Abschnitt 1

X.
Auf dem Michigan–, Huron– und Erie–See.


Auf den Seen hatten bereits, es war im Oktober, die winterlichen Stürme begonnen. Vergebens ging ich drei Tage lang in Chicago täglich nach dem Hafen, um nach Wind und Wetter zu sehen. Immer und immer stürmten die Wellen in hohen Sätzen ans Ufer, kein Dampfer traute sich auszulaufen. Es waren ein paar trübe Reisetage. Längere Besuche kann man in amerikanischen Weststädten nur am Abend machen, in den Gasthäusern ist man wie auf der Straße, und die Geschäftsstrenge liegt allen Leuten auf dem Gesichte. Ich wartete indessen auf besseren Wind, weil ich lieber die Seen befahren wollte, als den kürzeren Weg nach Neuyork auf der Eisenbahn einschlagen. Meine liebste Unterhaltung war, stundenlang auf der äußersten Spitze des Hafendamms zu sitzen, welcher gerade aus bis weit in den See hinein gebaut ist, um den Schiffen ruhiges Wasser für die Ein- und Ausfahrt zu gewinnen. Es war da alles wie am Meere. Das Gewässer breitete sich aus unabsehbar, die Wellen rollten und peitschten sich mit dem zierlichsten Ungestüm. Am Ende des Hafendammes stand ein Leuchtthurm, zur Seite streckte sich ödes sandiges Ufer, darauf lag im Sande halb vergraben ein zertrümmertes Boot, am Seerande ebbete Treibholz. In kurzen Pausen schwieg der Sturm, dann fielen die Wellen sogleich zusammen und der See leuchtete weitaus in grünblauem Glanze. Bald aber fuhren Sturm und Wolken wieder darüber her, die wogende Wasserfläche blieb dunkel überhangen, man sah wenig mehr als hin und wieder ein Segel daraus hervortreten und die zahllosen Möwen, welche um den Leuchtthurm flatterten und ihr trauriges Geschrei vermischten mit dem einförmigen Krachen und Seufzen der Wellen.


Auf dem Rückwege zur Stadt mußte ich jedesmal einen Blick auf das alte Fort werfen, welches an der Mündung des Flusses stand. Einst war es von mordsüchtigen Indianern umtobt, damals hieß es Fort Dearborn. Es bestand aus einigen großen Blockhäusern, welche jetzt anderweit benutzt wurden; in der Mitte erhob sich ein viereckiger starker Thurm, hin und wieder zeigten sich noch Stücke einer Wand von zugespitzten Planken, welche ehemals das Fort umgab. Das Ganze war weiß überkalkt, aus dem Thurme flaggte das sternbesäete Banner. In blutigem Andenken steht noch die Metzelei, in welcher die Indianer hier schwelgten, als ihnen die Engländer im letzten Kriege erbarmungslos die amerikanische Besatzung überantworteten. In diesem Kriege ließen die Engländer noch einmal ihre Wuth aus gegen die ebenso verhaßten als verachteten „Rebellen.“ Auch Buffalo brannten sie nieder.

Die Erbitterung über solche Thaten ist in der Brust der Amerikaner noch nicht schlafen gegangen; gleichwohl aber fühlen sie sich noch immer geistig abhängig von England, welches sie allein als ihr achtes Mutterland wollen gelten lassen. Sie thäten viel klüger, sich als das zu betrachten was sie sind, als ein Gemisch von allen europäischen Volksarten, welches viel von englischen Sitten und vorzugsweise englische Sprache hat. Aber das leidet wieder ihre Eitelkeit nicht. Die Engländer sind das mächtigste Volk der Welt, von ihm allein wollen sie abstammen; da sie es aber zugleich übertreffen wollen und England ihnen in sehr bedeutenden Dingen überlegen bleibt, so sitzen sie auf einem Schmerzenspfahl, von dem sie nicht loskönnen. Tausend Haken sitzen noch in ihren Vorstellungen und Gewohnheiten fest, welche sie an den brittischen Triumphwagen ketten. Einen guten Theil ihrer täglichen Gedanken schneidet ihnen England vor. Der neuere Aufschwung der Vereinigten Staaten, verbunden mit einer wachsenden und theilweise gebildeten Einwanderung aus Deutschland, schwächt mehr und mehr dies Abhängigkeitsgefühl und wirkt dahin, auch etwas von der Masse des Volkes zu jener geistigen Höhe und nationalen Selbstständigkeit zu erheben, auf welcher wahrhaft gebildete Amerikaner schon längst stehen, und auf der sie sich als die freiesten Männer auf der Erde fühlen, in geistiger Beziehung als Weltbürger, in nationaler Beziehung als die mächtigen Herren eines Landes von ungeheuren Reichthümern und Hoffnungen.

