Die Biographik: Fortschritt der Italiener gegenüber dem Mittelalter — Toskanische Biographen — Andere Gegenden Italiens — Die Selbstbiographie; Aeneas Sylvius — Benvenuto Cellini — Girolamo Cardano — Luigi Cornaro
Außerhalb des Gebietes der Poesie haben die Italiener zuerst von allen Europäern den historischen Menschen nach seinen äußeren und inneren Zügen und Eigenschaften genau zu schildern eine durchgehende Neigung und Begabung gehabt.
Allerdings zeigt schon das frühere Mittelalter bemerkenswerte Versuche dieser Art, und die Legende musste als eine stehende Aufgabe der Biographie das Interesse und das Geschick für individuelle Schilderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade aufrecht halten. In den Kloster- und Domstiftsannalen werden manche Hierarchen, wie z. B. Meinwerk von Paderborn, Godehard von Hildesheim usw. recht anschaulich beschrieben, und von mehreren unserer deutschen Kaiser gibt es Schilderungen, nach antiken Mustern, zumal Sueton, verfasst, welche die kostbarsten Züge enthalten; ja diese und ähnliche profane „vitse“ bilden allmählich eine fortlaufende Parallele zu den Heiligengeschichten. Doch wird man weder Einhard noch Wippo noch Radevicus nennen dürfen neben Joinvilles Schilderung des heiligen Ludwig, welche als das erste vollkommene Geistesbildnis eines neu-europäischen Menschen allerdings sehr vereinzelt dasteht. Charaktere wie St. Ludwig sind überhaupt selten, und dazu gesellt sich noch das seltene Glück, dass ein völlig naiver Schilderer aus allen einzelnen Taten und Ereignissen eines Lebens die Gesinnung heraus erkennt und sprechend darstellt. Aus welch kümmerlichen Quellen muss man das innere Wesen eines Friedrich IL, eines Philipp des Schönen zusammen erraten. Vieles, was sich dann bis zu Ende des Mittelalters als Biographie gibt, ist eigentlich nur Zeitgeschichte und ohne Sinn für das Individuelle des zu preisenden Menschen geschrieben.
Bei den Italienern wird nun das Aufsuchen der charakteristischen Züge bedeutender Menschen eine herrschende Tendenz, und dies ist es, was sie von den übrigen Abendländern unterscheidet, bei welchen dergleichen mehr nur zufällig und in außerordentlichen Fällen vorkommt. Diesen entwickelten Sinn für das Individuelle kann überhaupt nur derjenige haben, welcher selbst aus der Rasse herausgetreten und zum Individuum geworden ist.
Im Zusammenhang mit dem weitherrschenden Begriff des Ruhmes entsteht eine sammelnde und vergleichende Biographik, welche nicht mehr nötig hat, sich an Dynastien und geistliche Reihenfolgen zu halten wie Anastasius, Agnellus und ihre Nachfolger, oder wie die Dogenbiographen von Venedig. Sie darf vielmehr den Menschen schildern, wenn und weil er bedeutend ist. Als Vorbilder wirken hierauf außer Sueton auch Nepos, die viri illustres und Plutarch ein, soweit er bekannt und übersetzt war; für literaturgeschichtliche Aufzeichnungen scheinen die Lebensbeschreibungen der Grammatiker, Rhetoren und Dichter, welche wir als Beilagen zu Sueton kennen, wesentlich als Vorbilder gedient zu haben, auch das viel gelesene Leben Virgils von Donatus. Wie nun biographische Sammlungen, Leben berühmter Männer, berühmter Frauen, mit dem XIV. Jahrhundert aufkamen, wurde schon oben erwähnt. Soweit sie nicht Zeitgenossen schildern, hängen sie natürlich von den früheren Darstellern ab; die erste bedeutende freie Leistung ist wohl das Leben Dantes von Boccaccio. Leicht und schwungvoll hingeschrieben und reich an Willkürlichkeiten, gibt diese Arbeit doch das lebhafte Gefühl von dem Außerordentlichen in Dantes Wesen. Dann folgen, zu Ende des XIV. Jahrhunderts, die „vite“ ausgezeichneter Florentiner, von Filippo Villani. Es sind Leute jedes Faches: Dichter, Juristen, Ärzte, Philologen, Künstler, Staatsund Kriegsmänner, darunter noch lebende. Florenz wird hier behandelt wie eine begabte Familie, wo man die Sprösslinge notiert, in welchen der Geist des Hauses besonders kräftig ausgesprochen ist. Die Charakteristiken sind nur kurz, aber mit einem wahren Talent für das Bezeichnende gegeben und noch besonders merkwürdig durch das Zusammenfassen der äußeren Physiognomie mit der inneren. Fortan haben die Toskaner nie aufgehört, die Menschenschilderung als eine Sache ihrer speziellen Befähigung zu betrachten, und von ihnen haben wir die wichtigsten Charakteristiken der Italiener des XV. und XVI. Jahrhunderts überhaupt. Giovanni Cavalcanti (in den Beilagen zu seiner florentinischen Geschichte, vor 1450) sammelte Beispiele bürgerlicher Trefflichkeit und Aufopferung, politischen Verstandes, sowie auch kriegerischer Tüchtigkeit, von lauter Florentinern. Papst Pius II. gibt in seinen Kommentarien wertvolle Lebensbilder von berühmten Zeitgenossen; neuerlich ist auch eine besondere Schrift seiner früheren Zeit wieder abgedruckt worden, welche gleichsam die Vorarbeiten zu jenen Porträts, aber mit eigentümlichen Zügen und Farben enthält. Dem Jacob von Volterra verdanken wir pikante Porträts der römischen Kurie nach Pius. Von Vespasiano Fiorentino war schon oft die Rede und als Quelle im ganzen gehört er zum wichtigsten, was wir besitzen, aber seine Gabe des Charakterisierens kommt noch nicht in Betracht neben derjenigen eines Macchiavelli, Niccolò Valori, Guicciardini, Varchi, Francesco Vettori u. a., von welchen die europäische Geschichtschreibung vielleicht so nachdrücklich als von den Alten auf diesen Weg gewiesen wurde. Man darf nämlich nicht vergessen, dass mehrere dieser Autoren in lateinischen Übersetzungen frühe ihren Weg nach dem Norden fanden. Und ebenso gäbe es ohne Giorgio Vasari von Arezzo und sein unvergleichlich wichtiges Werk noch keine Kunstgeschichte des Nordens und des neueren Europas überhaupt.
