Abschnitt 1

III.
Boston.


Wenn ein Amerikaner von Boston hört, so schwebt ihm gleich etwas Würdiges und Vornehmes vor, eine hochragende Stadt, die nicht wie seine meisten andern Städte sich mit der niedrigen Ebene begnügt. Boston ist das Athen des Staatenbundes, die Sonne; von der nach des Amerikaners Meinung das geistige Licht so gewaltig ausstrahlt, daß im Vergleich damit ein europäischer Bildungsheerd nur ein schwaches Kaminfeuer hat. Die Hauptstadt Neuenglands ist aber auch eine geschichtliche Größe. Nicht nur hochgieblige Häuser stehen dort, deren Räume ihren Bewohnern ein jahrhundertaltes Familienandenken erneuern, sondern es ist in Boston auch die ehrwürdige Halle, in welcher die ersten kühnen Beschlüsse gefaßt wurden, aus denen die Unabhängigkeit ihren Ursprung nahm. Auf dem Bunkershill ragt der stolze Obelisk empor, das Schlachtdenkmal jenes Tages, an welchem die englischen Waffen zuerst sich vor der kriegerischen Kraft der verachteten Kolonisten senken mußten. Für Denkmäler aber aus dem Unabhängigkeitskriege hat der Amerikaner die kindliche Verehrung, mit welcher sich ein Sohn an seiner Eltern Leiden und Kämpfe erinnert, die ihn zu Wohlstand und Ehren gebracht haben.


Der Amerikaner ärgert sich zu Zeiten, daß die Bostoner als seine geborenen Lehrmeister auftreten; er sagt ihnen nach, seit es mit ihrer Handelsgröße vorbei, wären sie so Übermenschlich gelehrt geworden, daß sie ein Jahr vorher das Gras wachsen hörten, und höchst steife und langweilige Gesellen dazu, die ewig Psalmen sängen. Bei Allein dem behält jedoch der Amerikaner einen geheimen Stolz aus Boston. Der Europäer aber wird, je länger er dort und in andern amerikanischen Städten gelebt hat, um so gewisser Boston vorziehen. Denn er findet sich da wie auf heimischem Boden und kann doch auf ein ungefähres Verständniß des Lebens in der alten Welt rechnen, für welches den meisten Amerikanern sonst die Fühlfäden zu mangeln scheinen. Sie verwerfen mit Recht so viel schiefe europäische Urtheile über ihre heimischen Zustände, weil sie wohl einsehen, daß den Urhebern solcher Meinungen die Springfedern des amerikanischen Lebens verborgen blieben. Wenn aber ein Europäer der Unterhaltung von Amerikanern zuhört, welche eben von der andern Seite des großen Wassers zurückkamen, so wird er sich in neun Fällen unter zehn höchlich verwundern, wie es möglich ist, daß verständige Männer, welche Europa doch mit offenen Augen gesehen, in einem Athem einen solchen Haufen von Verkehrtheiten sagen. Die Amerikaner finden es anmaßlich, wenn jemand über ihre Verhältnisse mitsprechen will, der erst ein halbes Jahr bei ihnen gewesen ist, sie selbst aber halten eine Fliegereise von drei Monaten durch ganz Europa für hinlänglich, um jedes Volk dort abmalen zu können, wie es leibt und lebt. Das kleine Europa mit seinen vielen Staaten erscheint ihnen nur als ein Gegenbild zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Gleichwie die Chinesen, als sie das erste Dampfschiff sahen, kaltblütig erklärten, sie hätten solche Schiffe auch im verschlossenen Innern ihres Landes: so möchten manche Amerikaner ihren Gast glauben machen, sie hätten Alles, was Europa auszeichnet, mindestens eben so gut in ihrem eigenen Lande. Da sich dieses aber nicht chinesisch abschließen läßt, so übersieht man frühzeitig, was darin ist. Wenn man sie nun darauf aufmerksam macht, welch eine weite Leere das Gebiet der Vereinigten Staaten im Vergleich mit dem mannigfaltigen und gedrängten Inhalt von Europa bildet, so nehmen sie es beinahe übel, und denken im Stillen, wie bald Amerika Alles unter der Sonne überbieten werde. Sie schämen sich gleichsam für ihr Land, daß es nicht schon das herrlichste in jeder Weise umfaßt, gerade wie jungen hochstrebenden Leuten von stolzem und empfindlichem Gefühl nichts unangenehmer ist, als eine Erinnerung daran, daß sie noch lange nicht das sind, was ihren heißesten Wünschen vorschwebt. Von einem Fremden indessen nehmen die Amerikaner wohl noch ein Wort hin, welches einem unter ihnen Ansässigen die Thüren und die Herzen verschließen würde.

