Abschnitt 3

III.
Boston.


In amerikanischen Dingen ist man in Boston vielleicht scharfsichtiger, als an irgend einem andern Punkte der Union. Man spricht hier aber von Politik wenig, weil man gegenseitig seine Ansichten einmal kennt und es nicht liebt, mit der Herrlichkeit und Kraft seiner Einsicht und Partei großzuthun. Bei der wärmsten und ehrlichsten Vaterlandsliebe macht sich in Bostoner Kreisen doch hier und da ein Mißbehagen an den öffentlichen Zuständen bemerklich. Manchem vornehmen Amerikaner fliegt, wenn auf amerikanische Institutionen die Rede kommt, ein Zucken um den dünnen Mund, was etwas wie Zweifel oder gar Hohn bedeutet. Man ist der wilden Auswüchse der Demokratie überdrüssig, erkennt mitten in dem großartigen materiellen Gedeihen die geistige Armuth und den Mangel an individueller Gediegenheit, und möchte sich vor Allem gern zur schöpferischen Fülle und Freiheit der Ideen emporringen.


Einige seufzen deshalb nach einer „gesunden Aristokratie,“ weil sie meinen, es fehle der Masse an einem obern Anhalt und Vorbilde; von einem Volkstheile, dessen höhere Stellung von dem Schwanken der Politik und des Handels nicht berührt werde, müsse Bildung und guter Geschmack, so wie in der Stille auch die Leitung in öffentlichen Dingen ausgehen. Die Aermsten! Zu ihrem innern unaufhörlichen Gram müssen sie selbst die Reste der Aristokratie abnehmen und das Rowdywesen täglich anwachsen sehen. In Boston finden sich selbst diejenigen mit ihren Ansichten nicht vereinsamt, welche ein konstitutionelles Königthum englischer Art der amerikanischen Volksherrschaft vorziehen.

All den Mitteln, durch welche auf dem kürzesten Wege eine allgemeine Bildung im Lande geschaffen und die unruhigen Leidenschaften im Volke gezähmt werden sollen, gewährt diese Stadt die eifrigste und aufopferndste Unterstützung. Das Mäßigkeitsgesetz wurde hier mit Strenge in’s Werk gesetzt. Es wird erzählt, daß Mäßigkeitseiferer statt des Weines im Abendmahle Wasser verlangten, weil sie sich nicht denken konnten, der Heiland habe im Ernste jenes Teufelsgetränk gemeint.

Die Agitation für die Mäßigkeits- oder Temperance–Gesetze hat in den letzten Jahren viel Redens gemacht und in amerikanischen Städten Aufruhr und blutige Straßenszenen veranlaßt. Weil sich darin der amerikanische Charakter scharf abspiegelt, will ich hier näher darauf eingehen. Ich schicke Erinnerungen von einer Reife voraus, die ich im Westen in einer Gegend machte, welche das Mäßigkeitsgesetz angenommen hatte.

Es war im Sommer und die scharfe trockene Hitze zum Verschmachten. Wenn ich aber die langen einsamen Waldwege geritten war und endlich zu einem Hause kam, konnte mein Pferd wohl Hafer, der Reiter aber nicht das Mindeste zur Labung bekommen, als laues Wasser. Kein Bier, kein Wein, geschweige denn Branntwein war zu bekommen. Nicht einmal kühler Aepfelwein wurde gereicht. Kaffee oder Thee wurde nur bei den täglichen drei Mahlzeiten gegeben; zu einer andern Stunde dergleichen zu verlangen, wäre gegen alle Sitte gewesen. In den Städten konnte man Limonade und Sodawasser haben, das platte Land aber lag vollständig unter dem Banne des Mäßigkeitsgesetzes, das Jedermann zur vollständigen Entbehrung eines kräftigen Getränks verurtheilte. Trat ich bei einem wohlhabenden deutschen Landsmanne ein und wurde näher mit ihm bekannt, so geschah es wohl, daß er aus dem tiefsten Keller verstohlen eine Flasche Wein hervorholte, welche im Hinterzimmer mit leisem Gläserklingen geleert wurde. Man mußte sich vor Angebern hüten, denn in Amerika hat auch der beste Mann leicht einen oder den andern Feind und Uebelgönner, und das Mäßigkeitsgesetz ist wie gemacht, Jemand einen Schabernack zu spielen und ihn in ärgerliche Dinge wegen der unschuldigsten Genüsse zu verwickeln.

Allein trotz der Strenge des Gesetzes, welches Wein oder Bier oder irgend ein möglicher Weise berauschendes Getränk feilzuhalten, zu verkaufen, zu verschenken oder einen Freund damit zu bewirthen verbietet, war der Anblick von Männern, welche des Abends nicht mehr auf den Beinen stehen konnten, gar nicht so selten. Selbst in den amerikanischen Familien, auch in den gebildeteren, traf man öfter nicht allein auf verdächtig glühende Nasen und stiere Augen, sondern auch auf bleiche verfallene Gesichter, in deren Stumpfsinn die Unmäßigkeit in berauschenden Getränken sich aufs deutlichste abprägte.