Von den Oberitalienern des XV. Jahrhunderts soll Bartolommeo Fazio (von Spezia) höhere Bedeutung haben. Piatina, aus dem Cremonesischen gebürtig, repräsentiert in seinem „Leben Pauls II.“ bereits die biographische Karikatur. Vorzüglich wichtig aber ist die von Piercandido Decembrio verfasste Schilderung des letzten Visconti, eine große erweiterte Nachahmung des Sueton. Sismondi bedauert, dass so viele Mühe an einen solchen Gegenstand gewandt worden, allein für einen größeren Mann hätte vielleicht der Autor nicht ausgereicht, während er völlig genügt, um den gemischten Charakter des Filippo Maria und an und in demselben mit wunderwürdiger Genauigkeit die Voraussetzungen, Formen und Folgerungen einer bestimmten Art von Tyrannis darzustellen. Das Bild des XV. Jahrhunderts wäre unvollständig ohne diese in ihrer Art einzige Biographie, welche bis in die feinsten Miniaturpünktchen hinein charakteristisch ist. — Späterhin besitzt Mailand an dem Geschichtschreiber Corio einen bedeutenden Bildnismaler; dann folgt der Comaske Paolo Giovio, dessen größere Biographien und kleinere Elogien weltberühmt und für Nachfolger aller Länder ein Vorbild geworden sind. Es ist leicht, an hundert Stellen Giovios Flüchtigkeit und auch seine Unredlichkeit nachzuweisen und eine ernste höhere Absicht liegt ohnehin nie in einem Menschen wie er war. Allein der Atem des Jahrhunderts weht durch seine Blätter, und sein Leo, sein Alfonso, sein Pompeo Colonna leben und bewegen sich vor uns mit völliger Wahrheit und Notwendigkeit, wenngleich ihr tiefstes Wesen uns hier nicht kund wird.
Unter den Neapolitanern nimmt Tristan Caracciolo, soweit wir urteilen können, ohne Frage die erste Stelle ein, obwohl seine Absicht nicht einmal eine streng biographische ist. Wundersam verflechten sich in den Gestalten, die er uns vorführt, Schuld und Schicksal, ja man könnte ihn wohl einen unbewussten Tragiker nennen. Die wahre Tragödie, welche damals auf der Szene keine Stätte fand, schritt mächtig einher durch die Paläste, Straßen und Plätze. — Die „Worte und Taten Alfons des Großen“, von Antonio Panormita bei Lebzeiten des Königs geschrieben, sind merkwürdig als eine der frühesten derartigen Sammlungen von Anekdoten und weisen wie scherzhafte Reden.
Langsam nur folgte das übrige Europa den italienischen Leistungen in der geistigen Charakteristik, obschon die großen politischen und religiösen Bewegungen so manche Bande gesprengt, so viele Tausende zum Geistesleben geweckt hatten. Über die wichtigsten Persönlichkeiten der damaligen europäischen Welt sind wiederum im ganzen unsere besten Gewährsmänner Italiener, sowohl Literaten als Diplomaten. Wie rasch und unwidersprochen haben in neuester Zeit die venezianischen Gesandtschaftsberichte des XVI. und XVII. Jahrhunderts in betreff der Personalschilderungen die erste Stelle errungen.
Auch die Selbstbiographie nimmt bei den Italienern hie und da einen kräftigen Flug in die Tiefe und Weite und schildert neben dem buntesten Außenleben ergreifend das eigene Innere, während sie bei anderen Nationen, auch bei den Deutschen der Reformationszeit, sich an die merkwürdigen äußeren Schicksale hält und den Geist mehr nur aus der Darstellungsweise erraten lässt. Es ist, als ob Dantes vita nuova mit ihrer unerbittlichen Wahrheit der Nation die Wege gewiesen hätte.
Den Anfang dazu machen die Hausund Familiengeschichten aus dem XIV. und XV. Jahrhundert, welche noch in ziemlicher Anzahl namentlich in den florentinischen Bibliotheken handschriftlich vorhanden sein sollen; naive, im Interesse des Hauses und des Schreibenden abgefaßte Lebensläufe, wie z. B. der des Buonaccorso Pitti.
Eine tiefere Selbstkritik ist auch nicht gerade in den Kommentarien Pius’ II. zu suchen; was man hier von ihm als Menschen erfährt, beschränkt sich sogar dem ersten Anschein nach darauf, dass er meldet, wie er seine Karriere machte. Allein bei weiterem Nachdenken wird man dieses merkwürdige Buch anders beurteilen. Es gibt Menschen, die wesentlich Spiegel dessen sind, was sie umgibt; man tut ihnen Unrecht, wenn man sich beharrlich nach ihrer Überzeugung, nach ihren inneren Kämpfen und tieferen Lebensresultaten erkundigt. So ging Aeneas Sylvius völlig auf in den Dingen, ohne sich um irgend einen sittlichen Zwiespalt sonderlich zu grämen; nach dieser Seite deckte ihn seine gutkatholische Orthodoxie, soweit als nötig war. Und nachdem er in allen geistigen Fragen, die sein Jahrhundert beschäftigten, mitgelebt und mehr als einen Zweig derselben wesentlich gefördert hatte, behielt er doch am Ende seiner Laufbahn noch Temperament genug übrig, um den Kreuzzug gegen die Türken zu betreiben und am Gram ob dessen Vereitelung zu sterben.