Wenn man von Neuyork nach Boston kommt, fällt zuerst das Durcheinander von engen und krummen Straßen auf, welche den untern Theil der Stadt einnehmen. Aus diesen finstern Gäßchen und knappen Durchgängen, aus diesen gedrängten hohen Waarenhäusern könnten Handelsherren in mittelalterlicher Tracht hervortreten, sie würden zur Umgebung passen. Höher hinauf kommt man in reinliche Straßen mit netten bürgerlichen Wohnungen; hier sieht es freundlich aus, es fehlen der Schmutz und das Gewühl amerikanischer Städte. Nirgends läßt sich eine lange Straße hinunter sehen, jede hat ihre Krümmungen. Die Straßen steigen immer mehr bergan: denn Boston überdeckt eine Halbinselhöhe, die fast ganz vom Meere umschlossen ist. Unten führen lange Brücken über die Meerarme, welche mit Schiffen oder Booten belebt sind, zu den jenseitigen Vorstädten. Die Stadt hat eine herrliche Lage, es weht immer etwas Seefrische durch ihre Straßen, ringsum glänzt der helle Wasserspiegel zwischen grünen Inseln Landzungen und Küstenstreifen, die mit Landsitzen und Ortschaften bedeckt sind. Der schönste Schmuck Bostons aber ist oben auf dem Scheitel der Anhöhe. Denn hier, – wer sollte das in einer amerikanischen Stadt vermuthen? – dehnt sich ein weiter grüner Platz mit schattigen Baumgängen Springbrunnen und Wasserbecken aus. Auf der einen Seite erhebt sich das höchst stattliche Rathhaus, auf der andern Seite mündet die immer belebte Hauptstraße ein, die Washingtonstraße, welche über den ganzen Rücken der Halbinsel bald sich hebend bald sich senkend hinläuft, eingefaßt mit glänzenden Schauläden.

Auf dieser Straße und in den reinlichen Parkgängen lustwandelt gegen Abend die schöne Welt von Boston. Hier erquickt man sich noch am Spazierengehen im frischen Grün und freier Luft, und läuft nicht, wie in den andern amerikanischen Städten, blos aus einem Laden in den andern. Aber welche reizende Fülle von lieblichen Gesichtchen, wie fein und geistig die Züge, wie zart und schwebend die ganze Gestalt! Ach, wenn nur die bösen Seewinde nicht wären. Die Schwindsucht, die schleichende Rächerin der Fieberhaft des amerikanischen Lebens, hat in Boston noch die scharfe Seeluft zur Verbündeten. Manch seelenvolles Auge schaut uns an, als flehe es um Mitleid, daß es so bald sich für immer schließen soll. Und doch wohnt ein kräftiger Geist in diesen zarten Gestalten. Noch oft mußte ich an eine Bostonerin zurückdenken; erzogen in Fülle und Feinheit, ein weiches, himmlisch reines Gemüth, folgte sie ohne das mindeste Bedenken dem Manne ihres Herzens zu den Mühen und zu der Oede, die sie in den weitentlegenen Wäldern des Westens erwarteten.

Im Reden und Benehmen der Bostoner merkt man eine wohlthuende Ruhe, eine stille Festigkeit des Charakters. Die Familie hat Anhänglichkeit an ihr Haus und an ihren Freundeskreis, der Mann sieht in der Beschäftigung, der er sich einmal gewidmet hat, seinen dauernden Beruf. Das ist um so auffälliger in Amerika, wo man gewohnt ist, sein Haus zu bauen, wie der Nomade sein Zelt, auf baldigen Wiederabbruch. Zwar ist in neuerer Zeit auch in Europa die Unruhe unter die Leute gefahren, selbst auf den pommerschen und westfälischen Ritter- und Bauerngütern sind viele unstät geworden, unsicher in ihren Vorsätzen wie im Vermögensstande. Wo giebt es noch jene behagliche Beschränkung auf kleiner wohnlicher Stätte mit der Aussicht, im Alter unter dem Schatten der Bäume zu ruhen, die man selbst gepflanzt hat? Das Glück solcher friedlichen Behaglichkeit mahnt uns beinahe schon wie eine Sage aus der alten Zeit. Uns jedoch ist diese Unruhe und Unwohnlichkeit wenigstens noch zuwider, wir haben eine geheime Angst vor dem Schicksal des ewigen Juden. Dem Amerikaner dagegen ist das unstäte Wesen zur andern Natur geworden: wenn er von einer Stadt zur andern sich übersiedelt, denkt er nicht mehr dabei, als ein junger Mann, der bald in dem einen bald in dem andern Gasthof zu Mittag ißt. Das Provisorische ist das Wahrzeichen Amerikas. Wer an feste, solide und geschmackvolle Einrichtung und an das Gemüthliche und Gehaltvolle in dauernden Freundes- und Familienkreisen gewohnt ist, wird schwer dort heimisch werden. Wenn bei uns eine neue Eisenbahn rasch dem Verkehr eröffnet werden soll, stehen zwischen Schutt und Neubauten statt der Bahnhöfe Holzschuppen und in diesen statt der Sessel Bretterbänke: ungefähr so sieht Amerika aus von einem Ende zum andern, kaum mit Ausnahme einiger vornehmeren Stadttheile. Dem Amerikaner ist das alles reine Nebensache, er ist es einmal nicht anders gewohnt: nur das große Landesgedeihen, das steht ihm immer vor den Augen. Vor dem Leichtsinn, mit welchem der Amerikaner ernste Verhältnisse eingeht, wird dem Einwanderer anfangs bangen. Er steht gleichsam eine Zeitlang zagend vor einer reißenden Strömung, bis ihn unversehens die Wirbel erfassen und er willenlos und zuletzt unbekümmert mit forttreibt auf den rollenden Wogen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III