Abschnitt 2

IX.
Junge Städte im Westen Nordamerikas.


Indeß halten wir uns jetzt nur an die Reisemittel, die wir schon haben. In derselben Stufenfolge, als die Verkehrsstraßen häufiger und schneller befahren werden, vermehren und vergrößern sich auf ihrer ganzen Länge die Ortschaften und Städte. Jedes Dampfschiff das anlegt, jeder Wagenzug der anhält, setzt einige Leute ab und zieht andere aus der Umgegend herbei, welche dort Geschäfte machen lernen und sich nach und nach auch ansiedeln. Je schwunghafter der Verkehr auf der Handelsstraße wird, desto rascher wächst die Bevölkerung, desto mehr Arbeitskräfte und Reichthümer häufen sich dort an. Auf einmal stockt die Zufluth, es sind andere kürzere und vortheilhaftere Straßen gebaut, und die Strömung des Verkehrs, welche auf allen Haltstellen Goldkörner absetzte, gleich wie ein Fluß an sonnige Uferplätze mit tiefem Wasser die Fische heranspült, verläßt die alte Richtung und lenkt in die neue ein. Dann beginnen sich in jenen Städten die sorglichen Gesichter zu zeigen, welche immer länger werden, je dünner die Reise- und Waarenzüge auf der alten Bahn ausfallen. Alsbald beginnt eine Auswanderung. Erst wird der Abfluß der Kapitalien merklich, welche sich beeilen, an begünstigteren Orten zu spielen; dann ziehen ab viele Großhändler und Mäkler, und mit ihnen geht die Menge der Clerks, der jungen Leute, welche sie als Schreiber beschäftigen. Auch Kleinhändler Doktoren Advokaten und zuletzt Handlanger Karrenführer und Handwerker finden es allmählig gerathener, ihre Hausgötter, welche vor Wanderlust unruhig werden, nach den lebhafteren Plätzen zu tragen. Der Rest, welcher nicht fortwandert, besteht in solchen Industriellen, welche festbegründete Anlagen haben, deren Einträglichkeit nicht mehr blos von örtlicher Fluth und Ebbe des Verkehrs abhängt, und jene Doktoren Prediger Kaufleute und die Menge der Handwerker, die ihre Geschäfte nicht mehr ausdehnen wollen. Regelmäßig zurück bleibt die Mehrzahl der deutschen Handwerker und der deutschen kleinen Grundbesitzer, denen es einmal wie Blei in den Gliedern liegt. Diese benutzen jetzt aber die gute Gelegenheit, sich bessere Häuser und kleine Farmen in der Nähe zu kaufen.


Einige Jahre hindurch wird es nun in einer solchen Stadt merkwürdig still im Vergleich mit dem Leben, welches sie früher durchbrauste, und ihre Bewohner befleißigen sich einer ehemals hier nie gekannten Bescheidenheit. Das gesellige Leben aber wird unter ihnen nun freundlicher, ja es bekommt einen Hauch von Gemüthlichkeit. Die Leute betrachten einander als eine vom großen Heereszuge zurückgelassene Schaar. Nach einer Reihe von Jahren wird dann die Umgegend mehr besiedelt,. und der dadurch gesteigerte Verkehr bildet einen natürlichen Ersatz für den verlorenen. Er ruft nicht mehr mit einem Schlage Geschäfte und Gebäude hervor, wie der Volksstrom, welcher zwischen Osten und Westen hier durchjagte; was aber durch jene langsam anwachsende Bevölkerung der Umgegend geschaffen wird, das ist gleich anfangs mit mehr Dauer und Manier begabt. Als den Zeitpunkt, wo die natürliche Genesung einer solchen Stadt vollendet ist, kann man das Jahr betrachten, in welchem die Farmer der Umgegend anfangen, dort ihre landwirthschaftliche Ausstellung, und die benachbarten Prediger und Advokaten, ihre regelmäßige Versammlung zu halten.

