Abschnitt 2

III.
Boston.


Auch durch Boston geht jene rasche amerikanische Strömung: daß sie dort aber minder lärmt und brauset, hat vornehmlich zwei Gründe. Diese sind das Uebergewicht der alten aristokratischen Familien, und die höhere und allgemeinere Bildung, deren sich die Stadt erfreut.


Boston hatte in der ältesten Zeit der Ansiedlungen vorzugsweise eine englische Bevölkerung, und unter diese mischten sich nicht so viele Abenteurer und Glücksjäger, als in den meisten übrigen Staaten ihr Wesen trieben. Nach dieser vornehmsten Stadt in den Kolonien zogen auch später diejenigen Familien, welche englische Gesittung und Lebensweise hochschätzten. Es hat sich deshalb ein solider englischer Grundton in der Bevölkerung von Boston festgesetzt. Die Familien halten ihre alten Andenken in Ehren und ihren Besitz haushälterisch zusammen. Trotz der entschiedenen Trennung von England haben sie für dasselbe eine warme verwandtschaftliche Zuneigung bewahrt. Englische Sitten werden nachgemacht wie ein Modell. Nichts kränkt die Bostoner mehr, als wenn der Stockengländer von ihnen als einer Art entlegener Provinzleute spricht. In nicht wenigen Häusern hängen die Bildnisse der Königin Viktoria und des Prinzen Albert auf Ehrenplätzen, und die Zeitungen berichten angelegentlich über das Befinden der englischen Königin. Dies „englische Gefühl“ reicht bis in die untern Klassen.

Man läßt es sich daher auch Nachdenken kosten, seine Abstammung von vornehmen englischen Familien abzuleiten. Mancher, der Howard, Spencer, Burlington heißt, spürt genau nach, ob er in seinen Gesichtszügen nicht eine Familienähnlichkeit mit jenen englischen Geschlechtern entdeckt, obgleich der nationale amerikanische Stempel bei Allen ganz unverkennbar ist, – die längliche keck hervortretende Stirn, lange knochige Wangen, dünne Nase, fleischlose Lippen schmal wie ein Schnitt, aber ein sinnlich derbes Kinn. Auf den Büsten berühmter Amerikaner, welche das Bostoner Athenäum schmücken, erblickt man überall denselben scharfen Gesichtsausdruck, das kühne Selbstvertrauen, die Verschlagenheit und eine gewisse trockene Schelmerei.

Der Einfluß der reichen und alten Familien macht sich auch äußerlich geltend. Das Volk auf Straßen und Plätzen bewegt sich mit Anstand und ächter Höflichkeit. Selten wird die Ruhe gestört durch Zusammenrottungen und Aufläufe, durch wildes Schreien und Fahren. Boston hat nicht nur die strengste Polizei, sondern auch am wenigsten Pöbel. Selbst der Handel ist hier hauptsächlich Großhandel, die unzählige Menge von Krämern und Hausirern, welche in den andern Städten sich eifrig nach Gewinn umthun, scheint in Boston nicht recht zu gedeihen. Die Volksherrschaft tritt besonnen und gemäßigt auf, sie äußert sich selten stürmisch, noch seltener gemein. Freilich sagen die Leute des Südens auch, die Bostoner hätten Fischblut in den Adern, und ehe sie einen Tag lustig wären, berechneten sie eine Woche lang die Kosten.

In der That kommt das Kühle und Nüchterne, welches das amerikanische Leben in allen tieferen und feineren Beziehungen kennzeichnet, zu Boston seinem Gefrierpunkt nahe. Man steckt sich weite Ziele und arbeitet gediegen und rüstig, aber man erwärmt sich nicht leicht für seine Ideale, dazu ist man viel zu verständig. Der vornehme Amerikaner sucht sich zwar gern in einen gelinden Enthusiasmus zu versetzen und spricht hochtönig über die höchsten Fragen; allein es geschieht hauptsächlich des Scheines willen, innerlich bleibt der Mann dürr wie ein trockner Ledersack. In Europa, selbst im gemüthvollen feinfühligen Deutschland, verklingen und verbleichen heutzutage jene alten Feste und wundervollen Sagen, welche aus dem innigen Zusammenleben des Volkes mit der Natur entsprangen, die Köpfe werden leichter und die Herzen kälter. Es stellt sich mit einem Worte mehr und mehr die trockene und reine amerikanische Atmosphäre ein, in welcher man an den Dingen dieser Welt blos das sieht, wozu sie nützlich zu verwenden sind. In Boston aber haben die Leute von jeher nur für das Nützliche und Zweckmäßige geschwärmt, bei ihnen entstand nie eine Volkssage, nie ein Volkslied, höchstens eine Hexengeschichte. Sie erwerben sich einen ganzen Haufen von Kenntnissen, weil sie für Amerika Ehre einlegen wollen. Sie machen ihre Stadt zur Werkstätte der Bildung, damit ihre Landsleute sich bei ihnen belehren.

