Geistige Schilderungen in der Poesie: Wert der reimlosen Verse — Wert des Sonettes — Dante und seine Vita nuova — Seine Divina Commedia — Petrarca als Seelenschilder er — Boccaccio und die Fiammetta — Geringe Entwicklung der Tragödie — Die Pracht der Aufführung als Feindin des Dramas — Intermezzi und Ballett — Komödie und Maskenkomödie — Ersatz durch die Musik — Das romantische Epos — Notwendige Unterordnung der Charaktere — Pulci und Bojardo — Das innere Gesetz ihrer Komposition — Ariosto und sein Stil — Folengo und die Parodie — Tasso als Gegensatz
Im Reiche der freien geistigen Schilderung empfangen uns zunächst die großen Dichter des XIV. Jahrhunderts.
Wenn man aus der ganzen abendländischen Hof- und Ritterdichtung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte die Perlen zusammensucht, so wird eine Summe von herrlichen Ahnungen und Einzelbildern von Seelenbewegungen zum Vorschein kommen, welche den Italienern auf den ersten Blick den Preis streitig zu machen scheint. Selbst abgesehen von der ganzen Lyrik gibt schon der einzige Gottfried von Straßburg mit „Tristan und Isolde“ ein Bild der Leidenschaft, welches unvergängliche Züge hat. Allein diese Perlen liegen zerstreut in einem Meere des Konventionellen und Künstlichen, und ihr Inhalt bleibt noch immer weit entfernt von einer vollständigen Objektivmachung des inneren Menschen und seines geistigen Reichtums.
Auch Italien hatte damals, im XIII. Jahrhundert, seinen Anteil an der Hof- und Ritterdichtung durch seine Trovatoren. Von ihnen stammt wesentlich die Kanzone her, die sie so künstlich und schwierig bauen als irgendein nordischer Minnesänger sein Lied; Inhalt und Gedankengang sogar ist der konventionell höfische, mag der Dichter auch bürgerlichen oder gelehrten Standes sein.
Aber schon offenbaren sich zwei Auswege, die auf eine neue, der italienischen Poesie eigene Zukunft hindeuten und die man nicht für unwichtig halten darf, wenn es sich schon nur um Formelles handelt.
Von demselben Brunetto Latini (dem Lehrer des Dante), welcher in der Kanzonendichtung die gewöhnliche Manier der Trovatoren vertritt, stammen die frühesten bekannten Versi sciolti, reimlose Hendekasyllaben her, und in dieser scheinbaren Formlosigkeit äußert sich auf einmal eine wahre, erlebte Leidenschaft. Es ist eine ähnliche bewusste Beschränkung der äußeren Mittel im Vertrauen auf die Kraft des Inhaltes, wie sie sich einige Jahrzehnte später in der Frescomalerei und noch später sogar in der Tafelmalerei zeigt, indem auf die Farben verzichtet und bloß in einem helleren oder dunkleren Ton gemalt wird. Für jene Zeit, welche sonst auf das Künstliche in der Poesie so große Stücke hielt, sind diese Verse des Brunetto der Anfang einer neuen Richtung.
Daneben aber, ja noch in der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts, bildet sich eine von den vielen strenggemessenen Strophenformen, die das Abendland damals hervorbrachte, für Italien zu einer herrschenden Durchschnittsform aus: das Sonett. Die Reimstellung und sogar die Zahl der Verse schwankt noch hundert Jahre lang, bis Petrarca die bleibende Normalgestalt durchsetzte. In diese Form wird anfangs jeder höhere lyrische und kontemplative, später jeder mögliche Inhalt gegossen, so dass Madrigale, Sestinen und selbst die Kanzonen daneben nur eine untergeordnete Stelle einnehmen. Spätere Italiener haben selber bald scherzend, bald missmutig geklagt über diese unvermeidliche Schablone, dieses vierzehnzeilige Procrustesbett der Gefühle und Gedanken. Andere waren und sind gerade mit dieser Form sehr zufrieden und brauchen sie viel tausendmal, um darin Reminiszenzen und müßigen Singsang ohne allen tieferen Ernst und ohne Notwendigkeit niederzulegen. Deshalb gibt es sehr viel mehr unbedeutende und schlechte Sonette als gute.
Nichtsdestoweniger erscheint uns das Sonett als ein ungeheurer Segen für die italienische Poesie. Die Klarheit und Schönheit seines Baues, die Aufforderung zur Steigerung des Inhaltes in der lebhafter gegliederten zweiten Hälfte, dann die Leichtigkeit des Auswendiglernens, mussten es auch den größten Meistern immer von neuem lieb und wert machen. Oder meint man im Ernst, dieselben hätten es bis auf unser Jahrhundert beibehalten, wenn sie nicht von seinem hohen Werte wären durchdrungen gewesen? Nun hätten allerdings diese Werte ersten Ranges auch in anderen Formen der verschiedensten Art dieselbe Macht äußern können. Allein weil sie das Sonett zur lyrischen Hauptform erhoben, wurden auch sehr viele andere von hoher, wenn auch nur bedingter Begabung, die sonst in einer weitläufigen Lyrik untergegangen wären, genötigt, ihre Empfindungen zu konzentrieren. Das Sonett wurde ein allgemeingültiger Kondensator der Gedanken und Empfindungen wie ihn die Poesie keines anderen modernen Volkes besitzt.
So tritt uns nun die italienische Gefühlswelt in einer Menge von höchst entschiedenen, gedrängten und in ihrer Kürze höchst wirksamen Bildern entgegen. Hätten andere Völker eine konventionelle Form von dieser Gattung besessen, so wüssten wir vielleicht auch mehr von ihrem Seelenleben; wir besäßen möglicherweise auch eine Reihe abgeschlossener Darstellungen äußerer und innerer Situationen oder Spiegelbilder des Gemütes und wären nicht auf eine vorgebliche Lyrik des XIV. und XV. Jahrhunderts verwiesen, die fast nirgends ernstlich genießbar ist. Bei den Italienern erkennt man einen sicheren Fortschritt fast von der Geburt des Sonetts an; in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts bilden die neuerlich so benannten „Trovatori della transizione“ in der Tat einen Übergang von den Trovatoren zu den Poeten, d. h. zu den Dichtern unter antikem Einfluss; die einfache, starke Empfindung, die kräftige Bezeichnung der Situation, der präzise Ausdruck und Abschluß in ihren Sonetten u. a. Gedichten kündet zum voraus einen Dante an. Einige Parteisonette der Guelfen und Ghibellinen (1260 — 1270) tönen schon in der Art wie seine Leidenschaft, anderes erinnert an das Süßeste in seiner Lyrik.
Wie er selbst das Sonett theoretisch ansah, wissen wir nur deshalb nicht, weil die letzten Bücher seiner Schrift „Von der Vulgärsprache“, worin er von Balladen und Sonetten handeln wollte, entweder ungeschrieben geblieben oder verlorengegangen sind. Praktisch aber hat er in Sonett und Kanzone die herrlichsten Seelenschilderungen niedergelegt. Und in welchen Rahmen sind sie eingefasst! Die Prosa seiner „Vita nuova“, worin er Rechenschaft gibt von dem Anlass jedes Gedichtes, ist so wunderbar als die Verse selbst und bildet mit denselben ein gleichmäßig von der tiefsten Glut beseeltes Ganzes. Rücksichtslos gegen die Seele selbst konstatiert er alle Schattierungen ihrer Wonne und ihres Leides und prägt dann dies alles mit fester Willenskraft in der strengsten Kunstform aus. Wenn man diese Sonette und Kanzonen und dazwischen diese wundersamen Bruchstücke des Tagebuches seiner Jugend aufmerksam liest, so scheint es, als ob das ganze Mittelalter hindurch alle Dichter sich selber gemieden, er zuerst sich selber aufgesucht hätte. Künstliche Strophen haben Unzählige vor ihm gebaut; aber er zuerst ist in vollem Sinne ein Künstler, weil er mit Bewusstsein unvergänglichen Inhalt in eine unvergängliche Form bildet. Hier ist subjektive Lyrik von völlig objektiver Wahrheit und Größe; das meiste so durchgearbeitet, dass alle Völker und Jahrhunderte es sich aneignen und nachempfinden können. Wo er aber völlig objektiv dichtet und die Macht seines Gefühles nur durch einen außer ihm liegenden Tatbestand erraten lässt, wie in den grandiosen Sonetten Tanto gentile usw. und Vede perfettamente usw., glaubt er noch sich entschuldigen zu müssen. Im Grunde gehört auch das allerschönste dieser Gedichte hierher: das Sonett Deh peregrini che pensosi andate usw.