In Europa giebt es ebenfalls große und kleine Städte, welche die Ebbe der Handelsströmung, die sie mit Leben erfüllte, wie Fische auf dem Trockenen liegen läßt. Dann erhält der ererbte Reichthum noch Jahrhunderte hindurch der Stadt die zahlreichen und angesehenen Familien, und die Solidität der einmal gegründeten großen Geschäfte ist der Art, daß sie noch auf viele Menschenalter sich künstlich den Verkehr in die Weite schaffen, wenn der natürliche Zufluß schon aufgehört hat. In europäischen Ländern ist es gar nicht so leicht, Nebenbuhler berühmter Handels- und Gewerbsplätze zu werden, es gehören nicht blos beträchtliche Baarmittel, sondern auch bedeutende Kenntnisse dazu. Die Nanteser z. B. sahen mit Mißmuth der nahen Zeit entgegen, wo St. Nazaire, welches zwölf Stunden tiefer an der Loire liegt, mit ihrer Stadt durch eine Eisenbahn verbunden war; denn es siedelten eine Menge Geschäfte sich dorthin über, weil die Schiffe lieber dort ihre Ladung löschen, als daß sie erst den zwölfstündigen sehr beschwerlichen Weg den Fluß hinauf nehmen. Aber so blühend auch St. Nazaire werden mag, Nantes bleibt doch die alte reiche lebensvolle Handelsstadt, und St. Nazaire wird nie etwas anderes als ihr Vorwerk. In Amerika genügt oft schon das Verschlammen des Flußhafens, – wie es durch eine veränderte Strömung der großen Flüsse leicht eintritt, jedoch durch kräftige Arbeit zu hemmen wäre, – um gerade auf dem entgegengesetzten Ufer in zwei Jahren eine neue Stadt entstehen lassen, welche ihrer ältern Schwester die Bewerber zum besten Theile völlig entzieht.

Eine dritte Ursache, welche wie Fluth und Ebbe in Amerika Städte aufblühen und abnehmen läßt, ist die Einwanderung. Auf den Punkten, wo die Schaaren der Einwanderer aus den Wagen und Dampfschiffen steigen, um sich in das umliegende Land zu begeben, entwickelt sich unglaublich rasch eine größere Stadt. Die Familien der Einwanderer verweilen dort ein paar Tage, während die Männer in der Nachbarschaft den Ansiedlungspunkt aussuchen und die ersten Blockhütten aufschlagen. Alle Ansiedler haben mancherlei Geräth für Haus- und Feldwirthschaft, Fenster, Handwerkszeug und dergleichen nöthig, noch mehr, sie müssen das erste Jahr hindurch, oft noch im zweiten, Mehl und Rauchfleisch kaufen; endlich brauchen sie Tag ein Tag aus Kaffee Zucker Kleider Medizin, Zeitungen, alles das muß an Ort und Stelle beschafft werden. Der erfinderische Yankee sorgt dafür, er langt häufig gleich mit den ersten Einwandererzügen an, schlägt sein Bretterhaus auf, packt seine Waaren aus und eröffnet seine Gast- und Schenkwirthschaft. Wohin nun die Einwanderung einmal eine Richtung bekommen, da bleibt sie in dieser Bahn gewöhnlich ein paar Jahre hinter einander, mit jedem Monat wächst daher die Stadt, wo dieser Strom ausmündet, um sich in zahllosen kleinen Bächen ins Land hinein zu verlaufen.

In welche Gegend die Einwanderung nun gerade eindringen wird, das kann nur ein des Landes lange Kundiger, und oft auch der nicht zwei Jahre vorher, wissen. Regel ist nur, daß die Hauptmasse immer weiter in den Westen hineinbricht, und daß auf dem Wege dahin nach und nach immer mehr Seitenströme abbiegen, um bisher unbeachtete Gegenden aufzusuchen. So giebt es z. B. im Staate New–York noch weite Strecken, welche so naturfrisch mit dichtem dumpfem Urwalde bedeckt sind, als irgend eine Gegend im Westen. Häufig ist es rein zufällig, daß die Einwanderung in einem Jahre gerade diese oder jene Gegend aufsucht, das Land ist dann durch irgend etwas in der Leute Mund gekommen, und hieher rennt alles was eine neue Heimath haben will. Eben so häufig aber sind es die unsichtbaren Hände der Landhändler, welche den nichts ahnenden Einwanderer gleichsam bei den Haaren fassen und ihn nach einem bestimmten Orte ziehen. Denn jeder Einwandererkopf ist für jene Leute seine baaren Dollars werth.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III