Auch die Selbstbiographie des Benvenuto Cellini geht nicht gerade auf Beobachtungen über das eigene Innere aus. Gleichwohl schildert sie den ganzen Menschen, zum Teil wider Willen, mit einer hinreißenden Wahrheit und Fülle. Es ist wahrlich kein Kleines, dass Benvenuto, dessen bedeutendste Arbeiten bloßer Entwurf geblieben und untergegangen sind, und der uns als Künstler nur im kleinen dekorativen Fach vollendet erscheint, sonst aber, wenn man bloß nach seinen erhaltenen Werken urteilt, neben so vielen größeren Zeitgenossen zurückstehen muss, — dass Benvenuto als Mensch die Menschen beschäftigen wird bis ans Ende der Tage. Es schadet ihm nicht, dass der Leser häufig ahnt, er möchte gelogen oder geprahlt haben; denn der Eindruck der gewaltig energischen, völlig durchgebildeten Natur überwiegt. Neben ihm erscheinen z. B. unsere nordischen Selbstbiographen, so viel höher ihre Tendenz und ihr sittliches Wesen bisweilen zu achten sein mag, doch als unvollständige Naturen. Er ist ein Mensch, der alles kann, alles wagt und sein Maß in sich selber trägt. Ob wir es gerne hören oder nicht, es lebt in dieser Gestalt ein ganz kenntliches Urbild des modernen Menschen.
Und noch ein anderer ist hier zu nennen, der es ebenfalls mit der Wahrheit nicht immer soll genau genommen haben: Girolamo Cardano von Mailand (geb. 1500). Sein Büchlein „De propria vita“ wird selbst sein großes Andenken in der Geschichte der Naturforschung und der Philosophie überleben und übertönen wie die vita Benvenutos dessen Werke, obwohl der Wert der Schrift wesentlich ein anderer ist. Cardano fühlt sich als Arzt selber den Puls und schildert seine physische, intellektuelle und sittliche Persönlichkeit samt den Bedingungen, unter welchen sich dieselbe entwickelt hatte, und zwar aufrichtig und objektiv, soweit ihm dies möglich war. Sein zugestandenes Vorbild, Marc Aurels Schrift auf sich selbst, konnte er in dieser Beziehung deshalb überbieten, weil ihn kein stoisches Tugendgebot genierte. Er begehrt weder sich noch die Welt zu schonen; beginnt doch sein Lebenslauf damit, dass seiner Mutter die versuchte Abtreibung der Leibesfrucht nicht gelang. Es ist schon viel, dass er den Gestirnen, die in seiner Geburtsstunde gewaltet, nur seine Schicksale und seine intellektuellen Eigenschaften auf die Rechnung schreibt und nicht auch die sittlichen; übrigens gesteht er (Kap. 10) offen ein, dass ihm der astrologisch erworbene Wahn, er werde das vierzigste und höchstens das fünfundvierzigste Jahr nicht überleben, in seiner Jugend viel geschadet habe. Doch ist es uns hier nicht erlaubt, ein so stark verbreitetes, in jeder Bibliothek vorhandenes Buch zu exzerpieren. Wer es liest, wird in die Dienstbarkeit jenes Mannes kommen, bis er damit zu Ende ist. Cardano bekennt allerdings, dass er ein falscher Spieler, rachsüchtig, gegen jede Reue verhärtet, absichtlich verletzend im Reden gewesen; — er bekennt es freilich ohne Frechheit wie ohne fromme Zerknirschung, ja ohne damit interessant werden zu wollen, vielmehr mit dem einfachen, objektiven Wahrheitssinn eines Naturforschers. Und was das Anstößigste ist, der 76jährige Mann findet sich nach den schauerlichsten Erlebnissen, bei einem sehr erschütterten Zutrauen zu den Menschen, gleichwohl leidlich glücklich: noch lebt ihm ja ein Enkel, noch besitzt er sein ungeheures Wissen, den Ruhm wegen seiner Werke, ein hübsches Vermögen, Rang und Ansehen, mächtige Freunde, Kunde von Geheimnissen, und was das Beste ist: den Glauben an Gott. Nachträglich zählt er die Zähne in seinem Munde; es sind ihrer noch fünfzehn.
Doch als Cardano schrieb, sorgten auch in Italien Inquisitoren und Spanier bereits dafür, dass solche Menschen entweder sich nicht mehr ausbilden konnten oder auf irgend eine Weise umkamen. Es ist ein großer Sprung von da bis auf die Memoiren des Alfieri.