Auch ohne die Divina Commedia wäre Dante durch diese bloße Jugendgeschichte ein Markstein zwischen Mittelalter und neuer Zeit. Geist und Seele tun hier plötzlich einen gewaltigen Schritt zur Erkenntnis ihres geheimsten Lebens.
Was hierauf die Commedia an solchen Offenbarungen enthält, ist vollends unermesslich, und wir müßten das ganze große Gedicht, einen Gesang nach dem anderen, durchgehen, um seinen vollen Wert in dieser Beziehung darzulegen. Glücklicherweise bedarf es dessen nicht, da die Commedia längst eine tägliche Speise aller abendländischen Völker geworden ist. Ihre Anlage und Grundidee gehört dem Mittelalter und spricht unser Bewusstsein nur historisch an; ein Anfang aller modernen Poesie aber ist das Gedicht wesentlich wegen des Reichtums und der hohen plastischen Macht in der Schilderung des Geistigen auf jeder Stufe und in jeder Wandlung.
Fortan mag diese Poesie ihre schwankenden Schicksale haben und auf halbe Jahrhunderte einen sogenannten Rückgang zeigen — ihr höheres Lebensprinzip ist auf immer gerettet, und wo im XIV., XV. und beginnenden XVI. Jahrhundert ein tiefer, originaler Geist in Italien sich ihr hingibt, stellt er von selbst eine wesentlich höhere Potenz dar als irgendein außeritalischer Dichter, wenn man Gleichheit der Begabung — freilich eine schwer zu ermittelnde Sache — voraussetzt.
Wie in allen Dingen bei den Italienern die Bildung (wozu die Poesie gehört) der bildenden Kunst vorangeht, ja dieselbe erst wesentlich anregen hilft, so auch hier. Es dauert mehr als ein Jahrhundert, bis das Geistig-Bewegte, das Seelenleben in Skulptur und Malerei einen Ausdruck erreicht, welcher demjenigen bei Dante nur irgendwie analog ist. Wie viel oder wie wenig dies von der Kunstentwicklung anderer Völker gilt, und wie weit die Frage im ganzen von Werte ist, kümmert uns hier wenig. Für die italienische Kultur hat sie ein entscheidendes Gewicht.
Was Petrarca in dieser Beziehung gelten soll, mögen die Leser des vielverbreiteten Dichters entscheiden. Wer ihm mit der Absicht eines Verhörrichters naht und die Widersprüche zwischen dem Menschen und dem Dichter, die erwiesenen Nebenliebschaften und andere schwache Seiten recht emsig aufspürt, der kann in der Tat bei einiger Anstrengung die Lust an seinen Sonetten gänzlich verlieren. Man hat dann statt eines poetischen Genusses die Kenntnis des Mannes in seiner „Totalität“. Nur schade, dass Petrarcas Briefe so wenig avignonesischen Klatsch enthalten, woran man ihn fassen könnte, und dass die Korrespondenzen seiner Bekannten und der Freunde dieser Bekannten entweder verlorengegangen sind oder gar nie existiert haben. Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus seiner Umgebung und seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat man gleich wohl auch für Petrarca aus den wenigen „Reliquien“ solcher Art eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einem Anklageakt ähnlich sieht. Übrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland und England noch fünfzig Jahre so fort geht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten.
Ohne das viele Künstliche und Gesuchte zu verkennen, wo Petrarca sich selber nachahmt und in seiner eigenen Manier weiterdichtet, bewundern wir in ihm eine Fülle herrlicher Seelenbilder, Schilderungen seliger und unseliger Momente, die ihm wohl eigen sein müssen, weil kein anderer vor ihm sie aufweist, und welche seinen eigentlichen Wert für die Nation und die Welt ausmachen. Nicht überall ist der Ausdruck gleichmäßig durchsichtig; nicht selten gesellt sich dem Schönsten etwas für uns Fremdartiges bei, allegorisches Spielwerk und spitzfindige Sophistik; allein das Vorzügliche überwiegt.
Auch Boccaccio erreicht in seinen zu wenig beachteten Sonetten eine bisweilen höchst ergreifende Darstellung seines Gefühles. Der Wiederbesuch einer durch Liebe geweihten Stätte (Son. 22), die Frühlingsmelancholie (Son. 33), die Wehmut des alternden Dichters (Son. 65) sind von ihm ganz herrlich besungen. Sodann hat er im Ameto die veredelnde und verklärende Kraft der Liebe in einer Weise geschildert, wie man es von dem Verfasser des Decamerone schwerlich erwarten würde. Endlich aber ist seine „Fiammetta“ ein großes, umständliches Seelengemälde, voll der tiefsten Beobachtung, wenn auch nichts weniger als gleichmäßig durchgeführt, ja stellenweise unleugbar beherrscht von der Lust an der prachtvoll tönenden Phrase; auch Mythologie und Altertum mischen sich bisweilen unglücklich ein. Wenn wir nicht irren, so ist die Fiammetta ein weibliches Seitenstück zur Vita nuova des Dante, oder doch auf Anregung von dieser Seite her entstanden.
Dass die antiken Dichter, zumal die Elegiker und das vierte Buch der Aeneide, nicht ohne Einfluss auf diese und die folgenden Italiener blieben, versteht sich von selbst, aber die Quelle des Gefühls sprudelt mächtig genug in ihrem Innern. Wer sie nach dieser Seite hin mit ihren außeritalienischen Zeitgenossen vergleicht, wird in ihnen den frühesten vollständigen Ausdruck der modernen europäischen Gefühlswelt überhaupt erkennen. Es handelt sich hier durchaus nicht darum, zu wissen, ob ausgezeichnete Menschen anderer Nationen nicht ebenso tief und schön empfunden haben, sondern wer zuerst die reiche Kenntnis der Seelenregungen urkundlich erwiesen hat.
Warum haben aber die Italiener der Renaissance in der Tragödie nur Untergeordnetes geleistet? Dort war die Stelle, Charakter, Geist und Leidenschaft tausendgestaltig im Wachsen, Kämpfen und Unterliegen der Menschen zur Anschauung zu bringen. Mit anderen Worten: warum hat Italien keinen Shakespeare hervorgebracht? — Denn dem übrigen nordischen Theater des XVI., XVII. Jahrhunderts möchten die Italiener wohl gewachsen sein, und mit dem spanischen konnten sie nicht konkurrieren, weil sie keinen religiösen Fanatismus empfanden, den abstrakten Ehrenpunkt nur pro forma mitmachten und ihr tyrannisches, illegitimes Fürstentum als solches anzubeten und zu verklären zu klug und zu stolz waren. Es handelt sich also einzig nur um die kurze Blütezeit des englischen Theaters.
