Abschnitt 4

VIII.
Kulturpioniere.


Zu welchen Völkerstämmen und Geschäften sich indessen die Kulturpionire auch bekennen, immer findet man bei ihnen in den Grundzügen denselben Charakter und Ideengang, dieselben Sitten und Gebräuche.


Zuvörderst irrt sich, wer bei ihnen steten Hang zur Unordnung und Losgelassenheit voraussetzt. Dieser Hang greift nur Platz außer der Arbeit, bei dieser selbst bekunden sie vorzüglichen Ordnungssinn. Verstand und Erfahrung haben sie gelehrt, daß ihre langen und mühseligen Arbeiten nur dann gedeihen, wenn sie nach festen Regeln zusammen wirken. Da sind zuerst gewisse Gesetze, welche sich in der Wildniß durch die Ueberlieferung forterben, und so alt sind als der erste Axt- und Ruderschlag, als der erste Büchsenschuß, der durch die Einöden hallte. Es ist das Naturrecht der Wildniß, in wenige einfache Artikel gebracht. Der eine Theil soll möglichst genau den Augenblick feststellen, wo das Occupationsrecht, das Recht der ersten Besitznahme in Vollzug gekommen; der andere Theil bestimmt, wann Lagerplatz Hütten Geräthe Holzschlag Anbau auf Metall und dergleichen als preisgegeben und wann Hausthiere als in den Zustand der Wildniß zurückgekehrt zu betrachten sind. Diese Gesetze werden ernst und sorgfältig beobachtet, wer sie verletzt, hat sich durch die That selbst verfehmt, und ohne Mitleid und Erbarmen trifft ihn die gemeinschaftliche Rache. So besteht unter den Vorsiedlern das alte Gesetz, daß jeder Mann auf ungefähr hundertsechszig Acker Wildland sein Besitzrecht blos dadurch gründen kann, daß er ein paar Bäume fällt oder anhaut, oder ein paar Stämme Baumrinden und Zweige zusammenschleppt und eine Art Hütte daraus macht und einen Feuerplatz davor. Auch der Staat, wenn er dem Vorsiedler nachrückt, erkennt dies Recht theilweise an; denn kommt das Land, wo jener sich eingehockt hat, zum Verkaufe, so braucht er nur seinen Anspruch anzumelden und kann jetzt während zweier Jahre das Land zu einem mäßigen Preise kaufen. Ist dieser Zeitraum verstrichen, so könnte freilich jeder Fremde das Land von der Regierung kaufen und den Hocker von seinem Eigenthum vertreiben. Dazu würde er aber weder Hülfe finden, noch würde es ihm ungerächt hingehen. Denn noch immer besteht unter den Vorsiedlern, wenn auch der geordnete Staat sie mit seiner Herrschaft schon erreicht hat, ihre Clublaw, ihr Genossenrecht. Der Ankäufer, der sich mit dem Vorsiedler auf seinem Grund und Boden nicht gütlich abfinden wollte, würde von den Umwohnenden bald die Botschaft erhalten: sie sähen ihn nicht mehr als Nachbar an. Was wollte er dann anfangen! Nirgends fände er Hülfe und Schutz in der Einöde. Ein Stück Vieh nach dem andern, das er des Morgens erschossen bei seiner Hütte fände, würde ihn mahnen: Vertrag dich oder flieh. Auch in andern Sachen entscheidet in der Wildniß das Genossenrecht, das ist der Wille der Mehrheit, der sich in Nothfällen auch durch eine förmliche Versammlung oder durch ein bestelltes Geschwornengericht ausspricht; das natürliche menschliche Gefühl von Recht und Unrecht ist hier der Richter. Wo Jemand gegen einen Räuber Dieb oder groben Beleidiger sein Recht der Selbsthülfe gebraucht hat, bedarf er nur der Rechtfertigung bei seinen Genossen und wird allemal Zustimmung finden. Seine sonstige Gesellschaftsverfassung giebt sich jeder Haufe selbst. Wo kein Unternehmer an der Spitze ist, wird der Gescheidteste und Tüchtigste förmlich oder stillschweigend zum Hauptmann gesetzt, und so lange er nicht gegen den Willen der Mehrheit verstößt, unterwirft sich alles seinem Ansehen. Nur die Deutschen haben in dieser Beziehung eine nationale Schwäche. Bei ihnen ist Hader Eigensinn Parteiung und endlich Zerfall einer gemeinschaftlichen Unternehmung etwas sehr Gewöhnliches. Der genossenschaftliche Sinn, die Neigung und Fähigkeit, sich freiwillig und dauernd unterzuordnen unter ein gemeinsames Haupt und Gesetz und Ziel, – dieser edle Sinn welcher Hebel und Anker der staatsbürgerlichen Freiheit ist, in dessen fester und fruchtbarer Uebung die Deutschen früher allen Völkern vorangingen, kam wie es scheint ihren Nachkommen nur zu sehr abhanden.