Es wäre indes ungerecht, diese Zusammenstellung von Selbstbiographen zu schließen, ohne einen sowohl achtbaren als glücklichen Menschen zu Worte kommen zu lassen. Es ist dies der bekannte Lebensphilosoph Luigi Cornaro, dessen Wohnung in Padua schon als Bauwerk klassisch und zugleich eine Heimat aller Musen war. In seinem berühmten Traktat „Vom mäßigen Leben“ schildert er zunächst die strenge Diät, durch welche es ihm gelungen, nach früherer Kränklichkeit ein gesundes und hohes Alter, damals von 83 Jahren zu erreichen; dann antwortet er denjenigen, welche das Alter über 65 Jahren hinaus überhaupt als einen lebendigen Tod verschmähen; er beweist ihnen, dass sein Leben ein höchst lebendiges und kein totes sei. „Sie mögen kommen, sehen und sich wundern über mein Wohlbefinden, wie ich ohne Hilfe zu Pferde steige, Treppen und Hügel hinauflaufe, wie ich lustig, amüsant und zufrieden bin, wie frei von Gemütssorgen und widerwärtigen Gedanken. Freude und Friede verlassen mich nicht . . . Mein Umgang sind weise, gelehrte, ausgezeichnete Leute von Stande, und wenn diese nicht bei mir sind, lese und schreibe ich, und suche damit wie auf jede andere Weise anderen nützlich zu sein nach Kräften. Von diesen Dingen tue ich jedes zu seiner Zeit, bequem, in meiner schönen Behausung, welche in der besten Gegend Paduas gelegen und mit allen Mitteln der Baukunst auf Sommer und Winter eingerichtet, auch mit Gärten am fließenden Wasser versehen ist. Im Frühling und Herbst gehe ich für einige Tage auf meinen Hügel in der schönsten Lage der Euganeen, mit Brunnen, Gärten und bequemer und zierlicher Wohnung; da mache ich auch wohl eine leichte und vergnügliche Jagd mit, wie sie für mein Alter paßt. Einige Zeit bringe ich dann in meiner schönen Villa in der Ebene zu; dort laufen alle Wege auf einen Platz zusammen, dessen Mitte eine artige Kirche einnimmt; ein mächtiger Arm der Brenta strömt mitten durch die Anlagen, lauter fruchtbare, wohl angebaute Felder, alles jetzt stark bewohnt, wo früher nur Sumpf und schlechte Luft und eher ein Wohnsitz für Schlangen als für Menschen war. Ich war’s, der die Gewässer ableitete; da wurde die Luft gut und die Leute siedelten sich an und vermehrten sich, und der Ort wurde so ausgebaut wie man ihn jetzt sieht, so dass ich in Wahrheit sagen kann: an dieser Stätte gab ich Gott einen Altar und einen Tempel und Seelen, um ihn anzubeten. Dies ist mein Trost und mein Glück so oft ich hinkomme. Im Frühling und Herbst besuche ich auch die nahen Städte und sehe und spreche meine Freunde und mache durch sie die Bekanntschaft anderer ausgezeichneter Leute, Architekten, Maler, Bildhauer, Musiker und Landökonomen. Ich betrachte, was sie neues geschaffen haben, betrachte das schon Bekannte wieder und lerne immer vieles, was mir dient, in und an Palästen, Gärten, Altertümern, Stadtanlagen, Kirchen und Festungswerken. Vor allem aber entzückt mich auf der Reise die Schönheit der Gegenden und der Ortschaften, wie sie bald in der Ebene, bald auf Hügeln, an Flüssen und Bächen mit ihren Landhäusern und Gärten ringsum daliegen. Und diese meine Genüsse werden mir nicht geschmälert durch Abnahme des Auges oder des Ohres; alle meine Sinne sind Gott sei Dank in vollkommen gutem Zustande, auch der Geschmack, indem mir jetzt das Wenige und Einfache, was ich zu mir nehme, besser schmeckt, als einst die Leckerbissen zur Zeit da ich unordentlich lebte.“
Nachdem er hierauf die von ihm für die Republik betriebenen Entsumpfungsarbeiten und die von ihm beharrlich vorgeschlagenen Projekte zur Erhaltung der Lagunen erwähnt hat, schließt er: „Dies sind die wahren Erholungen eines durch Gottes Hilfe gesunden Alters, das von jenen geistigen und körperlichen Leiden frei ist, welchen so manche jüngere Leute und so manche hinsiechende Greise unterliegen. Und wenn es erlaubt ist, zum Großen das Geringe, zum Ernst den Scherz hinzuzufügen, so ist auch das eine Frucht meines mäßigen Lebens, dass ich in diesem meinem 83. Altersjahre noch eine sehr ergötzliche Komödie voll ehrbarer Spaßhaftigkeit geschrieben habe. Dergleichen ist sonst Sache der Jugend, wie die Tragödie Sache des Alters; wenn man es nun jenem berühmten Griechen zum Ruhm anrechnet, dass er noch im 73. Jähre eine Tragödie gedichtet, muss ich nicht mit zehn Jahren darüber gesunder und heiterer sein als jener damals war? — Und damit der Fülle meines Alters kein Trost fehle, sehe ich eine Art leiblicher Unsterblichkeit in Gestalt meiner Nachkommenschaft vor Augen. Wenn ich nach Hause komme, habe ich nicht einen oder zwei, sondern elf Enkel vor mir, zwischen zwei und achtzehn Jahren, alle von einem Vater und einer Mutter, alle kerngesund und (soviel bis jetzt zu sehen ist) mit Talent und Neigung für Bildung und gute Sitten begabt. Einen von den kleineren habe ich immer als meinen Possenmacher (buffoncello) bei mir, wie denn die Kinder vom dritten bis zum fünften Jahre geborene Buf fönen sind ; die größeren behandle ich schon als meine Gesellschaft, und freue mich auch, da sie herrliche Stimmen haben, sie singen und auf verschiedenen Instrumenten spielen zu hören; ja ich selbst singe auch und habe jetzt eine bessere, hellere, tönendere Stimme als je. Das sind die Freuden meines Alters. Mein Leben ist also ein lebendiges und kein totes, und ich möchte mein Alter nicht tauschen gegen die Jugend eines solchen, der den Leidenschaften verfallen ist.“
In der „Ermahnung“, welche Cornaro viel später, in seinem 95. Jahre beifügte, rechnet er zu seinem Glück unter anderem auch, dass sein „Traktat“ viele Proselyten gewonnen habe. Er starb zu Padua 1565, mehr als hundertjährig.
