Abschnitt 1

VII.
Natur und Schicksal der Indianer in Nordamerika.


Es heißt oft, die Gegenwart sei eine Zeit der aufstrebenden Nationalitäten, man könnte mit demselben Rechte sagen, der absterbenden. Wohin wir blicken, sehen wir allerdings die Völker ihre Kräfte zusammennehmen, eine freie nationale Bewegung zu gewinnen. Niemals war das Nationalgefühl so allgemein thätig und fruchtbar, niemals so bewußt in den Lebensäußerungen der Völker, auch die alten nationalen Sagen und Lieder kommen wieder zu Ehren. Das gilt von den kleinen wie von den großen Nationalitäten. Allein mitten in diesem Völkerconcert hört man mancher Stimme an, daß sie bald verstummen muß; sie wird schwächer und schwächer, und die Zeit läßt sich bereits berechnen, wo auch ihr letzter ängstlicher Ton erstickt ist. Gerade der Druck, den die großen Nationalitäten jetzt auf die kleinen ausüben, treibt die letztern an, noch einmal ihr ganzes Vermögen anzustrengen, um sich vor dem Untergang zu retten. Es ist aber nur ihr letzter Anlauf, die großen Nationalitäten gewinnen und dehnen sich aus, die kleinen werden unabwendbar zersetzt und aufgerieben. Dieselbe Strömung der Zeit, welche schon so viel Individuelles in den Ständen Provinzialrechten und häuslichen Sitten ausgelöscht hat, zerstört auch das Nationelle in den kleinen und schwachen Völkern. Nach dem mittelalterlichen Staatsprinzip konnte ein und dasselbe Reich die verschiedensten Volks- und Staatsbildungen in möglichster Freiheit und Mannigfaltigkeit umfassen: die Geschichte der neueren Zeit hingegen arbeitet daran, einige wenige mächtige Völker als große Kulturmassen, als in sich gleichartige Staatsganze hervorzuheben. Das Verkümmern und Verschwinden der kleinen Nationalitäten geht deshalb in Europa von selbst vor sich, es bedarf nicht mehr wie früher dazu der Kriege und Gewaltthaten.


Noch viel tragischer ist das Loos der Ureinwohner in Amerika. Ganze Rassen sind dort im raschen Absterben begriffen. Sie weichen zurück weiter und weiter in das entlegene Innere der Länder, die Wilden flüchten vor der herandrängenden Civilisation, wie das Wild flüchtet, wenn es die Axt des Ansiedlers hört. Dort im tiefen Innern des Landes gehen sie unter, lautlos, spurlos. Die Nationalitäten, welche in Europa in eine größere aufgehen müssen, verleiben dieser auch einen Theil ihrer Geschichte, ihres Charakters, ihrer Sitten und Gewohnheiten ein: von den Indianern wird, das spanische Amerika ausgenommen, nichts übrig bleiben, als einige ihrer Geräthschaften in ethnographischen Sammlungen und die Abbildungen und Berichte in den Büchern.

Ein größerer Unterschied zwischen beiderlei Volksarten besteht in den Ursachen ihres Untergangs. Nationalitäten wie die wallisische und schottische in England, die provenzalische und bretonische in Frankreich, die romanische in der Schweiz, die wallonische in Belgien, haben Jahrhunderte lang ihre Eigenthümlichkeit frisch und kräftig bewahrt in und neben den größern Völkern. Was sie an Land und Leuten einbüßten, mußte ihnen durch Waffengewalt abgerungen werden. Wo sie heutzutage verkümmern, geschieht es auch keineswegs blos deshalb, weil sie an geistiger und bürgerlicher Tüchtigkeit hinter ihren jetzigen Besiegern zurückständen; man wird z. B. die Finnen, Polen, Kleinrussen und Tartaren gewiß nicht für minder befähigt halten als die Großrussen. Es ist der weitgreifendere Wellenschlag der Geschichte, der jetzt durch die Völker läuft. diesem können sie nicht mehr widerstehen. Anders verhält es sich mit den Indianern. Diese verkümmern und nehmen ab im selben Augenblick, als sie des weißen Mannes Büchse knallen hören. Es ist, als ob bei bloßer Berührung mit den Weißen ihre Lebenskraft vertrocknete, als ob der Athem des weißen Mannes ihnen die Luft benähme. Hier kann die Ursache nur die eigene Inferiorität der Indianer sein.

Welcherlei Art diese Inferiorität ist, und welche Wirkungen sie hervorbringt, erhellt leicht, sobald man Wesen und Treiben, Natur und Charakter dieser Völkerschaften näher betrachtet. Es genügt nur eine davon ins Auge zu fassen. Ihre Zustände wie ihre Schicksale sind sich in ganz Nord- und Südamerika ungemein ähnlich.