Hierauf ließe sich erwidern, dass das ganze übrige Europa auch nur einen Shakespeare hervorgebracht hat und dass ein solcher Genius überhaupt ein seltenes Geschenk des Himmels ist. Ferner könnte möglicherweise eine hohe Blüte des italienischen Theaters im Anzüge gewesen sein, als die Gegenreformation hereinbrach und im Zusammenhang mit der spanischen Herrschaft (über Neapel und Mailand und indirekt fast über ganz Italien) die besten Blüten des italienischen Geistes knickte oder verdorren ließ. Man denke sich nur Shakespeare selber z. B. unter einem spanischen Vizekönig oder in der Nähe des heiligen Officiums zu Rom,, oder nur in seinem eigenen Lande ein paar Jahrzehnte später, zur Zeit der englischen Revolution. Das Drama, in seiner Vollkommenheit ein spätes Kind jeder Kultur, will seine Zeit und sein besonderes Glück haben.
Bei diesem Anlass müssen wir jedoch einiger Umstände gedenken, welche allerdings geeignet waren, eine höhere Blüte des Dramas in Italien zu erschweren oder zu verzögern, bis es zu spät war.
Als den wichtigsten dieser Umstände darf man ohne Zweifel die große anderweitige Beschäftigung der Schaulust bezeichnen, zunächst vermöge der Mysterien u. a. religiösen.
Aufzüge. Im ganzen Abendlande sind Aufführungen der dramatisierten heiligen Geschichte und Legende gerade Quelle und Anfang des Dramas und des Theaters gewesen; Italien aber hatte sich, wie im folgenden Abschnitt erörtert werden soll, den Mysterien mit einem solchen künstlerisch dekorativen Prachtsinn hingegeben, dass darunter notwendig das dramatische Element in Nachteil geraten musste. Aus all den unzähligen kostbaren Aufführungen entwickelte sich dann nicht einmal eine poetische Kunstgattung wie die „Autos sagramentales“ bei Calderon u. a. spanischen Dichtern, geschweige denn ein Vorteil oder Anhalt für das profane Drama.
Als letzteres dennoch emporkam, nahm es sofort nach Kräften an der Pracht der Ausstattung teil, an welche man eben von den Mysterien her nur allzusehr gewöhnt war. Man erfährt mit Staunen, wie reich und bunt die Dekoration der Szene in Italien war, zu einer Zeit, da man sich im Norden noch mit der einfachsten Andeutung der Örtlichkeit begnügte. Allein selbst dies wäre vielleicht noch von keinem entscheidenden Gewichte gewesen, wenn nicht die Aufführung selbst teils durch Pracht der Kostüme, teils und hauptsächlich durch bunte Intermezzi den Sinn von dem poetischen Gehalt des Stückes abgelenkt hätte.
Dass man an vielen Orten, namentlich in Rom und Ferrara, Plautus und Terenz, auch wohl Stücke alter Tragiker aufführte, bald lateinisch, bald italienisch, dass jene Akademien sich eine förmliche Aufgabe hieraus machten, und dass die Dichter der Renaissance selbst in ihren Dramen von diesen Vorbildern mehr als billig abhingen, gereichte dem italienischen Drama für die betreffenden Jahrzehnte allerdings auch zum Nachteil, doch halte ich diesen Umstand für untergeordnet. Wäre nicht Gegenreformation und Fremdherrschaft dazwischen gekommen, so hätte sich jener Nachteil gar wohl in eine nützliche Übergangsstufe verwandeln können. War doch schon bald nach 1520 wenigstens der Sieg der Muttersprache in Tragödie und Komödie zum großen Verdruss der Humanisten so viel als entschieden. Von dieser Seite hätte der entwickeltsten Nation Europas kein Hindernis mehr im Wege gestanden, wenn es sich darum handelte, das Drama im höchsten Sinne des Wortes zu einem geistigen Abbild des Menschenlebens zu erheben. Inquisitoren und Spanier waren es, welche die Italiener verschüchterten und die dramatische Schilderung der wahrsten und größten Konflikte, zumal im Gewände nationaler Erinnerungen, unmöglich machten. Daneben aber müssen wir doch auch jene zerstreuenden Intermezzi als einen wahren Schaden des Dramas näher ins Auge fassen.
Als die Hochzeit des Prinzen Alfonso von Ferrara mit Lucrezia Borgia gefeiert wurde, zeigte der Herzog Ercole in Person den erlauchten Gästen die 110 Kostüme, welche zur Aufführung von fünf plautinischen Komödien dienen sollten, damit man sehe, dass keines zweimal diene. Aber was wollte dieser Luxus von Taffet und Kamelot sagen im Vergleich mit der Ausstattung der Ballette und Pantomimen, welche als Zwischenakte der plautinischen Stücke aufgeführt wurden. Dass Plautus daneben einer lebhaften jungen Dame wie Isabella Gonzaga schmerzlich langweilig vorkam und dass jedermann sich während des Dramas nach den Zwischenakten sehnte, ist begreiflich, sobald man den bunten Glanz derselben in Betracht zieht. Da gab es Kämpfe römischer Krieger, welche ihre Waffen kunstgerecht zum Takte der Musik bewegten, Fackeltänze von Mohren, einen Tanz von wilden Männern mit Füllhörnern, aus welchen flüssiges Feuer sprühte; sie bildeten das Ballett zu einer Pantomime, welche die Rettung eines Mädchens von einem Drachen darstellte. Dann tanzten Narren in Pulcinelltracht und schlugen einander mit Schweinsblasen, u. dgl. m. Es war eine zugestandene Sache am Hofe von Ferrara, dass jede Komödie „ihr“ Ballett (moresca) habe. Wie man sich vollends die Aufführung des plautinischen Amphitruo daselbst (1491, bei Alfonsos erster Vermählung mit Anna Sforza) zu denken habe, ob vielleicht schon mehr als Pantomime mit Musik, denn als Drama, bleibt zweifelhaft. Das Eingelegte überwog jedenfalls das Stück selber; da sah man, von einem rauschenden Orchester begleitet, einen Chortanz von Jünglingen in Epheu gehüllt, in künstlich verschlungenen Figuren; dann erschien Apoll, schlug die Lyra mit dem Piektrum und sang dazu ein Preislied auf das Haus Este; zunächst folgte, gleichsam als Intermezzo im Intermezzo, eine bäuerische Genreszene oder Posse, worauf wieder die Mythologie mit Venus, Bacchus und ihrem Gefolge die Szene in Beschlag nahm und eine Pantomime — Paris auf dem Ida — vorging. Nun erst kam die zweite Hälfte der Fabel des Amphitruo, mit deutlicher Anspielung auf die künftige Geburt eines Herkules aus dem Hause Este. Bei einer früheren Aufführung desselben Stückes im Hof des Palastes (1487) brannte fortwährend „ein Paradies mit Sternen und anderen Rädern“, d.h. eine Illumination vielleicht mit Feuerwerk, welche gewiss die beste Aufmerksamkeit absorbierte. Offenbar war es besser, wenn dergleichen Zutaten für sich als eigene Darstellungen auftraten, wie etwa an anderen Höfen geschah. Von den festlichen Aufführungen beim Kardinal Pietro Riario, bei den Bentivogli zu Bologna usw. wird deshalb bei Anlass der Feste zu handeln sein.
Für die italienische Originaltragödie war die nun einmal gebräuchliche Pracht der Ausstattung wohl ganz besonders verhängnisvoll. „Man hat früher in Venedig“, schreibt Francesco Sansovino um 1570, „oft außer den Komödien auch Tragödien von antiken und modernen Dichtern mit großem Pomp aufgeführt. Um des Ruhmes der Ausstattung (apparati) willen strömten Zuschauer von fern und nah dazu herbei. Heutzutage jedoch finden Festlichkeiten, die von Privatleuten veranstaltet werden, zwischen vier Mauern statt und seit einiger Zeit hat sich von selbst der Gebrauch so festgesetzt, dass die Karnevalszeit mit Komödien und anderen heiteren und schätzbaren Vergnügungen hingebracht wird.“ D. h. der Pomp hat die Tragödie töten helfen.