Ein zweiter Charakterzug unserer Pionire in den Wildnissen ist eine ernste und düstere Religiosität. „Wer nicht beten kann, soll auf das Meer geschickt werden.“ Dieser Spruch bewahrheitet sich auch in dem Ozean der Wälder und Prairien. Die Unermeßlichkeit der Naturumgebung, ihre ernste Majestät und Ruhe, die plötzlich heranwogenden Schrecken der Wildniß, die tägliche Erfahrung wie der beste Plan, das kräftigste Leben zerschellt an etwas vorher nicht Gewußtem und nicht Bedachtem, – durch solche unaufhörlich fortgesetzten Eindrücke wird der Leichtsinn ausgetrieben und das Gemüth ernst gestimmt. Wer viel in einsamer Natur lebt, ist immer religiös: die Geselligkeit, welche dem Menschen mehr Sicherheit des Lebens und Erwerbes verbürgt und mehr abwechselnde und hinreißende Genüsse giebt, entkleidet ihn ebenso leicht des religiösen Ernstes, als sie wieder die reinsten und zartesten Blüthen frommen Sinnes erzeugt. Die Religion des Bewohners der Wildniß ist die Ehrfurcht vor der ewigen Gewalt über Leben und Tod. Mit dieser Ehrfurcht verbindet sich leicht ein Aberglauben an geheime und wunderbare Kräfte und an die Mittel, sich ihrer zu versichern. Am meisten religiös ist der Ansiedler in den tiefen Wäldern und der Jäger, am allerwenigsten der Händler. Zu Zeiten ergreift die Hinterwäldler ein wahres Hungern und Dürsten nach religiöser Nahrung. Dann eilen sie viele Tagereisen weit zu den methodistischen Waldlagern, deren entsetzliche Aufregungen eben nur in dem düstern und rauhen Leben kentuckischer Hinterwäldler ihren Ursprung nehmen konnten.

Ueberhaupt ist die geistige Habe all dieser Arbeiter und Ansiedler in den Wildnissen hart und roh angehauen. Sie sind merkwürdig geschickt in Handgriffen und Listen und reich an Einfällen in allen Dingen ihres täglichen Geschäftes und Verkehres; ein deutscher Bauer macht darin ihnen gegenüber eine plumpe hölzerne Figur. Allein dieser deutsche Bauer hat dennoch mehr Reichthum des Geistes und Herzens als jene Leute, deren Inneres so trocken und unfruchtbar bleibt wie steiniger Boden. Doch das ist ein Mangel, den sie mit fast allen ihren Landsleuten theilen.

Will man den Amerikaner, dessen Vorfahren einst fast überall in ähnlichen Zuständen waren, vollständig kennen lernen, so muß man den Charakter studiren, wie er sich im Kampfe mit der Wildniß bildete. Rach- und Händelsucht, Jähzorn, Leidenschaft für das Hazardspiel sind Eigenschaften, welche sämmtliche Kulturpionire theilen, am meisten haben sie die Metallgräber und Holzfäller, am wenigsten die Hinterwäldler. Das ist die Kehrseite des Kraftgefühls, das diesen Männern in Brust und Armen siedet und sich Luft macht in tollen Streichen. Das Bewußtsein, wie oft sich diese Kraft erprobt hat, giebt ihnen einen ruhigen Stolz, eine stählerne Ausdauer und eine Unternehmungslust, die in Erstaunen setzen. Sie machen sich an Unternehmungen, bei deren Gedanken schon den gewöhnlichen Kulturmenschen Zittern ankäme. Ihre Phantasie ergeht sich deshalb in abenteuerlichen Erzählungen und Vergleichen, und so große Lügner auch die Jäger und Seeleute in Europa, sie sind darin unschuldige Kinder gegenüber den Leuten in den wüsten Wäldern und Prairien von Nordamerika.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III