Allerdings zeigt schon das frühere Mittelalter bemerkenswerte Versuche dieser Art, und die Legende musste als eine stehende Aufgabe der Biographie das Interesse und das Geschick für individuelle Schilderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade aufrecht halten. In den Kloster- und Domstiftsannalen werden manche Hierarchen, wie z. B. Meinwerk von Paderborn, Godehard von Hildesheim usw. recht anschaulich beschrieben, und von mehreren unserer deutschen Kaiser gibt es Schilderungen, nach antiken Mustern, zumal Sueton, verfasst, welche die kostbarsten Züge enthalten; ja diese und ähnliche profane „vitse“ bilden allmählich eine fortlaufende Parallele zu den Heiligengeschichten. Doch wird man weder Einhard noch Wippo noch Radevicus nennen dürfen neben Joinvilles Schilderung des heiligen Ludwig, welche als das erste vollkommene Geistesbildnis eines neu-europäischen Menschen allerdings sehr vereinzelt dasteht. Charaktere wie St. Ludwig sind überhaupt selten, und dazu gesellt sich noch das seltene Glück, dass ein völlig naiver Schilderer aus allen einzelnen Taten und Ereignissen eines Lebens die Gesinnung heraus erkennt und sprechend darstellt. Aus welch kümmerlichen Quellen muss man das innere Wesen eines Friedrich IL, eines Philipp des Schönen zusammen erraten. Vieles, was sich dann bis zu Ende des Mittelalters als Biographie gibt, ist eigentlich nur Zeitgeschichte und ohne Sinn für das Individuelle des zu preisenden Menschen geschrieben.
Bei den Italienern wird nun das Aufsuchen der charakteristischen Züge bedeutender Menschen eine herrschende Tendenz, und dies ist es, was sie von den übrigen Abendländern unterscheidet, bei welchen dergleichen mehr nur zufällig und in außerordentlichen Fällen vorkommt. Diesen entwickelten Sinn für das Individuelle kann überhaupt nur derjenige haben, welcher selbst aus der Rasse herausgetreten und zum Individuum geworden ist.
Im Zusammenhang mit dem weitherrschenden Begriff des Ruhmes entsteht eine sammelnde und vergleichende Biographik, welche nicht mehr nötig hat, sich an Dynastien und geistliche Reihenfolgen zu halten wie Anastasius, Agnellus und ihre Nachfolger, oder wie die Dogenbiographen von Venedig. Sie darf vielmehr den Menschen schildern, wenn und weil er bedeutend ist. Als Vorbilder wirken hierauf außer Sueton auch Nepos, die viri illustres und Plutarch ein, soweit er bekannt und übersetzt war; für literaturgeschichtliche Aufzeichnungen scheinen die Lebensbeschreibungen der Grammatiker, Rhetoren und Dichter, welche wir als Beilagen zu Sueton kennen, wesentlich als Vorbilder gedient zu haben, auch das viel gelesene Leben Virgils von Donatus. Wie nun biographische Sammlungen, Leben berühmter Männer, berühmter Frauen, mit dem XIV. Jahrhundert aufkamen, wurde schon oben erwähnt. Soweit sie nicht Zeitgenossen schildern, hängen sie natürlich von den früheren Darstellern ab; die erste bedeutende freie Leistung ist wohl das Leben Dantes von Boccaccio. Leicht und schwungvoll hingeschrieben und reich an Willkürlichkeiten, gibt diese Arbeit doch das lebhafte Gefühl von dem Außerordentlichen in Dantes Wesen. Dann folgen, zu Ende des XIV. Jahrhunderts, die „vite“ ausgezeichneter Florentiner, von Filippo Villani. Es sind Leute jedes Faches: Dichter, Juristen, Ärzte, Philologen, Künstler, Staatsund Kriegsmänner, darunter noch lebende. Florenz wird hier behandelt wie eine begabte Familie, wo man die Sprösslinge notiert, in welchen der Geist des Hauses besonders kräftig ausgesprochen ist. Die Charakteristiken sind nur kurz, aber mit einem wahren Talent für das Bezeichnende gegeben und noch besonders merkwürdig durch das Zusammenfassen der äußeren Physiognomie mit der inneren. Fortan haben die Toskaner nie aufgehört, die Menschenschilderung als eine Sache ihrer speziellen Befähigung zu betrachten, und von ihnen haben wir die wichtigsten Charakteristiken der Italiener des XV. und XVI. Jahrhunderts überhaupt. Giovanni Cavalcanti (in den Beilagen zu seiner florentinischen Geschichte, vor 1450) sammelte Beispiele bürgerlicher Trefflichkeit und Aufopferung, politischen Verstandes, sowie auch kriegerischer Tüchtigkeit, von lauter Florentinern. Papst Pius II. gibt in seinen Kommentarien wertvolle Lebensbilder von berühmten Zeitgenossen; neuerlich ist auch eine besondere Schrift seiner früheren Zeit wieder abgedruckt worden, welche gleichsam die Vorarbeiten zu jenen Porträts, aber mit eigentümlichen Zügen und Farben enthält. Dem Jacob von Volterra verdanken wir pikante Porträts der römischen Kurie nach Pius. Von Vespasiano Fiorentino war schon oft die Rede und als Quelle im ganzen gehört er zum wichtigsten, was wir besitzen, aber seine Gabe des Charakterisierens kommt noch nicht in Betracht neben derjenigen eines Macchiavelli, Niccolò Valori, Guicciardini, Varchi, Francesco Vettori u. a., von welchen die europäische Geschichtschreibung vielleicht so nachdrücklich als von den Alten auf diesen Weg gewiesen wurde. Man darf nämlich nicht vergessen, dass mehrere dieser Autoren in lateinischen Übersetzungen frühe ihren Weg nach dem Norden fanden. Und ebenso gäbe es ohne Giorgio Vasari von Arezzo und sein unvergleichlich wichtiges Werk noch keine Kunstgeschichte des Nordens und des neueren Europas überhaupt.
