung aufgefunden. Die Geologie hat in unsern Tagen die Blicke eröffnet in unermeßliche Urzeiten, vielleicht wird auch die rasch fortschreitende Völker- und Sprachenkunde, namentlich die vergleichende Sprachwissenschaft, uns noch Urvorgänge in der Weltgeschichte enthüllen, welche jetzt noch dunkle Nacht bedeckt.

In Romanen und altern Reisebeschreibungen ist viel von den körperlichen und sittlichen Vorzügen der Indianer die Rede. Heutzutage wenigstens läßt sich nicht viel davon rühmen. Urbilder der Kraft und Schönheit sind gewiß zehnmal eher unter den gebildeten, als unter den wilden Völkern zu finden. Die Natur hat die Indianer mit keinen Vorzügen beschenkt, die sie vor andern Sterblichen voraus hätten, wohl aber zerstören Entbehrungen und Mühsale bei ihnen frühzeitig die Wohlgestalt. Die Feinheit und Schärfe ihrer Sinne ist erstaunlich, und sie leisten Bewundernswerthes in Fasten und Ausdauer auf Reisen und Jagden. Gleichwohl übertrifft sie der gebildete zuletzt auch darin, denn ihm giebt Geist und Wille immer neuen Antrieb; wenn aber des Indianers körperliche Kraft ermattet, dann bricht er auch ganz zusammen, weil er in seinem Geiste leine Hülfsquellen mehr findet. Die Indianernatur widersteht lange Zeit den Einwirkungen von Frost Nässe und Hitze, von Hunger und Elend. Jede ernste Krankheit aber greift gleich den Lebensnerv an, und hat in ihrem Gefolge häufig völlige Verheerungen der Stämme. Die Blattern haben wiederholt die belebtesten Indianerdörfer in stumme Leichenhöfe verwandelt. Fieber sind auch in den Hütten der Indianer heimisch, und wer mit diesen ächten Natursöhnen ein paar Tage lang auf der Jagd gewesen, entdeckt, daß sie auch genug von Rheumatismus geplagt sind.

Die Sittlichkeit der Indianer läßt sich nicht nach unserm Maßstabe beurtheilen. Der Wilde thut, was ihm gefällt. Alles, wozu er die Stärke fühlt und wovon ihn sein Aberglaube nicht abhält, ist seiner Meinung nach auch das Rechte. Es fehlen ihm die meisten von jenen sittlichen Ideen, welche man gern als solche betrachten möchte, die der Menschennatur ursprünglich inwohnen, durch die Laster und Kämpfe im civilisirten Leben aber unterdrückt werden. Von den vier Kardinaltugenden kennt der Indianer nur zwei, Tapferkeit und Weisheit. für Mäßigkeit und Gerechtigkeit fehlt ihm sogar das Wort. So reich seine Sprache an Ausdrücken ist, um Selbstgefühl Kraft Schlauheit zu bezeichnen, so wenig kennt und nennt er Dankbarkeit Milde Verzeihung. Der Wilde ist Naturkind, kein edleres Gefühl kein höherer Gedanke kann ihn auf die Länge beherrschen. Heute ist er offen treu gutherzig, kindlich fröhlich, – morgen springt plötzlich, wenn sein Stolz oder seine Habsucht erregt wird, die Leidenschaft in ihm auf; er kann sie nicht bemeistern, und ist er einmal im Morden, so wird er grausam und entsetzlich, weil die wilde Wuth ihn fortreißt. Man bildete sich früher ein, wilde Völker müßten noch einen Rest von paradiesischer Unschuld haben, – die Erfahrung zeigte überall nur das gerade Gegentheil davon. Ein dauerndes schamhaftes Gefühl würde man ebenso vergebens im Busen der jungen Indianerin suchen, wie bei der verheiratheten eheliche Treue. Gefallsucht und Leichtsinn bleiben die unzerstörliche Naturgabe der Mädchen und Frauen bei den Wilden; leicht gereizt folgen sie ohne Bedenken ihrer Lüsternheit. Jungfräulichkeit seiner Braut ist dem Manne gleichgültig; den Ehebruch rächt er als einen Eingriff in sein Eigenthum, aber er findet nichts Unrechtes darin, Frau und Tochter dem Gast aus Gefälligkeit oder aus Gewinnsucht anzubieten. Auch die Indianerin hat ein lebhaftes Muttergefühl, gleichwohl weist es auf schlechte und schändliche Gewohnheiten zurück, daß die Indianerehen so unfruchtbar sind, und daß die Kinder aus denselben so häufig in den Tagen sterben, wo sie noch zarter Pflege und Liebe bedürfen.