Die einzelnen Anläufe und Versuche dieser modernen Tragiker, worunter die Sofonisba des Trissino (1515) den größten Ruhm gewann, gehören in die Literaturgeschichte. Und auch von der vornehmeren, dem Plautus und Terenz nachgebildeten Komödie lässt sich dasselbe sagen. Selbst ein Ariost konnte in dieser Gattung nichts Ausgezeichnetes leisten. Dagegen hätte die populäre Komödie in Prosa, wie sie Macchiavelli, Bibiena, Aretino behandelten, gar wohl eine Zukunft haben können, wenn sie nicht um ihres Inhaltes willen dem Untergang verfallen gewesen wäre. Dieser war nämlich einstweilen teils äußerst unsittlich, teils gegen einzelne Stände gerichtet, welche sich seit etwa 1540 nicht mehr eine so öffentliche Feindschaft bieten ließen. Wenn in der Sofonisba die Charakteristik vor einer glanzvollen Deklamation hatte weichen müssen, so war sie hier, nebst ihrer Stiefschwester, der Karikatur, nur zu rücksichtslos gehandhabt gewesen.
Nun dauert das Dichten von Tragödien und Komödien unaufhörlich fort, und auch an zahlreichen wirklichen Aufführungen antiker und moderner Stücke fehlt es fortwährend nicht; allein man nimmt davon nur Anlass und Gelegenheit, um bei Festen die standesmäßige Pracht zu entwickeln, und der Genius der Nation hat sich davon als von einer lebendigen Gattung völlig abgewandt. Sobald Schäferspiel und Oper auftraten, konnte man jene Versuche vollends entbehren.
National war und blieb nun nur eine Gattung: die ungeschriebene Commedia dell’ Arte, welche nach einem vorliegenden Szenarium improvisiert wurde. Sie kommt der höheren Charakteristik deshalb nicht sonderlich zugute, weil sie wenige und feststehende Masken hat, deren Charakter jedermann auswendig weiß. Die Begabung der Nation aber neigte so sehr nach dieser Gattung hin, dass man auch mitten in den Aufführungen geschriebener Komödien sich der eigenen Improvisation überließ, so dass eine förmliche Mischgattung sich hie und da geltend machen konnte. In dieser Weise mögen die Komödien gehalten gewesen sein, welche in Venedig Burchiello und dann die Gesellschaft des Armonio, Val. Zuccato, Lod. Dolce usw. aufführte; von Burchiello erfährt man bereits, dass er die Komik durch einen mit Griechisch und Slavonisch versetzten venezianischen Dialekt zu steigern wusste. Eine fast oder ganz vollständige Commedia dell’ Arte war dann die des Angelo Beolco, genannt il Ruzzante (1502 — 1542), dessen stehende Masken paduanische Bauern (Menato, Vezzo, Billora u.a.) sind; ihren Dialekt pflegte er zu studieren, wenn er auf der Villa seines Gönners Luigi Cornaro zu Codevico den Sommer zubrachte. Allmählich tauchen dann alle die berühmten Lokalmasken auf, an deren Überresten Italien sich noch heute ergötzt: Pantalone, der Dottore, Brighella, Pulcinella, Arlecchino usw. Sie sind gewiss größtenteils sehr viel älter, ja möglicherweise im Zusammenhang mit den Masken altrömischer Farcen, allein erst das XVI. Jahrhundert vereinigte mehrere von ihnen in einem Stücke. Gegenwärtig geschieht dies nicht mehr leicht, aber jede große Stadt hält wenigstens ihre Lokalmaske fest: Neapel seinen Pulcinella, Florenz den Stenterello, Mailand den bisweilen herrlichen Meneking.
Ein dürftiger Ersatz freilich für eine große Nation, welche vielleicht vor allen die Gabe gehabt hätte, ihr Höchstes im Spiegel des Dramas objektiv zu schildern und anzuschauen. Aber dies sollte ihr auf Jahrhunderte verwehrt bleiben durch feindselige Mächte, an deren Aufkommen sie nur zum Teil schuld war. Nicht auszurotten war freilich das allverbreitete Talent der dramatischen Darstellung und mit der Musik hat Italien vollends Europa zinspflichtig gehalten. Wer in dieser Tonwelt einen Ersatz oder einen verhüllten Ausdruck für das verwehrte Drama erkennen will, mag sich damit nach Gefallen trösten.
Was das Drama nicht geleistet hatte, darf man es etwa vom Epos erwarten? Gerade das italienische Heldengedicht wird scharf darob angeklagt, dass die Haltung und Durchführung der Charaktere seine aller schwächste Seite sei.
Andere Vorzüge sind ihm nicht abzustreiten, u. a. der, dass es seit viereinhalb Jahrhunderten wirklich gelesen und immer von neuem abgedruckt wird, während fast die ganze epische Poesie der übrigen Völker zur bloßen literaturgeschichtlichen Kuriosität geworden ist. Oder liegt es etwa an den Lesern, die etwas anderes verlangen und anerkennen als im Norden ? Wenigstens gehört für uns schon eine teilweise Aneignung des italienischen Gesichtskreises dazu, um diesen Dichtungen ihren eigentümlichen Wert abzugewinnen, und es gibt sehr ausgezeichnete Menschen, welche erklären, nichts damit anfangen zu können. Freilich wer Pulci, Bojardo, Ariosto und Berni auf den reinen sogenannten Gedankengehalt hin analysiert, der muss dabei zu kurz kommen. Sie sind Künstler der eigensten Art, welche für ein entschieden und vorherrschend künstlerisches Volk dichten.
Die mittelalterlichen Sagenkreise hatten nach dem allmählichen Erlöschen der Ritterdichtung teils in Gestalt von gereimten Umarbeitungen und Sammlungen, teils als Prosaromane weitergelebt. Letzteres war in Italien während des XIV. Jahrhunderts der Fall; doch wuchsen die neu erwachenden Erinnerungen des Altertums riesengroß daneben empor und stellten alle Phantasiebilder des Mittelalters in tiefen Schatten. Boccaccio z. B. in seiner Visione amorosa nennt zwar unter den in seinem Zauberpalast dargestellten Heroen auch einen Tristan, Artus, Galeotto usw. mit, aber ganz kurz, als schämte er sich ihrer, und die folgenden Schriftsteller aller Art nennen sie entweder gar nicht mehr oder nur im Scherz. Das Volk jedoch behielt sie im Gedächtnis, und aus seinen Händen gingen sie dann wieder an die Dichter des XV. Jahrhunderts über. Dieselben konnten ihren Stoff nun ganz neu und frei empfinden und darstellen; sie taten aber noch mehr, indem sie unmittelbar daran weiter dichteten, ja sogar bei weitem das meiste neu erfanden. Eines muss man nicht von ihnen verlangen: dass sie einen so überkommenen Stoff hätten mit einem vorweltlichen Respekt behandeln sollen. Das ganze neuere Europa darf sie darum beneiden, dass sie noch an die Teilnahme ihres Volkes für eine bestimmte Phantasiewelt anknüpfen konnten, aber sie hätten Heuchler sein müssen, wenn sie dieselbe als Mythus verehrt hätten.