Von den Oberitalienern des XV. Jahrhunderts soll Bartolommeo Fazio (von Spezia) höhere Bedeutung haben. Piatina, aus dem Cremonesischen gebürtig, repräsentiert in seinem „Leben Pauls II.“ bereits die biographische Karikatur. Vorzüglich wichtig aber ist die von Piercandido Decembrio verfasste Schilderung des letzten Visconti, eine große erweiterte Nachahmung des Sueton. Sismondi bedauert, dass so viele Mühe an einen solchen Gegenstand gewandt worden, allein für einen größeren Mann hätte vielleicht der Autor nicht ausgereicht, während er völlig genügt, um den gemischten Charakter des Filippo Maria und an und in demselben mit wunderwürdiger Genauigkeit die Voraussetzungen, Formen und Folgerungen einer bestimmten Art von Tyrannis darzustellen. Das Bild des XV. Jahrhunderts wäre unvollständig ohne diese in ihrer Art einzige Biographie, welche bis in die feinsten Miniaturpünktchen hinein charakteristisch ist. — Späterhin besitzt Mailand an dem Geschichtschreiber Corio einen bedeutenden Bildnismaler; dann folgt der Comaske Paolo Giovio, dessen größere Biographien und kleinere Elogien weltberühmt und für Nachfolger aller Länder ein Vorbild geworden sind. Es ist leicht, an hundert Stellen Giovios Flüchtigkeit und auch seine Unredlichkeit nachzuweisen und eine ernste höhere Absicht liegt ohnehin nie in einem Menschen wie er war. Allein der Atem des Jahrhunderts weht durch seine Blätter, und sein Leo, sein Alfonso, sein Pompeo Colonna leben und bewegen sich vor uns mit völliger Wahrheit und Notwendigkeit, wenngleich ihr tiefstes Wesen uns hier nicht kund wird.
Unter den Neapolitanern nimmt Tristan Caracciolo, soweit wir urteilen können, ohne Frage die erste Stelle ein, obwohl seine Absicht nicht einmal eine streng biographische ist. Wundersam verflechten sich in den Gestalten, die er uns vorführt, Schuld und Schicksal, ja man könnte ihn wohl einen unbewussten Tragiker nennen. Die wahre Tragödie, welche damals auf der Szene keine Stätte fand, schritt mächtig einher durch die Paläste, Straßen und Plätze. — Die „Worte und Taten Alfons des Großen“, von Antonio Panormita bei Lebzeiten des Königs geschrieben, sind merkwürdig als eine der frühesten derartigen Sammlungen von Anekdoten und weisen wie scherzhafte Reden.
Langsam nur folgte das übrige Europa den italienischen Leistungen in der geistigen Charakteristik, obschon die großen politischen und religiösen Bewegungen so manche Bande gesprengt, so viele Tausende zum Geistesleben geweckt hatten. Über die wichtigsten Persönlichkeiten der damaligen europäischen Welt sind wiederum im ganzen unsere besten Gewährsmänner Italiener, sowohl Literaten als Diplomaten. Wie rasch und unwidersprochen haben in neuester Zeit die venezianischen Gesandtschaftsberichte des XVI. und XVII. Jahrhunderts in betreff der Personalschilderungen die erste Stelle errungen.
Auch die Selbstbiographie nimmt bei den Italienern hie und da einen kräftigen Flug in die Tiefe und Weite und schildert neben dem buntesten Außenleben ergreifend das eigene Innere, während sie bei anderen Nationen, auch bei den Deutschen der Reformationszeit, sich an die merkwürdigen äußeren Schicksale hält und den Geist mehr nur aus der Darstellungsweise erraten lässt. Es ist, als ob Dantes vita nuova mit ihrer unerbittlichen Wahrheit der Nation die Wege gewiesen hätte.
Den Anfang dazu machen die Hausund Familiengeschichten aus dem XIV. und XV. Jahrhundert, welche noch in ziemlicher Anzahl namentlich in den florentinischen Bibliotheken handschriftlich vorhanden sein sollen; naive, im Interesse des Hauses und des Schreibenden abgefaßte Lebensläufe, wie z. B. der des Buonaccorso Pitti.
Eine tiefere Selbstkritik ist auch nicht gerade in den Kommentarien Pius’ II. zu suchen; was man hier von ihm als Menschen erfährt, beschränkt sich sogar dem ersten Anschein nach darauf, dass er meldet, wie er seine Karriere machte. Allein bei weiterem Nachdenken wird man dieses merkwürdige Buch anders beurteilen. Es gibt Menschen, die wesentlich Spiegel dessen sind, was sie umgibt; man tut ihnen Unrecht, wenn man sich beharrlich nach ihrer Überzeugung, nach ihren inneren Kämpfen und tieferen Lebensresultaten erkundigt. So ging Aeneas Sylvius völlig auf in den Dingen, ohne sich um irgend einen sittlichen Zwiespalt sonderlich zu grämen; nach dieser Seite deckte ihn seine gutkatholische Orthodoxie, soweit als nötig war. Und nachdem er in allen geistigen Fragen, die sein Jahrhundert beschäftigten, mitgelebt und mehr als einen Zweig derselben wesentlich gefördert hatte, behielt er doch am Ende seiner Laufbahn noch Temperament genug übrig, um den Kreuzzug gegen die Türken zu betreiben und am Gram ob dessen Vereitelung zu sterben.