Wer die Wohlthaten der Civilisation recht tief erkennen will, der braucht nur ein paar Tage unter Indianern zu leben. Es sind nicht die tausend kleinen Annehmlichkeiten und Genüsse des civilisirten Lebens, welche man vermißt, es liegt vielmehr für eine Zeitlang eine Lust darin, auf die ursprüngliche Freiheit und Kraft des Menschen zurückgeworfen zu sein; allein niemals entgeht man dem widerwärtigen und trostlosen Eindruck, daß diese wilden Völker kein Hauch von sittlicher Energie, kein heller Geistesstrahl belebt. Die Menschennatur zeigt sich unter ihnen in ihrer Niedrigkeit. Im Wilden liegt der geistige Mensch noch befangen. Trägen und verdüsterten Sinnes, ein Spiel seiner Einfälle und Leidenschaften, lebt er einförmig seine Tage hin, es fehlt ihm alle Ahnung eines edleren Daseins. Erst durch die Arbeit und die Kämpfe, durch die Noth und die Leiden der Civilisation erhebt sich der Mensch auf die Stufe, wo er ein edles und schönes Menschenkind wird, voll herrlicher Genüsse und Kenntnisse, voll erhabener Gefühle und Ideen.

Ist es aber nicht möglich, daß der Wilde, erweckt und belehrt durch den Civilisirten, den finstern Bann durchbreche, in welchem ihn eine dämonische Gewalt wie in einem geistigen Tode gefangen hält. Kann nicht auch der Indianer der Wohlthaten der Civilisation theilhaftig werden. Die Erfahrung sagt entschieden Nein. Der Wilde kann nur gedeihen in freier Wildniß; wo die Kultur ihm näher rückt, entweicht er oder vergeht er wie das Waldthier. Die Berührung mit der Civilisation ist seinem Leben feindlich, schon der Blick der weißen Männer scheint ihm verderblich. Die Völkerschaften auf den westindischen Inseln, die mächtigsten Stämme der nordamerikanischen Indianer sind in wenigen Jahrhunderten von der Erde verschwunden. Auf allen Inseln der Südsee macht sich ein rasches Absterben der einheimischen Bevölkerung bemerklich. Die Angaben der Entdecker dieser Inseln über die große Volksmenge auf denselben sind zwar in der Regel übertrieben; denn als die ersten Schiffe der Weißen dort die Küsten entlang fuhren, strömten Schaaren von Wilden aus dem Innern herbei, und das Land erschien viel bewohnter als es in Wirklichkeit war. Gleichwohl bleibt es zweifellos, daß überall die Bevölkerung seit dem ersten Anlanden der Europäer auf den Südseeinseln sich reißend vermindert hat. Nur auf wenigen ließen sich darüber bestimmte Zahlenverhältnisse feststellen; wo dies aber möglich war, sind sie erschreckend. Auf Hawaii z. B. sank die Bevölkerung in achtzehn Jahren von fünf und achtzig Tausend auf fünf und zwanzig Tausend. In so kurzer Zeit verminderte sie sich also um das Dreifache, und dies Absterben griff um so weiter und rascher um sich, je mehr Civilisirte sich im Lande ansiedelten. Merkwürdig genug bemerkt man auch unter den Lappen, deren Rennthierheerden doch unerschöpflich, auf deren hochliegende Forsten und Weideplätze die Kultur noch nicht gestiegen ist, – in den letzten fünfzig Jahren ein auffallend starkes und rasches Abnehmen der Bevölkerung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III