Statt dessen bewegen sie sich auf dem neu für die Kunstpoesie gewonnenen Gebiete als Souveräne. Ihr Hauptziel scheint die möglichst schöne und muntere Wirkung des einzelnen Gesanges beim Rezitieren gewesen zu sein, wie denn auch diese Gedichte außerordentlich gewinnen, wenn man sie stückweise und vortrefflich, mit einem leisen Anflug von Komik in Stimme und Gebärde hersagen hört. Eine tiefere, durchgeführte Charakterzeichnung hätte zur Erhöhung dieses Effektes nicht sonderlich beigetragen; der Leser mag sie verlangen, der Hörer denkt nicht daran, da er immer nur ein Stück hört und zuletzt nur den Rhapsoden vor sich sieht. In betreff der vorgeschriebenen Figuren ist die Stimmung des Dichters eine doppelte: seine humanistische Bildung protestiert gegen das mittelalterliche Wesen derselben, während doch ihre Kämpfe als Seitenbild des damaligen Turnier- und Kriegswesens alle mögliche Kennerschaft und poetische Hingebung erfordern und zugleich eine Glanzaufgabe des Rezitanten sind. Deshalb kommt es selbst bei Pulci zu keiner eigentlichen Parodie des Rittertums, wenn auch die komisch derbe Redeweise seiner Paladine oft daran streift. Daneben stellt er das Ideal der Rauflust, seinen dolligen und gutmütigen Morgante, der mit seinem Glockenschwengel ganze Armeen bändigt; ja er weiß auch diesen wiederum relativ zu verklären durch die Gegenüberstellung des absurden und dabei höchst merkwürdigen Monstrums Margutte. Ein besonderes Gewicht legt aber Pulci auf diese beiden derb und kräftig gezeichneten Charaktere keineswegs, und seine Geschichte geht auch, nachdem sie längst daraus verschwunden sind, ihren wunderlichen Gang weiter. Auch Bojardo steht ganz bewusst über seinen Gestalten und gebraucht sie nach Belieben ernst und komisch; selbst mit den dämonischen Wesen treibt er seinen Spaß und schildert sie bisweilen absichtlich als tölpelhaft. Es gibt aber eine künstlerische Aufgabe, mit welcher er es sich so sehr ernst sein lässt wie Pulci; nämlich die äußerst lebendige und, man möchte sagen, technisch genaue Schilderung aller Hergänge. Pulci rezitierte sein Gedicht, sobald wieder ein Gesang fertig war, vor der Gesellschaft des Lorenzo magnifico, und gleichermaßen Bojardo das seinige vor dem Hofe des Ercole von Ferrara; nun errät man leicht, auf was für Vorzüge hier geachtet wurde und wie wenig Dank die durchgeführten Charaktere geerntet haben würden. Natürlich bilden auch die Gedichte selbst bei so bewandten Umständen kein geschlossenes Ganzes und könnten halb oder auch doppelt so lang sein als sie sind; ihre Komposition ist nicht die eines großen Historienbildes, sondern die eines Frieses oder einer von bunten Gestalten umgaukelten prachtvollen Fruchtschnur. So wenig man in den Figuren und dem Rankenwerk eines Frieses durchgeführte individuelle Formen, tiefe Perspektiven und verschiedene Pläne fordert oder auch nur gestattet, so wenig erwartete man es in diesen Gedichten.
Die bunte Fülle der Erfindungen, durch welche besonders Bojardo stets von neuem überrascht, spottet aller unserer jetzt geltenden Schuldefinitionen vom Wesen der epischen Poesie. Für die damalige Zeit war es die angenehmste Diversion gegenüber der Beschäftigung mit dem Altertum, ja der einzig mögliche Ausweg, wenn man überhaupt wieder zu einer selbständigen erzählenden Dichtung gelangen sollte. Denn die Poetisierung der Geschichte des Altertums führte doch nur auf jene Irrpfade, welche Petrarca betrat mit seiner „Africa“ in lateinischen Hexametern und anderthalb Jahrhunderte später Trissino mit seinem „von den Goten befreiten Italien“ in versi sciolti, einem enormen Gedichte von tadelloser Sprache und Versifikation, wo man nur im Zweifel sein kann, ob die Geschichte oder die Poesie bei dem unglücklichen Bündnis übler weggekommen sei. Und wohin verlockte Dante diejenigen, die ihn nachahmten? Die visionären Trionfi des Petrarca sind eben noch das letzte,
was dabei mit Geschmack zu erreichen war, Boccaccios „Verliebte Vision“ ist schon wesentlich bloße Aufzählung historischer und fabelhafter Personen nach allegorischen Kategorien. Andere leiten dann, was sie irgend vorzubringen haben, mit einer barocken Nachahmung von Dantes erstem Gesang ein und versehen sich dabei mit irgend einem allegorischen Begleiter, der die Stelle des Virgil einnimmt; Uberti hat für sein geographisches Gedicht .(Dittamondo) den Solinus gewählt, Giovanni Santi für sein Lobgedicht auf Federigo von Urbino den Plutarch. Von diesen falschen Fährten erlöste einstweilen nur diejenige epische Dichtung, welche von Pulci und Bojar do vertreten war. Die Begierde und Bewunderung, mit der man ihr entgegenkam — wie man vielleicht bis an der Tage Abend mit dem Epos nicht mehr tun wird — beweist glänzend, wie sehr die Sache ein Bedürfnis war. Es handelt sich gar nicht darum, ob in diesen Schöpfungen die seit unserem Jahrhundert aus Homer und den Nibelungen abstrahierten Ideale des wahren Heldengedichtes verwirklicht seien oder nicht; ein Ideal ihrer Zeit verwirklichten sie jedenfalls. Mit ihren massenhaften Kampfbeschreibungen, die für uns der am meisten ermüdende Bestandteil sind, begegneten sie überdies, wie gesagt, einem Sachinteresse, von dem wir uns schwer eine richtige Vorstellung machen, so wenig als von der Hochschätzung des lebendigen momentanen Schilderns überhaupt.
So kann man denn auch an Ariosto keinen falscheren Maßstab legen als wenn man in seinem Orlando furioso nach Charakteren suchen geht. Sie sind hie und da vorhanden und sogar mit Liebe behandelt, allein das Gedicht stützt sich keinen Augenblick auf sie und würde durch ihre Hervorhebung sogar eher verlieren als gewinnen. Jene Anforderung hängt aber mit einem allgemeinerem Begehren zusammen, welchem Ariosto nicht im Sinne unserer Zeit genügt; von einem so gewaltig begabten und berühmten Dichter nämlich hätte man gerne überhaupt etwas anderes als Rolandsabenteuer u. dgl. Er hätte sollen in einem großen Werke die tiefsten Konflikte der Menschenbrust, die höchsten Anschauungen der Zeit über göttliche und menschliche Dinge, mit einem Worte: eines jener abschließenden Weltbilder darstellen wie die göttliche Komödie und der Faust sie bieten. Statt dessen verfährt er ganz wie die damaligen bildenden Künstler und wird unsterblich, indem er von der Originalität in unserem jetzigen Sinne abstrahiert, an einem bekannten Kreise von Gestalten weiterbildet und selbst das schon dagewesene Detail noch einmal benützt wo es ihm dient. Was für Vorzüge bei einem solchen Verfahren noch immer erreicht werden können, das wird Leuten ohne künstlerisches Naturell um so viel schwerer begreiflich zu machen sein, je gelehrter und geistreicher sie sonst sein mögen. Das Kunstziel des Ariosto ist das glanzvoll lebendige „Geschehen“, welches sich gleichmäßig durch das ganze große Gedicht verbreitet. Er bedarf dazu einer Dispensation nicht nur von der tieferen Charakterzeichnung, sondern auch von allem strengeren Zusammenhang der Geschichten. Er muss verlorene und vergessene Fäden wieder anknüpfen dürfen, wo es ihm beliebt; seine Figuren müssen kommen und verschwinden, nicht weil ihr tieferes persönliches Wesen, sondern weil das Gedicht es so verlangt. Freilich innerhalb dieser scheinbar irrationellen, willkürlichen Kompensationsweise entwickelt er eine völlig gesetzmäßige Schönheit. Er verliert sich nie ins Beschreiben, sondern gibt immer nur so viel Szenerie und Personenschilderung, als mit dem Vorwärtsrücken der Ereignisse harmonisch verschmolzen werden kann; noch weniger verliert er sich in Gespräche und Monologe, sondern er behauptet das majestätische Privilegium des wahren Epos, alles zu lebendigen Vorgängen zu gestalten. Das Pathos liegt bei ihm nie in den Worten, vollends nicht in dem berühmten dreiundzwanzigsten Gesang und den folgenden, wo Rolands Raserei geschildert wird. Dass die Liebesgeschichten im Heldengedicht keinen lyrischen Schmelz haben, ist ein Verdienst mehr, wenn man sie auch von moralischer Seite nicht immer gutheißen kann. Bisweilen besitzen sie dafür eine solche Wahrheit und Wirklichkeit trotz allem Zauber- und Ritterwesen, das sie umgibt, dass man darin unmittelbare Angelegenheiten des Dichters selbst zu erkennen glaubt. Im Vollgefühl seiner Meisterschaft hat er dann unbedenklich noch manches andere aus der Gegenwart in das große Werk verflochten und den Ruhm des Hauses Este in Gestalt von Erscheinungen und Weissagungen mit hineingenommen. Der wunderbare Strom seiner Ottaven trägt dieses alles in gleichmäßiger Bewegung vorwärts.