Auch die Selbstbiographie des Benvenuto Cellini geht nicht gerade auf Beobachtungen über das eigene Innere aus. Gleichwohl schildert sie den ganzen Menschen, zum Teil wider Willen, mit einer hinreißenden Wahrheit und Fülle. Es ist wahrlich kein Kleines, dass Benvenuto, dessen bedeutendste Arbeiten bloßer Entwurf geblieben und untergegangen sind, und der uns als Künstler nur im kleinen dekorativen Fach vollendet erscheint, sonst aber, wenn man bloß nach seinen erhaltenen Werken urteilt, neben so vielen größeren Zeitgenossen zurückstehen muss, — dass Benvenuto als Mensch die Menschen beschäftigen wird bis ans Ende der Tage. Es schadet ihm nicht, dass der Leser häufig ahnt, er möchte gelogen oder geprahlt haben; denn der Eindruck der gewaltig energischen, völlig durchgebildeten Natur überwiegt. Neben ihm erscheinen z. B. unsere nordischen Selbstbiographen, so viel höher ihre Tendenz und ihr sittliches Wesen bisweilen zu achten sein mag, doch als unvollständige Naturen. Er ist ein Mensch, der alles kann, alles wagt und sein Maß in sich selber trägt. Ob wir es gerne hören oder nicht, es lebt in dieser Gestalt ein ganz kenntliches Urbild des modernen Menschen.
Und noch ein anderer ist hier zu nennen, der es ebenfalls mit der Wahrheit nicht immer soll genau genommen haben: Girolamo Cardano von Mailand (geb. 1500). Sein Büchlein „De propria vita“ wird selbst sein großes Andenken in der Geschichte der Naturforschung und der Philosophie überleben und übertönen wie die vita Benvenutos dessen Werke, obwohl der Wert der Schrift wesentlich ein anderer ist. Cardano fühlt sich als Arzt selber den Puls und schildert seine physische, intellektuelle und sittliche Persönlichkeit samt den Bedingungen, unter welchen sich dieselbe entwickelt hatte, und zwar aufrichtig und objektiv, soweit ihm dies möglich war. Sein zugestandenes Vorbild, Marc Aurels Schrift auf sich selbst, konnte er in dieser Beziehung deshalb überbieten, weil ihn kein stoisches Tugendgebot genierte. Er begehrt weder sich noch die Welt zu schonen; beginnt doch sein Lebenslauf damit, dass seiner Mutter die versuchte Abtreibung der Leibesfrucht nicht gelang. Es ist schon viel, dass er den Gestirnen, die in seiner Geburtsstunde gewaltet, nur seine Schicksale und seine intellektuellen Eigenschaften auf die Rechnung schreibt und nicht auch die sittlichen; übrigens gesteht er (Kap. 10) offen ein, dass ihm der astrologisch erworbene Wahn, er werde das vierzigste und höchstens das fünfundvierzigste Jahr nicht überleben, in seiner Jugend viel geschadet habe. Doch ist es uns hier nicht erlaubt, ein so stark verbreitetes, in jeder Bibliothek vorhandenes Buch zu exzerpieren. Wer es liest, wird in die Dienstbarkeit jenes Mannes kommen, bis er damit zu Ende ist. Cardano bekennt allerdings, dass er ein falscher Spieler, rachsüchtig, gegen jede Reue verhärtet, absichtlich verletzend im Reden gewesen; — er bekennt es freilich ohne Frechheit wie ohne fromme Zerknirschung, ja ohne damit interessant werden zu wollen, vielmehr mit dem einfachen, objektiven Wahrheitssinn eines Naturforschers. Und was das Anstößigste ist, der 76jährige Mann findet sich nach den schauerlichsten Erlebnissen, bei einem sehr erschütterten Zutrauen zu den Menschen, gleichwohl leidlich glücklich: noch lebt ihm ja ein Enkel, noch besitzt er sein ungeheures Wissen, den Ruhm wegen seiner Werke, ein hübsches Vermögen, Rang und Ansehen, mächtige Freunde, Kunde von Geheimnissen, und was das Beste ist: den Glauben an Gott. Nachträglich zählt er die Zähne in seinem Munde; es sind ihrer noch fünfzehn.
Doch als Cardano schrieb, sorgten auch in Italien Inquisitoren und Spanier bereits dafür, dass solche Menschen entweder sich nicht mehr ausbilden konnten oder auf irgend eine Weise umkamen. Es ist ein großer Sprung von da bis auf die Memoiren des Alfieri.