Ich merkte bald, daß das Mäßigkeitsgesetz seine guten, aber auch seine schlechten Wirkungen hervorbringe. Das war zuvörderst nicht zu verkennen, daß es die widerlichen Szenen in den Trinkstuben, wo sich sonst die Tagdiebe und Strolche sammelten, weggeräumt hatte. Des Branntweins war weniger im Lande und die Verführung zum Trinken seltener, man trank daher auch weniger. Eine gewisse nüchterne Ruhe herrschte in den Bezirken, wo das Mäßigkeitsgesetz galt, mehr als in andern. Die rohen Irländer, welche ohne Saufen nicht leben können, hatten sich aus dem Staube gemacht. In tausend andern Beziehungen aber war das Gesetz nichts als ein Popanz, der den Säufer nicht schreckte, und dem Jeder, der ein paar Cents mehr daran wenden wollte, überall eine Nase drehen konnte. Es gab Mittel genug, das verbotene Getränk einzuschmuggeln, und auch Verstecke genug, wo es für Geld zu erhalten war. Die meisten Krämer hatten ein Hinterpförtchen, hinter welchem das Feuerwasser um so rascher und aus um so größeren Bechern getrunken wurde. Auch die Apotheker schenkten den Hülfsbedürftigen das Feuerwasser gern zur Magenkur. Der müßte doch ein schlechter Amerikaner sein, der nicht Schleichwege fände, irgend ein Gesetz zu umgehen, sobald dabei Dollars zu verdienen sind. Das Gesetz hatte ferner den Erfolg, daß die Verfälschungen der Getränke raffinirter und häufiger wurden, daß die Angeberei und Heuchelei zunahm und die Achtung vor dem öffentlichen Gesetze geschwächt wurde. Endlich blieb es doch eine ärgerliche Tyrannei, daß man nirgendwo bei einem Glase Wein oder Bier sich laben, ja an seinem eigenen Tische auf Wasserkost angewiesen sein sollte, und das von Staatswegen. In dem ohnehin an Erholung und geistiger wie gemüthlicher Freude so armen Lande trug das Mäßigkeitsgesetz entschieden dazu bei, das Leben noch aschgrauer und unfreudiger zu machen.

Man denke sich nun diese Zustände über das ganze weite Gebiet der Vereinigten Staaten verbreitet, überall die Einfuhr der Erzeugung von Branntwein Bier und Wein anders als zu Arznei- und Gewerbszwecken verboten, überall scharfe Wachen, daß keiner sich an einem andern Getränk als Wasser Kaffee Thee Limonade und dergleichen erquicke, überall die Rebenpflanzungen ausgerottet, die Bierbrauereien geschlossen, – so hat man das Ideal der Temperanceleute. In den letzten Jahren gingen sie in der That mit raschen Schritten auf dies Ziel los.

Offenbar ist man nirgends so berechtigt, die Verpflichtung zur Mäßigkeit zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, als in Amerika. Denn was hier nicht gleich mit öffentlichen Mitteln und ins Große wirkt, das kommt über bloße Wünsche und kleine Anfänge nicht hinaus. Nothwendig, höchst nothwendig war wirklich ein Hemmschuh wider den Hang zur Unmäßigkeit im Trinken. Der Amerikaner hat vom stillen Durst mehr zu leiden als andere Menschen, mag dies nun an der trocknen, Haut und Kehle ausdörrenden Luft des Landes liegen, oder an der feurigen Hast, mit der in Amerika Geschäfte und Politik, Religion und Wissen betrieben werden. In den meisten Familien ist der Durst, – auch die Frauen trinken merkwürdig viel Madeira, – ein nationaler Erbfehler. Denn der größte Theil derjenigen, die sich jetzt ihres altenglischen Blutes so überlaut rühmen, stammen von irländischem Gesindel ab, dessen mit Alkohol geschwängertes Blut auch auf der Seereise nicht kühler wurde. Der Amerikaner der untern Klassen kennt außerdem in seinem einförmigen Haus- und Geschäftsleben so wenig andere feinere Genüsse Natur und Literatur sind für ihn so todt, daß ihm wenig andere Erholung übrig bleibt, als welche er aus Bechers Grunde schöpfen kann. Das Schlimmste aber ist, daß er kein Maaß halten kann. Er kennt kein behagliches erquickliches Trinken. In der Schenkstube stürzt er, gerade wie der gemeine Russe, stehenden Fußes gleich das ganze Glas hinunter, und geräth er über die Flasche selbst, so trinkt er sie auch aus. In Gründen dieser Art muß man die Erklärung suchen, daß in dem reichen Amerika, wo Wohlstand und Selbstachtung so verbreitet sind, die Trinksucht dennoch ein so entsetzliches Uebel ist. Bei uns sind die Säufer vorzugsweise unter dem ärmeren Volke, wo Elend und geistige Stumpfheit in der Schnapsflasche Trost und Glück suchen, in Amerika steigt der Säuferwahnsinn häufig genug bis in die angesehensten Familien hinauf. Blos an dieser Krankheit liegen in den Spitälern zwanzig Prozent ihrer Bevölkerung, und die Familien sind zahllos, welche durch Trinksucht zu Grunde gerichtet werden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III