Mit Teofilo Folengo oder, wie er sich hier nennt, Limerno Pitocco tritt dann die Parodie des ganzen Ritterwesens in ihr längst ersehntes Recht, zudem aber meldet sich mit der Komik und ihrem Realismus notwendig auch das strengere Charakterisieren wieder. Unter den Püffen und Steinwürfen der wilden Gassenjugend eines römischen Landstädtchens, Sutri, wächst der kleine Orlando sichtbarlich zum mutigen Helden, Mönchsfeind und Raisonneur auf. Die konventionelle Phantasiewelt, wie sie sich seit Pulci ausgebildet und als Rahmen des Epos gegolten hatte, springt hier freilich in Splitter auseinander; Herkunft und Wesen der Paladine werden offen verhöhnt, z. B. durch jenes Eselturnier im zweiten Gesänge, wobei die Ritter mit den sonderbarsten Rüstungen und Waffen erscheinen. Der Dichter zeigt bisweilen ein komisches Bedauern über die unerklärliche Treulosigkeit, die in der Familie des Gano von Mainz zu Hause gewesen, über die mühselige Erlangung des Schwertes Durindana u. dgl., ja das Überlieferte dient ihm überhaupt nur noch als Substrat für lächerliche Einfälle, Episoden, Tendenz ausbrüche (worunter sehr schöne, z. B. der Schluss von Kap. VI) und Zoten. Neben alldem ist endlich noch ein gewisser Spott auf Ariosto nicht zu verkennen, und es war wohl für den Orlando furioso ein Glück, dass der Orlandino mit seinen lutherischen Ketzereien ziemlich bald der Inquisition und der künstlichen Vergessenheit anheimfiel. Eine kenntliche Periode scheint z. B. durch, wenn (Kap. VI, Str. 28) das Haus Gonzaga von dem Paladin Guidone ab geleitet wird, sintemal von Orlando die Colonnesen, von Rinaldo die Orslnen und von Ruggieri — laut Ariost — die Estenser abstammen sollten. Vielleicht war Ferrante Gonzaga, der Patron des Dichters, dieser Anzüglichkeit gegen das Haus Este nicht fremd.
Dass endlich in der Gerusalemme liberata des Torquato Tasso die Charakteristik eine der höchsten Angelegenheiten des Dichters ist, beweist allein schon, wie weit seine Denkweise von der um ein halbes Jahrhundert früher herrschenden abweicht. Sein bewunderungswürdiges Werk ist wesentlich ein Denkmal der inzwischen vollzogenen Gegenreformation und ihrer Tendenz.
Wenn man aus der ganzen abendländischen Hof- und Ritterdichtung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte die Perlen zusammensucht, so wird eine Summe von herrlichen Ahnungen und Einzelbildern von Seelenbewegungen zum Vorschein kommen, welche den Italienern auf den ersten Blick den Preis streitig zu machen scheint. Selbst abgesehen von der ganzen Lyrik gibt schon der einzige Gottfried von Straßburg mit „Tristan und Isolde“ ein Bild der Leidenschaft, welches unvergängliche Züge hat. Allein diese Perlen liegen zerstreut in einem Meere des Konventionellen und Künstlichen, und ihr Inhalt bleibt noch immer weit entfernt von einer vollständigen Objektivmachung des inneren Menschen und seines geistigen Reichtums.
Auch Italien hatte damals, im XIII. Jahrhundert, seinen Anteil an der Hof- und Ritterdichtung durch seine Trovatoren. Von ihnen stammt wesentlich die Kanzone her, die sie so künstlich und schwierig bauen als irgendein nordischer Minnesänger sein Lied; Inhalt und Gedankengang sogar ist der konventionell höfische, mag der Dichter auch bürgerlichen oder gelehrten Standes sein.
Aber schon offenbaren sich zwei Auswege, die auf eine neue, der italienischen Poesie eigene Zukunft hindeuten und die man nicht für unwichtig halten darf, wenn es sich schon nur um Formelles handelt.
Von demselben Brunetto Latini (dem Lehrer des Dante), welcher in der Kanzonendichtung die gewöhnliche Manier der Trovatoren vertritt, stammen die frühesten bekannten Versi sciolti, reimlose Hendekasyllaben her, und in dieser scheinbaren Formlosigkeit äußert sich auf einmal eine wahre, erlebte Leidenschaft. Es ist eine ähnliche bewusste Beschränkung der äußeren Mittel im Vertrauen auf die Kraft des Inhaltes, wie sie sich einige Jahrzehnte später in der Frescomalerei und noch später sogar in der Tafelmalerei zeigt, indem auf die Farben verzichtet und bloß in einem helleren oder dunkleren Ton gemalt wird. Für jene Zeit, welche sonst auf das Künstliche in der Poesie so große Stücke hielt, sind diese Verse des Brunetto der Anfang einer neuen Richtung.
Daneben aber, ja noch in der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts, bildet sich eine von den vielen strenggemessenen Strophenformen, die das Abendland damals hervorbrachte, für Italien zu einer herrschenden Durchschnittsform aus: das Sonett. Die Reimstellung und sogar die Zahl der Verse schwankt noch hundert Jahre lang, bis Petrarca die bleibende Normalgestalt durchsetzte. In diese Form wird anfangs jeder höhere lyrische und kontemplative, später jeder mögliche Inhalt gegossen, so dass Madrigale, Sestinen und selbst die Kanzonen daneben nur eine untergeordnete Stelle einnehmen. Spätere Italiener haben selber bald scherzend, bald missmutig geklagt über diese unvermeidliche Schablone, dieses vierzehnzeilige Procrustesbett der Gefühle und Gedanken. Andere waren und sind gerade mit dieser Form sehr zufrieden und brauchen sie viel tausendmal, um darin Reminiszenzen und müßigen Singsang ohne allen tieferen Ernst und ohne Notwendigkeit niederzulegen. Deshalb gibt es sehr viel mehr unbedeutende und schlechte Sonette als gute.
