Abschnitt 4

IX.
Junge Städte im Westen Nordamerikas.


Kommt man aus den Wildnissen von den lebhafteren Plätzen der Metallgräber und Holzfäller zurück und in eine junge Stadt des Westens, so scheint anfangs der Unterschied des Lebens und Treibens gar nicht so groß. Nur mehr Leute sind hier auf einen Punkt zusammengedrängt, um ihre Häuser aber wogt noch rings die wilde Natur, und ihre Geschäfte Ideen und Ansichten sind von derselben frischen Lust des Wagens und Abenteuerns, von demselben Raub- und Handelsgeiste gefärbt, wie bei jenen Pioniren der Kultur. Bald aber merkt man, daß hier die Leute wohnen, welche die Arbeiter der Einöden in Bewegung setzen. In ihrem Wirrwarr von halb oder ganz fertigen Häusern Hütten, großen und kleinen Holzschuppen geben sich doch schon feste Linien zu erkennen, welche die künftigen Plätze und Straßen bezeichnen, hier und da erhebt sich bereits ein Steingebäude; an diese Städte also soll das Leben und die Kultur dauernd gefesselt werden. Die Ansiedlung hat eine Zukunft, während jene Pionire von ihrem Thun nichts hinter sich lassen, als eine Feuerstätte, welche der Nachtregen wegwäscht, oder eine rohe Blockhütte, die in Wind und Wetter verfault, wenn sie nicht der nächste Ansiedler zusammenreißt.


Wir versetzen uns in eine eben aufblühende Stadt, in deren großen Gasthofsgebäuden man gebrannte Wasser, dreimal täglich reichliches fettes Essen und eine Schlafstelle erhält, schwerlich aber den Luxus eines eigenen Zimmers. Im Schlafsaal stehen ein halb Dutzend Betten, der europäische Fremdling, der mit einer Anzahl lautloser Männer hineintritt, wählt sich das äußerste Bett in der Ecke, allein mit Entsetzen nimmt er wahr, daß der erste beste Hinterwäldler ernstliche Anstalten macht, sich brüderlich zu ihm zu legen, statt in das leere Bette daneben. Diese Artigkeit scheint noch aus den Zeiten der Indianerkriege herzurühren, wo es gerathen war, bei nächtlichen Ueberfällen einen Schlafkameraden nahe bei der Hand zu haben. Man ersinnt in der Angst alles Erdenkliche, um sich solche warme Freundlichkeit vom Leibe zu halten und ist froh, wenn sich der Nachbar mit einem „verdammt sonderbarer Bursche“ in seine eigene Decke wickelt. Am andern Morgen, wenn der erste Tagesstrahl die Nasen der Schläfer berührt, streckt einer um den andern den Kopf hervor, ein jeder rülpst und seufzt und dann legt sich jeder zurück in ernstem Schweigen. Nach einer kleinen Weile klingelt schallt und dröhnt durch das ganze Haus der Gong, die gräßliche Lärmtrommel der Chinesen. Im Nu fährt alles vom Lager, blitzschnell hat jeder den Hut auf dem Kopfe, geht nach dem Fenster, sieht nach dem Wetter und wünscht dann dem andern ehrbar guten Morgen. Langsam und versenkt in Geschäftsgedanken bekleiden sie darauf ihren Leib, den Hut aber, das Zeichen der männlichen Würde, setzen sie blos den Augenblick ab, wenn es an jenes saubere Geschäft geht, das für die ganze Gesellschaft mit einem einzigen Waschbecken und Handtuch abgethan wird. Bald lärmt der Gong zum zweitenmal, bei dem ersten Klang allgemeines Thürschlagen Rennen und Poltern auf den Treppen, als wäre das Haus im Brande, jeder will zuerst zum Frühstückstisch. Da sitzen sie dann an langer Tafel, an jeder Seite fünfzig und mehr, Speisendunst und dumpfes Schweigen ruht über der langen Reihe, kein menschlicher Ton wird gehört, nur das Knirschen und Arbeiten der Zähne und das Rasseln der Teller und das Rennen der farbigen Diener, welche mit den gefüllten Schüsseln auf und ab fliegen. Wer es nicht wüßte, glaubte er sähe Sträflinge im Schweiggefängniß, oder der Prediger werde gleich seinen ernsten Vortrag beginnen.

Doch zum Beobachten ist wenig Zeit. Schon hat jeder wieder seinen Deckel auf dem Kopfe und rennt noch kauend auf die Straße. Die sonderbaren Leute! Sie sind sonst so praktisch und wollen auch mit dem Essensgeschäft keine Zeit verlieren: wär es aber nicht viel geschäftsmäßiger, wenn sie menschlicher äßen und zu allen Dingen leichter und gesunder blieben? Es würde am Ende doch mehr abwerfen.