In dieser gemeinsamen Arbeit sind sie alle einverstanden, ganz Boston scheint eine große litterarische Familie, jeder hat seine Anstellung in der großen Bildungsküche. Das bringt eine Gleichheit der Gedanken und Ansichten hervor, gegen welche selbst die Unterschiede des Ranges verschwinden. Die Bostoner suhlen sich, weil sie die edleren Schätze der Bildung besitzen, als die Vornehmen von Amerika; deshalb ist dort dem Gebildeten, wenn er auch nur ein schmales Einkommen hat, der Zutritt zur „besten Gesellschaft“ nicht verschlossen, und diese selbst gruppirt sich weniger eintönig, als in andern amerikanischen Städten. Es ist etwas von litterarischer Luft in den Bostoner Gesellschaftssälen, und mancher Halbwilde aus dem Süden und Westen kommt her, weil er hofft, schon von ihrem Einathmen gescheidt zu werden.

Neben dem Engländer findet in Boston der Deutsche am ersten Anknüpfungspunkte. Der Bostoner hält sich dem Deutschen nicht allein geistig ebenbürtig, sondern er trachtet auch ernstlich darnach, sich des gesammten geistigen Reichthums Deutschlands zu bemächtigen. Vielleicht ist die Bemerkung nicht unrichtig, daß man in Boston ebenso viel Geschick als Fleiß besitze, den Inhalt deutscher Bücher als amerikanische Geistesblüthe an den Mann zu bringen. Immerhin bleibt aber Neuengland, noch viel mehr als Belgien Dänemark und die französische Schweiz, ein Missionsland für deutsche Litteratur und Wissenschaft. Es haben vortreffliche deutsche Männer in Boston gelehrt und gewirkt, deren Andenken in Ehren ist. Auch jetzt haben sie ausgezeichnete Nachfolger gefunden.

Nur die deutsche Rechtswissenschaft hat in Neuengland nicht Fuß fassen können. Es wurde der Versuch gemacht, einer englischen Uebersetzung von Mackeldey’s ebenso oberflächlichem als leicht verständlichem Handbuche der Pandekten Eingang zu verschaffen: der Versuch schlug fehl, in ganz Amerika wurden nicht fünfzig Exemplare abgesetzt. In Boston wollte man am wenigsten davon wissen; die Hauptstadt von Massachusetts ist ja das rechte Nest jener schlaggewandten zungenfertigen Advokaten, welche mit wunderbarer Geschicklichkeit in dem grundlosen Meere des amerikanischen Rechtes fischen. Nur ganz allmählig dringt auch etwas deutsche Rechtswissenschaft in Amerika ein. Es geschieht das weniger durch die jährlich wachsende Anzahl von jungen Amerikanern, welche auf deutschen Universitäten studirten, als durch solche Rechtskundige aus Deutschland, welche in Amerika in der Advokatur, hin und wieder auch auf dem Lehrstuhl thätig sind. Diese sowie die freilich wenigen Deutschen in den gesetzgebenden Versammlungen haben einen vorzüglichen Antheil an dem Verdienste, daß eine Reform des verworrenen bürgerlichen Rechtes und seine Feststellung in Gesetzbüchern immer wieder angeregt und gefördert wird. Wie viele Deutsche sind in ähnlicher Richtung auch in südamerikanischen Staaten thätig! Gleichwie aller Orten englische Kaufleute Industrielle und Mechaniker, französische Haarkünstler und Gouvernanten zu finden, so fehlen nirgends neben den deutschen Kaufleuten Handwerkern Ackerbauern und Soldaten die deutschen Aerzte und Gelehrten. Diese streuen den Saamen deutscher Wissenschaft in allen Ländern der Erde aus, gerade so wie gegen Ende des Mittelalters die deutschen Buchdruckergesellen, durch die Noth aus ihren Heimathstätten vertrieben, in alle Welt sich zerstreuten und überall Werkstätten ihrer „schwarzen Kunst“ einrichteten.

In Boston wird auch mit besonderer Vorliebe Poesie getrieben. Freilich geschieht es hauptsächlich der Frauen und Tochter wegen: die Männer betrachten die Poesie gleich der Musik als nothwendigen Luxusartikel für die Damen. Wenn diese eines Tages aufhörten poetisch zu seufzen, so könnte man sämmtliche Gedichte, welche die Männer hier noch aus eigenem Antriebe lesen würden, in einem Korbe davon tragen. Sie lesen aus Pflichtgefühl von schöner Literatur was ihnen die Mode vorschreibt, und da sie fühlen, daß sie in solchen Dingen wenig eigenes Urtheil haben, so warten sie bei ihren Dichtern und Schriftstellern in der Regel so lange mit der heimischen Anerkennung; bis deren Bücher in London nachgedruckt werden. Die deutschen Dichter werden von den Bostoner Frauen sehr verehrt, Schiller und Jean Paul sind ihre Lieblingsdichter. Es ergreift sie das schwungvolle, stolztönende Wort des erstern, aber noch lieber vertiefen sie sich in die Irrgänge des Jean Paul’schen Humors, denn das Sentimentale ist bei ihnen stark in Mode. Jean Paul wie Friedrich Schlegel werden gegenwärtig vielleicht im Auslande mehr als in ihrer Heimath gelesen. Der reale Göthe, dessen Verständniß feinere klassische Bildung und kerngesunde Naturen voraussetzt, ist weniger beliebt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III