Abschnitt 4

III.
Boston.


Es war daher die reinste Vaterlandsliebe, die Erkenntniß eines Landeselends, wodurch eine Menge angesehener Männer bestimmt wurden, sich mit allem Eifer der Mäßigkeitssache anzunehmen, nicht Kosten nicht Mühen dafür zu scheuen, ja diese Sache zu ihrer Lebensaufgabe zu machen. Männer dieser Art, welche ihre ganze Zeit und ihr ganzes Vermögen an einen gemeinnützigen Zweck setzen, giebt es nicht wenige in Amerika, in jenem Laude so vieler Freiheit und Zügellosigkeit, so vieler Tugenden und Verbrechen, wo der feurige Nationalgeist und die empfindlichste nationale Eitelkeit ebensoviel tüchtige Erscheinungen im Volke hervorrufen, als sie widerwärtige zu verdecken, zu entschuldigen und selbst wohl zu rechtfertigen suchen. Die Mäßigkeitsapostel griffen ihre Aufgabe am rechten Ende an. Sie errichteten Mäßigkeitsgesellschaften, welche mit Prunk und Ansehen in die Oeffentlichkeit traten, durch die ganze Union hin sich miteinander verbündeten und gemeinsame Maßregeln unternahmen. Die Mäßigkeitssache wurde Parteisache, und als solche geführt mit aller Leidenschaft. Mitglied der Mäßigkeitsgesellschaften aber wurde nicht, wer im Allgemeinen Mäßigkeit gelobte, sondern nur derjenige, welcher sich eidlich verpflichtete, fortan keinen Tropfen berauschenden Getränkes zu nehmen. Denn bei dem Amerikaner heißt es zu leicht: gar keine Mäßigkeit oder Enthaltung ganz und gar.


Sobald die Temperancemänner in einigen Städten festen Fuß gefaßt hatten, begann eine Agitation im Großen, welche sich sofort durch das ganze Land hin erstreckte. Man sprach und predigte in Kirchen und Familien, in Schulen und Versammlungen. – Hunderttausende von Traktätchen, welche in Wort und Bildern die Entwicklung und das gräßliche Ende des Säufers darstellen, wurden unter das Volk geschleudert. – Zeitungen für die Verbreitung der Mäßigkeitssache gegründet, andere politische Zeitungen für die Unterstützung derselben durch bedeutende Summen gewonnen, – endlich wortgewaltige Redner von Ort zu Ort geschickt, die Gewissen aufzurühren und überall die Mäßigkeitssache zur Landesangelegenheit zu machen. Die thätigsten, die beredtesten und einflußreichsten Förderer derselben waren überall die Frauen und die Prediger. So entstanden in jeder Stadt Mäßigkeitsgesellschaften, welche sich durch häufige feierliche Versammlungen in ihrem Eifer bestärkten, und in öffentlichen prunkvollen Aufzügen durch die Zahl und das Ansehen ihrer Mitglieder dem Volke imponirten. Man sorgte, daß schon die Knaben im zarten Alter zu den Mäßigkeitsgesellschaften eingeschworen wurden, auch sie mußten dann in langen Aufzügen öffentlich paradiren, damit das Enthaltsamkeitsgelübde sich mit ihrem ganzen Denken und Thun und insbesondere auch mit der jugendlichen Eitelkeit verschwistere. Zu gleicher Zeit wurden überall eine Anzahl von Segelschiffen, Kanal- und Flußbooten, Kost- und Gasthäusern gewonnen, deren Inhaber sich verpflichteten, ihren Leuten und Gästen kein Glas Wein Bier oder Branntwein zu verabreichen.

Durch dies Alles ist dem Lande entschieden ein großer und nachhaltiger Nutzen gebracht. Unzählige Familien sind vor dem Elend bewahrt, unzählige Verbrechen verhütet worden. Aber neben dem Segensreichen der Mäßigkeitsagitation stellte sich auch bald ihr Gehässiges ein. Wie schon bemerkt, verliert der Amerikaner, sobald er nicht mehr in strengen äußern Zügeln geht, leicht das Gleichgewicht, weil ihm der innere Schwerpunkt fehlt. Wenn er sich einer Sache hingiebt, so wird sie bei ihm sofort zur Leidenschaft, welche ihn zum Aeußersten hinreißt. In ihrem Eifer wider die Unmäßigkeit faßten die Temperance–Apostel einen seltsamen Haß gegen das verführerische Getränk selbst. Sie wollen es ganz und gar aus der Welt ausrotten, sie glauben allen Ernstes, der Satan habe die Säfte, aus denen Alkohol bereitet wird, in Gottes Pflanzung ausgegossen, und geberden sich bei dem Anblick einer Flasche Weines oder einer Bierhalle, als wenn sie Krämpfe bekämen. Ihr Haß gegen die teuflische Flüssigkeit trägt sich über auf diejenigen, welche mit Bereitung oder Verkauf des Getränks Geschäfte machen, oder welche seinen Gebrauch nicht abschwören wollen. Ein unerträglicher Zwang in dieser Beziehung wird geübt auf Lehrer Aerzte und Herausgeber von Zeitschriften wie auf Geschäftsleute. Wo die Ueberredung nicht hilft, wird die Kundschaft entzogen. Der Krieg gegen berauschende Getränke ist ausgeartet zu einem System von Aufpasserei und Anfeindung. Auch der harmlose Genuß von Wein und Bier wird mit grimmigem Haß verfolgt. Kurz, die Tugendenthusiasten sind zu einer großen Bande von gefährlichen Narren geworden.