Wir folgen den Herren auf die Straße. Ein eigenthümlicher Anblick, – als wäre eine Stadt abgebrannt und sollte in größter Eile wieder aufgebaut werden. Doch hier ist kein Schutt von zerstörten Menschenwerken wegzuräumen, nur die tausendjährige Schöpfung der Natur wird von einem Fleckchen Erde vertilgt, damit der Mensch Platz habe. Mitten in die Wildniß ist plötzlich ein Stück von der Kultur und Ueberkultur unserer Großstädte geworfen. Wahrhaftig, dort bei dem Restchen von Urwaldbäumen steht ein Indianer vor einem Schaufenster, hinter welchem ein Meisterstück der Landesindustrie aufgestellt ist, der Watten- und Drahtharnisch, den eine Amerikanerin unter den Kleidern trägt, um sich runde Formen zu geben. An jenem glänzenden Hause steht und stiert eine Kuh, fast drückt sie das Spiegelfenster ein mit dem goldschimmernden Porzellan dahinter. Dem Gasthof gegenüber zeigt sich ein ganzes Straßenstück mit hübschen Häusern fertig, sie haben stellenweise schon ein sauberes Steinpflaster vor der Thür, zwischendurch sucht man den Weg über Haufen von Sand Kalk und Backsteinen, zwischen denen einem der Urwaldkoth hinterlistig in die Schuhe läuft. Auf der andern Seite der Straße sind mehr Häuserlücken zu sehen als Häuser, die Säue reiben sich an Baumstümpfen, und die ganze Pflasterung besteht hier aus schwankenden Bretterlagen, durch deren breite Fugen bei jedem Schritte schmutzige Wellen aufsprudeln. Diese eine Hauptgeschäftsstraße, welche regelmäßig ihren Namen von der Hauptstraße einer ältern Stadt entlehnt, scheint der Kern der Ansiedlung werden zu sollen, wenn diese überhaupt einen Kern enthält. Entstehende Gärten und darin hübschgeweißte Holzhäuschen mit großen Säulenpforten, auf der einen Seite eine Ansammlung häßlicher Holzschuppen, auf der andern eine gothische Kirche von Brettern, Pferdevermietherställe, Milchwirthschaften und glänzende Kaufläden, das drängt sich noch alles durch einander, das eine will über das andere hinaus, und doch steht noch keines auf festem Grunde.

Denn seinen Einwohnern schwebt bereits die große Stadt vor Augen, welche bald hier entstehen soll. Nur vorläufig richten sie sich ein, noch haben sie alle Hände voll zu thun, etwas Geldströmung und Handel herzuziehen. Das eilt und rasselt und treibt sich hastig durch einander, vom Morgen bis zum Abend ist alles in fliegender Geschäftseile. Man sollte glauben, es ständen hier in jeder Stunde die größten Reichthümer zu erobern, und jeder wäre im Wettrennen danach. Und hört man die Leute von ihrer Stadt sprechen, so klingt es wirklich, als sprudelten hier die Gold- wie die Gesundheitsquellen lustig aus dem Boden. Es ist wirklich Stolz und Liebe in ihnen für ihre neue Heimath. Jeder trägt die ungeheuern Hoffnungen, die er von seiner eigenen Zukunft hegt, auf den neuen Platz über. Diese Neigung für den Ort bekundet sich auch darin, daß man ihre Geschichte und Naturumgebung in’s Licht zu stellen sucht. Kaum ist die Stadt fünf Jahre alt, so kann man darauf rechnen, daß ein Prediger Advokat und Grundeigenthümer anfängt, die Naturalien und die Indianergeschichten der Umgegend zu sammeln. Der Sinn für die Oeffentlichkeit, für das allgemeine Interesse giebt den Reiz und den Antrieb dazu. Es ist ein wunderbar kräftig wirkendes Mittel, diese Oeffentlichkeit, sie facht Ehrgeiz und Thatkraft im gewöhnlichen Menschen an und läßt ihn nicht ruhen, bis er etwas thut, was aller Blicke auf sich zieht. Das spornt die Unternehmungslust täglich von neuem.

Die größte Regsamkeit herrscht fortwährend in einer solchen jungen amerikanischen Stadt an ihrem Wharf, am Landungsplatze, sei es am Flusse oder am See. Man ist tief im Innern des Landes und doch weht hier etwas wie Seeluft; die Gedanken fliegen über unermeßliche Strecken, als wäre man an den Küsten des Meeres. Das bewirken die großen Flüsse und die Kette von Seen, auf welchen man Schiffe mit Ladungen, wie sie Meeresschiffe tragen, an die Küsten des Ozeans schickt. Die Anwohner der westlichen großen Seen, des Mississippi und Missouri werden selbst in den entlegenen Gegenden des inneren Landes niemals die Schwerfälligkeit des europäischen Binnenländers bekommen. Ihre Gedanken sind gewohnt, mit den raschen Wellen und Schiffen fort und fort zu eilen bis an die großen Seestädte, welche recht eigentlich die Hafenplätze für das ganze Land sind. Freilich, Länder voll uralter eigenthümlicher Kultur, bei welchen die Gedanken stehen bleiben müßten, liegen ihnen nicht im Wege.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III