Welche unermeßliche Zukunft, welche noch kaum geahnte große Entwicklung Amerika in sich trägt, das wird man am besten in diesem Westen gewahr, der, wenn gleich noch verhüllt, doch zweifellos seiner Unabhängigkeit vom Osten entgegengeht. Die Stadt Chicago war vor zwanzig Jahren ein Nichts, jetzt zählt sie bald hunderttausend Einwohner. Diese kühne Stadt, welche sich eben erst aus ihren nassen Niederungen erhoben hat und noch mit den Sumpffiebern im Kampfe liegt, streckt schon nach allen Seiten ihre langen Eisenbahnarme aus, ja bis nach Californien, hofft sie, soll von ihr aus die Eisenbahn gelegt werden. Chicago und San Francisco sind jetzt in die Stelle eingetreten, welche früher Cincinnati und St. Louis einnahmen; es strömen Alle hin, die mit viel Kredit und Muth und mit wenig Geld große Geschäfte machen wollen. Die Stadt erhielt durch den Fluß eine schöne Einfahrt vom See, ist der einzige Ausfluß für die Lasten von Erzeugnissen, welche aus der obern Hälfte des Staates Illinois herkommen, und der einzige Stapelplatz für die Waaren, welche sich von hier ab ins Land bis zum Mississippi zu vertheilen wünschen. Auf der Hauptstraße, der Lake Street, war ein unaufhörliches Getümmel von Händlern. Hin und wieder sah man auch eine von den grazienhaften Schönheiten des Ostens hindurchschreiten, jedoch runder und vollbusiger als im Osten, wo die austrocknenden Seewinde pfeifen. Chicago im Regen war aber eine Kothlache; die meisten Straßen kannten noch kein Pflaster. Da des widrigen Windes wegen keine Schiffe auslaufen konnten, stündlich aber befrachtete Schooner und Dampfboote hereinfuhren, so war der Hafen bald mit Masten und Dampfschloten besetzt. Weht dagegen der Wind vom Lande, so müssen die Segelschiffe oft tagelang vor den Häfen kreuzen, ehe sie einzulaufen wagen. Sobald daher Chicago „eine steigende Stadt wurde,“ war das erste, was man in’s Werk setzte, eine Eisenbahn nach Neuyork, auf welcher man sich um widrige Wellen nicht zu kümmern braucht.

Endlich setzte sich der Wind um, und „der Illinois“ fuhr in den Michigan–See hinaus. Die Dampfboote für die Seen sind beträchtlich größer, auch fester gebaut als die auf den Flüssen. Der Illinois enthielt drei Kajüten übereinander, und in der obersten noch ein Schenk- und Barbierzimmer. Das Wetter hatte sich völlig geändert, die Sonne lag warm auf dem Wasser, die Wellung war sanft und kosend, der See prachtvoll grünblau mit frischer tiefer Farbe. Auf Ansichten herrlicher Gestade muß man auf diesen großen Seen freilich verzichten. Das Wisconsin–Ufer zeigte sich meist nur als ein ferner dunkler Streifen; auch wenn wir näher kamen, erhob es sich meist nur wenige Fuß über dem Wasser. An einigen Stellen mag es bis fünfzig Fuß hoch steigen, aber immer geht seine sandige Abdachung bis weit in den See hinein. All den kleinen Städten konnten wir uns nur nähern, indem wir an den Spitzen der Hafendämme anlegten, welche sie eine ziemliche Strecke in Wasser haben bauen müssen. Diese Städte waren vor wenigen Jahren noch gar nicht zu sehen, jetzt haben sie mehrere tausend Einwohner, und wenn ihnen die Sumpfluft nicht so vielen Schaden thäte, würden sie noch schneller emporwachsen.

Die freundliche Stadt Milwaukee verdient die Vorliebe der Deutschen. Vor zwanzig Jahren stand dort blos die Blockhütte eines einsamen Jägers. Jetzt breitet sich die Stadt aus an beiden Ufern eines kleinen Flusses und zieht sich eine Uferhöhe hinauf, welche auf der andern Seite steil gegen den See abfällt. So jung die Stadt ist, herrscht doch schon in manchen Straßen und Häusern ein recht großstädtischer Luxus. Zu den prächtigsten Gebäuden gehören auch hier der Dom und der bischöfliche Palast der Katholiken. Eine solche Stadt im Westen besteht fast nur aus Kindern und jungen Ehepaaren, man sieht so wenig Alte als unverheirathete Mädchen. Im obern Stadttheile wohnen die Reichen und diese sind vorzugsweise geborne Amerikaner; in der untern Stadt, wo noch Reste der ehemaligen Sümpfe alljährlich die schwere Fieberluft verbreiten, hat sich die Hauptmasse der deutschen Einwanderer angesiedelt. Von den jetzt bald fünfzigtausend Bewohnern der Stadt sind reichlich ein Drittel Deutsche, und unter ihnen nicht wenige, welche zur höheren Gesellschaft zählen. In Milwaukee ist, soweit das in amerikanischen Städten überhaupt möglich, noch am meisten ein gemüthlicher Ton herrschend. Die deutsche Art und Weise hat hier wohlthätig auf die Amerikaner eingewirkt, sie haben es über sich gewonnen, ihr angebornes frostiges Wesen rosig anlächeln zu lassen. Unsere Musik, welche in Milwaukee durch entschiedene Talente vertreten wird, gab den Anlaß zu einer heitern Geselligkeit, in welcher sich Deutsche und Eingeborne begegneten. Erbittert aber find die letztern über die vollständige Unkirchlichkeit, welche so viele gebildete Deutsche an den Tag legen; die Amerikanerinnen würden einigen deutschen Frauen noch verzeihen, daß sie hier kurzröckig und kurzhaarig umherspaziren, nicht aber, daß sie so freigeistig sprechen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Land und Leute in der alten und neuen Welt, Band III