Charakteristik der Völker und Städte: Der Dittamondo — Schilderungen aus dem XVI. Jahrhundert

Neben der Charakteristik der einzelnen Individuen entsteht auch eine Gabe des Urteiles und der Schilderung für ganze Bevölkerungen. Während des Mittelalters hatten sich im ganzen Abendlande Städte, Stämme und Völker gegenseitig mit Spott- und Scherzworten verfolgt, welche meistens einen wahren Kern in starker Verzerrung enthielten. Von jeher aber taten sich die Italiener im Bewusstsein der geistigen Unterschiede ihrer Städte und Landschaften besonders hervor; ihr Lokalpatriotismus, so groß oder größer als bei irgend einem mittelalterlichen Volke, hatte frühe schon eine literarische Seite und verband sich mit dem Begriff des Ruhmes; die Topographie entsteht als eine Parallele der Biographie. Während sich nun jede größere Stadt in Prosa und Versen zu preisen anfing, traten auch Schriftsteller auf, welche sämtliche wichtigeren Städte und Bevölkerungen teils ernsthaft nebeneinander beschrieben, teils witzig verspotteten, auch wohl so besprachen, dass Ernst und Spott nicht scharf voneinander zu trennen sind.

Nächst einigen berühmten Stellen in der Divina Commedia kommt der Dittamondo des Uberti in Betracht (um 1360). Hier werden hauptsächlich nur einzelne auffallende Erscheinungen und Wahrzeichen namhaft gemacht: das Krähenfest zu St. Apollinare in Ravenna, die Brunnen in Treviso, der große Keller bei Vicenza, die hohen Zölle von Mantua, der Wald von Türmen in Lucca; doch finden sich dazwischen auch Lobeserhebungen und anzügliche Kritiken anderer Art; Arezzo figuriert bereits mit dem subtilen Ingenium seiner Stadtkinder, Genua mit den künstlich geschwärzten Augen und Zähnen (?) der Weiber, Bologna mit dem Geldvertun, Bergamo mit dem groben Dialekt und den gescheiten Köpfen u. dgl. Im XV. Jahrhundert rühmt dann jeder seine eigene Heimat auch auf Kosten anderer Städte. Michele Savonarola z. B. lässt neben seinem Padua nur Venedig und Rom als herrlicher, Florenz höchstens als fröhlicher gelten, womit denn natürlich der objektiven Erkenntnis wenig gedient war. Am Ende des Jahrhunderts schildert Jovianus Pontanus in seinem „Antonius“ eine fingierte Reise durch Italien nur um boshafte Bemerkungen dabei vorbringen zu können. Aber mit dem XVI. Jahrhundert beginnt eine Reihe wahrer und tiefer Charakteristiken, wie sie damals wohl kein anderes Volk in dieser Weise besaß. Macchiavelli schildert in einigen kostbaren Aufsätzen die Art und den politischen Zustand der Deutschen und Franzosen, so dass auch der geborene Nordländer, der seine Landesgeschichte kennt, dem florentinischen Weisen für seine Lichtblicke dankbar sein wird. Dann zeichnen die Florentiner gerne sich selbst und sonnen sich dabei im reichlich verdienten Glänze ihres geistigen Ruhmes; vielleicht ist es der Gipfel ihres Selbstgefühls, wenn sie z. B. das künstlerische Primat Toskanas über Italien nicht einmal von einer besonderen genialen Begabung, sondern von der Anstrengung, von den Studien herleiten. Huldigungen berühmter Italiener anderer Gegenden wie zum Beispiel das herrliche sechzehnte Capitolo des Ariost, mochte man wohl wie einen schuldigen Tribut in Empfang nehmen.


Von einer, wie es scheint, sehr ausgezeichneten Quelle über die Unterschiede der Bevölkerungen Italiens können wir nur den Namen angeben. Leandro Alberti ist in der Schilderung des Genius der einzelnen Städte nicht so ausgiebig als man erwarten sollte. Ein kleiner anonymer Commentario enthält zwischen vielen Torheiten auch manchen wertvollen Wink über den unglücklichen zerfallenen Zustand um die Mitte des Jahrhunderts.

Wie nun diese vergleichende Betrachtung der Bevölkerungen, hauptsächlich durch den italienischen Humanismus, auf andere Nationen eingewirkt haben mag, sind wir nicht imstande näher nachzuweisen. Jedenfalls gehört Italien dabei die Priorität wie bei der Kosmographie im großen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 4. Buch