Zu den kräftigsten wilden Stämmen gehören die Indianer im Gebiet der Vereinigten Staaten. In den vordern Unionsgebieten stößt man nur noch sehr selten auf ein Häuflein Indianer, welches mitten unter den Weißen sitzen geblieben ist, etwas von ihrer Kultur angenommen hat, unter deren Wucht aber verkümmert. Gleich wie ihre Hütten halb aus Lehm und Brettern, halb aus Baumrinde Matten und Thierfellen bestehen, so ist auch ihre Bildung ein ärmliches Flickwerk aus mühsam angelernten Sitten und Einrichtungen der Weißen und aus wildem ungezähmtem Natursinn. Sie verkehren sich in dumpfem Sehnen nach Freiheit, und nach wenigen Jahrzehnten wird auch der letzte verschwunden sein. Selbst im Westen der Vereinigten Staaten muß man erst viele Tage lang den Missouri oder obern Mississippi hinauf fahren, um in die Nähe der freien Indianer zu gelangen. Noch erinnern überall diese wild fluthenden Riesenströme und ihre Uferlandschaften an die Wilden. Erst vor einem Menschenalter wurden ihnen diese weiten Strecken abgekauft. Noch liegt der Schimmer und die Frische der jungen Natur über der Gegend ausgebreitet. Doch wie selten zeigt sich das Dach eines Wigwam am hohen Uferrande oder sieht man dort in der Abenddämmerung einen Indianer stehen, der stumm in seine Decke gehüllt auf das fluthende Gewässer und das vorüberbrausende Dampfschiff hinstarrt. Einzelne armselige Familien sind zurückgeblieben, die Stämme, zu denen sie gehörten, sind schon tiefer im Westen, weit weg von den Ufern der großen Ströme.

Auf dem Wege zu diesen Stämmen nimmt der Reisende die ersten Nachtlager in den Blockhütten der Hinterwäldler und Jäger, die oft stundenweit von einander wohnen. Ihre schweigsame Natur bereitet vor auf die Einöde, wo alle Kultur schweigt. Halbindianer, ebenso häßliche als verachtete Menschen, durchtriebene Händler, welche den Indianern Branntwein, Fuhrleute welche den Forts Lebensmittel zuführen, hin und wieder kleine Jagdzüge von Offizieren aus den Forts, oder einzelne streifende Jäger, – das sind die Figuren, welche die weiten Prairien des Gränzgebietes sparsam beleben. Hinter dem Gränzgebiete, namentlich an Flußübergängen und längs den großen Handelsstraßen nach Kalifornien und Mexiko hat die Regierung an einzelnen Punkten kleine Forts errichtet, große feste Blockhäuser mit einer Umzäunung von hohen Palisaden, in welchen ein paar Schwadronen Dragoner in Garnison liegen, um die Indianer im Zaume zu halten. In diesen Forts wohnen die Intendanten, – Regierungsbeamte welche den Handel mit den Indianern leiten und überwachen, und ihnen zu bestimmten Zeiten im Jahre die Gelder Lebensmittel Waffen und Kleidungsstücke verabreichen, welche vertragsmäßig für die abgetretenen Landstriche bezahlt werden. In der Nähe des Forts befindet sich gewöhnlich eine Station für Missionäre, welche von der Regierung oder von Privatgesellschaften besoldet werden, um die Indianer zum Christenthum zu bekehren. In der Regel ist die Wirksamkeit dieser Missionäre wenig segensreich. Einige Kinder kommen bis zum sechszehnten Jahre nach Laune in die Missionsschule, weil man ihnen darin zu essen giebt. Später gehen sie wieder auf im wilden umherziehenden Leben ihres Volkes, einige verworrene Ideen vom Christenthum sind die ganze Frucht der Thätigkeit amerikanischer Missionäre. Selbst diesen wird es zu schwer, sich von dem eingewurzelten Hasse gegen das Indianervolk loszumachen. Die französischen Jesuiten allein und die deutschen Herrnhuter haben es verstanden, die wilden Kinder der Prairien und Urwälder durch mildes und kluges Eingehen auf ihre Denkweise zu bekehren. Ihnen gelang es, dazu den wichtigsten und schwierigsten Schritt zu thun, indem sie die Indianer an einen festen Wohnsitz und an Ackerbau gewöhnten. Auf die deutschen Herrnhuter vorzüglich läßt sich, überall wo sie unter wilden Völkern gewirkt haben, das schöne biblische Wort anwenden: ihr Leben war Wohlthun.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III