Nichtsdestoweniger erscheint uns das Sonett als ein ungeheurer Segen für die italienische Poesie. Die Klarheit und Schönheit seines Baues, die Aufforderung zur Steigerung des Inhaltes in der lebhafter gegliederten zweiten Hälfte, dann die Leichtigkeit des Auswendiglernens, mussten es auch den größten Meistern immer von neuem lieb und wert machen. Oder meint man im Ernst, dieselben hätten es bis auf unser Jahrhundert beibehalten, wenn sie nicht von seinem hohen Werte wären durchdrungen gewesen? Nun hätten allerdings diese Werte ersten Ranges auch in anderen Formen der verschiedensten Art dieselbe Macht äußern können. Allein weil sie das Sonett zur lyrischen Hauptform erhoben, wurden auch sehr viele andere von hoher, wenn auch nur bedingter Begabung, die sonst in einer weitläufigen Lyrik untergegangen wären, genötigt, ihre Empfindungen zu konzentrieren. Das Sonett wurde ein allgemeingültiger Kondensator der Gedanken und Empfindungen wie ihn die Poesie keines anderen modernen Volkes besitzt.
So tritt uns nun die italienische Gefühlswelt in einer Menge von höchst entschiedenen, gedrängten und in ihrer Kürze höchst wirksamen Bildern entgegen. Hätten andere Völker eine konventionelle Form von dieser Gattung besessen, so wüssten wir vielleicht auch mehr von ihrem Seelenleben; wir besäßen möglicherweise auch eine Reihe abgeschlossener Darstellungen äußerer und innerer Situationen oder Spiegelbilder des Gemütes und wären nicht auf eine vorgebliche Lyrik des XIV. und XV. Jahrhunderts verwiesen, die fast nirgends ernstlich genießbar ist. Bei den Italienern erkennt man einen sicheren Fortschritt fast von der Geburt des Sonetts an; in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts bilden die neuerlich so benannten „Trovatori della transizione“ in der Tat einen Übergang von den Trovatoren zu den Poeten, d. h. zu den Dichtern unter antikem Einfluss; die einfache, starke Empfindung, die kräftige Bezeichnung der Situation, der präzise Ausdruck und Abschluß in ihren Sonetten u. a. Gedichten kündet zum voraus einen Dante an. Einige Parteisonette der Guelfen und Ghibellinen (1260 — 1270) tönen schon in der Art wie seine Leidenschaft, anderes erinnert an das Süßeste in seiner Lyrik.
Wie er selbst das Sonett theoretisch ansah, wissen wir nur deshalb nicht, weil die letzten Bücher seiner Schrift „Von der Vulgärsprache“, worin er von Balladen und Sonetten handeln wollte, entweder ungeschrieben geblieben oder verlorengegangen sind. Praktisch aber hat er in Sonett und Kanzone die herrlichsten Seelenschilderungen niedergelegt. Und in welchen Rahmen sind sie eingefasst! Die Prosa seiner „Vita nuova“, worin er Rechenschaft gibt von dem Anlass jedes Gedichtes, ist so wunderbar als die Verse selbst und bildet mit denselben ein gleichmäßig von der tiefsten Glut beseeltes Ganzes. Rücksichtslos gegen die Seele selbst konstatiert er alle Schattierungen ihrer Wonne und ihres Leides und prägt dann dies alles mit fester Willenskraft in der strengsten Kunstform aus. Wenn man diese Sonette und Kanzonen und dazwischen diese wundersamen Bruchstücke des Tagebuches seiner Jugend aufmerksam liest, so scheint es, als ob das ganze Mittelalter hindurch alle Dichter sich selber gemieden, er zuerst sich selber aufgesucht hätte. Künstliche Strophen haben Unzählige vor ihm gebaut; aber er zuerst ist in vollem Sinne ein Künstler, weil er mit Bewusstsein unvergänglichen Inhalt in eine unvergängliche Form bildet. Hier ist subjektive Lyrik von völlig objektiver Wahrheit und Größe; das meiste so durchgearbeitet, dass alle Völker und Jahrhunderte es sich aneignen und nachempfinden können. Wo er aber völlig objektiv dichtet und die Macht seines Gefühles nur durch einen außer ihm liegenden Tatbestand erraten lässt, wie in den grandiosen Sonetten Tanto gentile usw. und Vede perfettamente usw., glaubt er noch sich entschuldigen zu müssen. Im Grunde gehört auch das allerschönste dieser Gedichte hierher: das Sonett Deh peregrini che pensosi andate usw.
Auch ohne die Divina Commedia wäre Dante durch diese bloße Jugendgeschichte ein Markstein zwischen Mittelalter und neuer Zeit. Geist und Seele tun hier plötzlich einen gewaltigen Schritt zur Erkenntnis ihres geheimsten Lebens.
Was hierauf die Commedia an solchen Offenbarungen enthält, ist vollends unermesslich, und wir müßten das ganze große Gedicht, einen Gesang nach dem anderen, durchgehen, um seinen vollen Wert in dieser Beziehung darzulegen. Glücklicherweise bedarf es dessen nicht, da die Commedia längst eine tägliche Speise aller abendländischen Völker geworden ist. Ihre Anlage und Grundidee gehört dem Mittelalter und spricht unser Bewusstsein nur historisch an; ein Anfang aller modernen Poesie aber ist das Gedicht wesentlich wegen des Reichtums und der hohen plastischen Macht in der Schilderung des Geistigen auf jeder Stufe und in jeder Wandlung.
Fortan mag diese Poesie ihre schwankenden Schicksale haben und auf halbe Jahrhunderte einen sogenannten Rückgang zeigen — ihr höheres Lebensprinzip ist auf immer gerettet, und wo im XIV., XV. und beginnenden XVI. Jahrhundert ein tiefer, originaler Geist in Italien sich ihr hingibt, stellt er von selbst eine wesentlich höhere Potenz dar als irgendein außeritalischer Dichter, wenn man Gleichheit der Begabung — freilich eine schwer zu ermittelnde Sache — voraussetzt.
Wie in allen Dingen bei den Italienern die Bildung (wozu die Poesie gehört) der bildenden Kunst vorangeht, ja dieselbe erst wesentlich anregen hilft, so auch hier. Es dauert mehr als ein Jahrhundert, bis das Geistig-Bewegte, das Seelenleben in Skulptur und Malerei einen Ausdruck erreicht, welcher demjenigen bei Dante nur irgendwie analog ist. Wie viel oder wie wenig dies von der Kunstentwicklung anderer Völker gilt, und wie weit die Frage im ganzen von Werte ist, kümmert uns hier wenig. Für die italienische Kultur hat sie ein entscheidendes Gewicht.
Was Petrarca in dieser Beziehung gelten soll, mögen die Leser des vielverbreiteten Dichters entscheiden. Wer ihm mit der Absicht eines Verhörrichters naht und die Widersprüche zwischen dem Menschen und dem Dichter, die erwiesenen Nebenliebschaften und andere schwache Seiten recht emsig aufspürt, der kann in der Tat bei einiger Anstrengung die Lust an seinen Sonetten gänzlich verlieren. Man hat dann statt eines poetischen Genusses die Kenntnis des Mannes in seiner „Totalität“. Nur schade, dass Petrarcas Briefe so wenig avignonesischen Klatsch enthalten, woran man ihn fassen könnte, und dass die Korrespondenzen seiner Bekannten und der Freunde dieser Bekannten entweder verlorengegangen sind oder gar nie existiert haben. Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus seiner Umgebung und seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat man gleich wohl auch für Petrarca aus den wenigen „Reliquien“ solcher Art eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einem Anklageakt ähnlich sieht. Übrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland und England noch fünfzig Jahre so fort geht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten.