Es wäre indes ungerecht, diese Zusammenstellung von Selbstbiographen zu schließen, ohne einen sowohl achtbaren als glücklichen Menschen zu Worte kommen zu lassen. Es ist dies der bekannte Lebensphilosoph Luigi Cornaro, dessen Wohnung in Padua schon als Bauwerk klassisch und zugleich eine Heimat aller Musen war. In seinem berühmten Traktat „Vom mäßigen Leben“ schildert er zunächst die strenge Diät, durch welche es ihm gelungen, nach früherer Kränklichkeit ein gesundes und hohes Alter, damals von 83 Jahren zu erreichen; dann antwortet er denjenigen, welche das Alter über 65 Jahren hinaus überhaupt als einen lebendigen Tod verschmähen; er beweist ihnen, dass sein Leben ein höchst lebendiges und kein totes sei. „Sie mögen kommen, sehen und sich wundern über mein Wohlbefinden, wie ich ohne Hilfe zu Pferde steige, Treppen und Hügel hinauflaufe, wie ich lustig, amüsant und zufrieden bin, wie frei von Gemütssorgen und widerwärtigen Gedanken. Freude und Friede verlassen mich nicht . . . Mein Umgang sind weise, gelehrte, ausgezeichnete Leute von Stande, und wenn diese nicht bei mir sind, lese und schreibe ich, und suche damit wie auf jede andere Weise anderen nützlich zu sein nach Kräften. Von diesen Dingen tue ich jedes zu seiner Zeit, bequem, in meiner schönen Behausung, welche in der besten Gegend Paduas gelegen und mit allen Mitteln der Baukunst auf Sommer und Winter eingerichtet, auch mit Gärten am fließenden Wasser versehen ist. Im Frühling und Herbst gehe ich für einige Tage auf meinen Hügel in der schönsten Lage der Euganeen, mit Brunnen, Gärten und bequemer und zierlicher Wohnung; da mache ich auch wohl eine leichte und vergnügliche Jagd mit, wie sie für mein Alter paßt. Einige Zeit bringe ich dann in meiner schönen Villa in der Ebene zu; dort laufen alle Wege auf einen Platz zusammen, dessen Mitte eine artige Kirche einnimmt; ein mächtiger Arm der Brenta strömt mitten durch die Anlagen, lauter fruchtbare, wohl angebaute Felder, alles jetzt stark bewohnt, wo früher nur Sumpf und schlechte Luft und eher ein Wohnsitz für Schlangen als für Menschen war. Ich war’s, der die Gewässer ableitete; da wurde die Luft gut und die Leute siedelten sich an und vermehrten sich, und der Ort wurde so ausgebaut wie man ihn jetzt sieht, so dass ich in Wahrheit sagen kann: an dieser Stätte gab ich Gott einen Altar und einen Tempel und Seelen, um ihn anzubeten. Dies ist mein Trost und mein Glück so oft ich hinkomme. Im Frühling und Herbst besuche ich auch die nahen Städte und sehe und spreche meine Freunde und mache durch sie die Bekanntschaft anderer ausgezeichneter Leute, Architekten, Maler, Bildhauer, Musiker und Landökonomen. Ich betrachte, was sie neues geschaffen haben, betrachte das schon Bekannte wieder und lerne immer vieles, was mir dient, in und an Palästen, Gärten, Altertümern, Stadtanlagen, Kirchen und Festungswerken. Vor allem aber entzückt mich auf der Reise die Schönheit der Gegenden und der Ortschaften, wie sie bald in der Ebene, bald auf Hügeln, an Flüssen und Bächen mit ihren Landhäusern und Gärten ringsum daliegen. Und diese meine Genüsse werden mir nicht geschmälert durch Abnahme des Auges oder des Ohres; alle meine Sinne sind Gott sei Dank in vollkommen gutem Zustande, auch der Geschmack, indem mir jetzt das Wenige und Einfache, was ich zu mir nehme, besser schmeckt, als einst die Leckerbissen zur Zeit da ich unordentlich lebte.“
Nachdem er hierauf die von ihm für die Republik betriebenen Entsumpfungsarbeiten und die von ihm beharrlich vorgeschlagenen Projekte zur Erhaltung der Lagunen erwähnt hat, schließt er: „Dies sind die wahren Erholungen eines durch Gottes Hilfe gesunden Alters, das von jenen geistigen und körperlichen Leiden frei ist, welchen so manche jüngere Leute und so manche hinsiechende Greise unterliegen. Und wenn es erlaubt ist, zum Großen das Geringe, zum Ernst den Scherz hinzuzufügen, so ist auch das eine Frucht meines mäßigen Lebens, dass ich in diesem meinem 83. Altersjahre noch eine sehr ergötzliche Komödie voll ehrbarer Spaßhaftigkeit geschrieben habe. Dergleichen ist sonst Sache der Jugend, wie die Tragödie Sache des Alters; wenn man es nun jenem berühmten Griechen zum Ruhm anrechnet, dass er noch im 73. Jähre eine Tragödie gedichtet, muss ich nicht mit zehn Jahren darüber gesunder und heiterer sein als jener damals war? — Und damit der Fülle meines Alters kein Trost fehle, sehe ich eine Art leiblicher Unsterblichkeit in Gestalt meiner Nachkommenschaft vor Augen. Wenn ich nach Hause komme, habe ich nicht einen oder zwei, sondern elf Enkel vor mir, zwischen zwei und achtzehn Jahren, alle von einem Vater und einer Mutter, alle kerngesund und (soviel bis jetzt zu sehen ist) mit Talent und Neigung für Bildung und gute Sitten begabt. Einen von den kleineren habe ich immer als meinen Possenmacher (buffoncello) bei mir, wie denn die Kinder vom dritten bis zum fünften Jahre geborene Buf fönen sind ; die größeren behandle ich schon als meine Gesellschaft, und freue mich auch, da sie herrliche Stimmen haben, sie singen und auf verschiedenen Instrumenten spielen zu hören; ja ich selbst singe auch und habe jetzt eine bessere, hellere, tönendere Stimme als je. Das sind die Freuden meines Alters. Mein Leben ist also ein lebendiges und kein totes, und ich möchte mein Alter nicht tauschen gegen die Jugend eines solchen, der den Leidenschaften verfallen ist.“
In der „Ermahnung“, welche Cornaro viel später, in seinem 95. Jahre beifügte, rechnet er zu seinem Glück unter anderem auch, dass sein „Traktat“ viele Proselyten gewonnen habe. Er starb zu Padua 1565, mehr als hundertjährig.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 4. Buch