Der Widerwille der Amerikaner gegen die Deutschen erhält zum großen Theile seine Nahrung aus dem Eifer gegen geistige Getränke. Der Irländer ist aufs Trockne gelegt, wenn man ihm blos den Schnaps entzieht, und sein Hang zur Völlerei rechtfertigt es, daß die schärfsten Mittel dagegen angewendet werden. Der Deutsche aber liebt den mäßigen und heitern Genuß, den man vergebens als etwas Teuflisches darzustellen versucht. Der Deutsche pflanzt Reben und Hopfen, er wirkt dadurch auf das Nachhaltigste der Neigung zum Schnapstrinken entgegen, und die Weinberge und Bierhallen lassen sich eben deshalb, weil sie unschuldige Freuden befördern, nicht so leicht mit Stumpf und Stiel ausrotten.

So lange nun die Mäßigkeitssache Privatsache blieb, konnte man sich ihrer guten Erfolge freuen und sich gegen das Uebermaaß der Eiferer selbst wehren. Aller Spaß aber hört auf, wo mir von Staats wegen verboten wird, mich eines einfachen und gesunden Genusses zu erfreuen, blos weil mein Nachbar vielleicht einen Hang zur Ausschweifung hat. Das heißt die Bergwerke zuschütten, weil man aus dem Erz auch Bowiemesser machen kann. Die Temperance–Männer sahen aber gemeinsam als das Ziel, welches ihre Bestrebungen krönen solle, das ernste und entschiedene Einschreiten der Staatsgewalt an gegen alles und jegliches Feilhalten und Trinken von irgend einem Getränk, welchem eine berauschende Kraft beigelegt werden könne. In Neuengland, wo der ächt amerikanische Unsinn, wie Sabbathsknechtschaft und Knownothingsunfug, gewöhnlich eben so leicht ausgeheckt wird, als in den mittleren Staaten Pennsylvanien Neuyork und Ohio eine großartig gemeinnützige Unternehmung wie die Freischulordnung und das Kanal- und Eisenbahnsystem, – in Neuengland gelang es auch zuerst, einen der kleinen Staaten mit dem Mäßigkeitsgesetze zu bestricken. Der Staat Maine nahm es zuerst förmlich und feierlich an, von dort erhielt es seinen Namen als Maine–Liquor–Law. Angefeindet verlacht und verspottet verbreitete sich dies Gesetz nichts desto weniger nach und nach über mehrere Ortschaften und Grafschaftsbezirke. Aussicht, in größeren Staaten angenommen zu werden, erhielt das Gesetz aber erst in den letzten Jahren. Fast überall sind die Mäßigkeitsgesetze äußerlich durchgedrungen, überall aber in der Ausführung wieder abgeschwächt, in einigen Gegenden förmlich wieder aufgehoben. Es kam darüber zu den erbittertsten Kämpfen, welche nur zeitweise zur Ruhe gekommen. Denn die hartnäckige Energie der Mäßigkeitseiferer verzichtet nicht darauf, endlich dennoch das ganze Unionsgebiet unter den Bann ihres Gesetzes zu legen.

Der Grund des gesteigerten Eifers der Temperance–Vereine wie der Partei der Natives (Knownothings) in der letzten Zeit liegt darin, daß die Vereinigten Staaten nicht blos in geistiger, sondern auch in politischer und religiöser Beziehung mannichfach noch nichts anderes sind, als „der Wiederhall der Alten Welt.“ Es ist eben der Kolonialcharakter, den das junge Land noch nicht abstreifen kann. Jede große europäische Bewegung treibt ihre Strömung bis dorthin, und bewußt und unbewußt folgen die Amerikaner dem Wellenschlage von der andern Seite des Atlantischen Ozeans. Jetzt sind in Europa die konservativen Interessen siegreich, in Amerika will man jetzt ebenso die hergebrachten Institutionen und Sitten gegen den Andrang des Neuen befestigen, daher geschärfte Polizei und strengere Sonntagsgesetze, daher die Siege der Sklavenhalter, der Knownothings, der Temperance–Eiferer. Bei dem größten Theile der eingebornen amerikanischen Bevölkerung haben sich politische Flüchtlinge aus Europa mit ihrem demokratischen sozialistischen und atheistischen Gebahren auf’s äußerste verhaßt gemacht, man greift nach allen Mitteln, ihnen Zügel anzulegen; man würde aber nicht die Macht haben, in dieser Beziehung Erfolge im Großen zu bewerkstelligen, wenn die europäische Zeitströmung nicht auch anregend und kräftigend nach Amerika hinüberwirkte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III