Ohne das viele Künstliche und Gesuchte zu verkennen, wo Petrarca sich selber nachahmt und in seiner eigenen Manier weiterdichtet, bewundern wir in ihm eine Fülle herrlicher Seelenbilder, Schilderungen seliger und unseliger Momente, die ihm wohl eigen sein müssen, weil kein anderer vor ihm sie aufweist, und welche seinen eigentlichen Wert für die Nation und die Welt ausmachen. Nicht überall ist der Ausdruck gleichmäßig durchsichtig; nicht selten gesellt sich dem Schönsten etwas für uns Fremdartiges bei, allegorisches Spielwerk und spitzfindige Sophistik; allein das Vorzügliche überwiegt.
Auch Boccaccio erreicht in seinen zu wenig beachteten Sonetten eine bisweilen höchst ergreifende Darstellung seines Gefühles. Der Wiederbesuch einer durch Liebe geweihten Stätte (Son. 22), die Frühlingsmelancholie (Son. 33), die Wehmut des alternden Dichters (Son. 65) sind von ihm ganz herrlich besungen. Sodann hat er im Ameto die veredelnde und verklärende Kraft der Liebe in einer Weise geschildert, wie man es von dem Verfasser des Decamerone schwerlich erwarten würde. Endlich aber ist seine „Fiammetta“ ein großes, umständliches Seelengemälde, voll der tiefsten Beobachtung, wenn auch nichts weniger als gleichmäßig durchgeführt, ja stellenweise unleugbar beherrscht von der Lust an der prachtvoll tönenden Phrase; auch Mythologie und Altertum mischen sich bisweilen unglücklich ein. Wenn wir nicht irren, so ist die Fiammetta ein weibliches Seitenstück zur Vita nuova des Dante, oder doch auf Anregung von dieser Seite her entstanden.
Dass die antiken Dichter, zumal die Elegiker und das vierte Buch der Aeneide, nicht ohne Einfluss auf diese und die folgenden Italiener blieben, versteht sich von selbst, aber die Quelle des Gefühls sprudelt mächtig genug in ihrem Innern. Wer sie nach dieser Seite hin mit ihren außeritalienischen Zeitgenossen vergleicht, wird in ihnen den frühesten vollständigen Ausdruck der modernen europäischen Gefühlswelt überhaupt erkennen. Es handelt sich hier durchaus nicht darum, zu wissen, ob ausgezeichnete Menschen anderer Nationen nicht ebenso tief und schön empfunden haben, sondern wer zuerst die reiche Kenntnis der Seelenregungen urkundlich erwiesen hat.
Warum haben aber die Italiener der Renaissance in der Tragödie nur Untergeordnetes geleistet? Dort war die Stelle, Charakter, Geist und Leidenschaft tausendgestaltig im Wachsen, Kämpfen und Unterliegen der Menschen zur Anschauung zu bringen. Mit anderen Worten: warum hat Italien keinen Shakespeare hervorgebracht? — Denn dem übrigen nordischen Theater des XVI., XVII. Jahrhunderts möchten die Italiener wohl gewachsen sein, und mit dem spanischen konnten sie nicht konkurrieren, weil sie keinen religiösen Fanatismus empfanden, den abstrakten Ehrenpunkt nur pro forma mitmachten und ihr tyrannisches, illegitimes Fürstentum als solches anzubeten und zu verklären zu klug und zu stolz waren. Es handelt sich also einzig nur um die kurze Blütezeit des englischen Theaters.
Hierauf ließe sich erwidern, dass das ganze übrige Europa auch nur einen Shakespeare hervorgebracht hat und dass ein solcher Genius überhaupt ein seltenes Geschenk des Himmels ist. Ferner könnte möglicherweise eine hohe Blüte des italienischen Theaters im Anzüge gewesen sein, als die Gegenreformation hereinbrach und im Zusammenhang mit der spanischen Herrschaft (über Neapel und Mailand und indirekt fast über ganz Italien) die besten Blüten des italienischen Geistes knickte oder verdorren ließ. Man denke sich nur Shakespeare selber z. B. unter einem spanischen Vizekönig oder in der Nähe des heiligen Officiums zu Rom,, oder nur in seinem eigenen Lande ein paar Jahrzehnte später, zur Zeit der englischen Revolution. Das Drama, in seiner Vollkommenheit ein spätes Kind jeder Kultur, will seine Zeit und sein besonderes Glück haben.
Bei diesem Anlass müssen wir jedoch einiger Umstände gedenken, welche allerdings geeignet waren, eine höhere Blüte des Dramas in Italien zu erschweren oder zu verzögern, bis es zu spät war.
Als den wichtigsten dieser Umstände darf man ohne Zweifel die große anderweitige Beschäftigung der Schaulust bezeichnen, zunächst vermöge der Mysterien u. a. religiösen.
Aufzüge. Im ganzen Abendlande sind Aufführungen der dramatisierten heiligen Geschichte und Legende gerade Quelle und Anfang des Dramas und des Theaters gewesen; Italien aber hatte sich, wie im folgenden Abschnitt erörtert werden soll, den Mysterien mit einem solchen künstlerisch dekorativen Prachtsinn hingegeben, dass darunter notwendig das dramatische Element in Nachteil geraten musste. Aus all den unzähligen kostbaren Aufführungen entwickelte sich dann nicht einmal eine poetische Kunstgattung wie die „Autos sagramentales“ bei Calderon u. a. spanischen Dichtern, geschweige denn ein Vorteil oder Anhalt für das profane Drama.
Als letzteres dennoch emporkam, nahm es sofort nach Kräften an der Pracht der Ausstattung teil, an welche man eben von den Mysterien her nur allzusehr gewöhnt war. Man erfährt mit Staunen, wie reich und bunt die Dekoration der Szene in Italien war, zu einer Zeit, da man sich im Norden noch mit der einfachsten Andeutung der Örtlichkeit begnügte. Allein selbst dies wäre vielleicht noch von keinem entscheidenden Gewichte gewesen, wenn nicht die Aufführung selbst teils durch Pracht der Kostüme, teils und hauptsächlich durch bunte Intermezzi den Sinn von dem poetischen Gehalt des Stückes abgelenkt hätte.
Dass man an vielen Orten, namentlich in Rom und Ferrara, Plautus und Terenz, auch wohl Stücke alter Tragiker aufführte, bald lateinisch, bald italienisch, dass jene Akademien sich eine förmliche Aufgabe hieraus machten, und dass die Dichter der Renaissance selbst in ihren Dramen von diesen Vorbildern mehr als billig abhingen, gereichte dem italienischen Drama für die betreffenden Jahrzehnte allerdings auch zum Nachteil, doch halte ich diesen Umstand für untergeordnet. Wäre nicht Gegenreformation und Fremdherrschaft dazwischen gekommen, so hätte sich jener Nachteil gar wohl in eine nützliche Übergangsstufe verwandeln können. War doch schon bald nach 1520 wenigstens der Sieg der Muttersprache in Tragödie und Komödie zum großen Verdruss der Humanisten so viel als entschieden. Von dieser Seite hätte der entwickeltsten Nation Europas kein Hindernis mehr im Wege gestanden, wenn es sich darum handelte, das Drama im höchsten Sinne des Wortes zu einem geistigen Abbild des Menschenlebens zu erheben. Inquisitoren und Spanier waren es, welche die Italiener verschüchterten und die dramatische Schilderung der wahrsten und größten Konflikte, zumal im Gewände nationaler Erinnerungen, unmöglich machten. Daneben aber müssen wir doch auch jene zerstreuenden Intermezzi als einen wahren Schaden des Dramas näher ins Auge fassen.
Als die Hochzeit des Prinzen Alfonso von Ferrara mit Lucrezia Borgia gefeiert wurde, zeigte der Herzog Ercole in Person den erlauchten Gästen die 110 Kostüme, welche zur Aufführung von fünf plautinischen Komödien dienen sollten, damit man sehe, dass keines zweimal diene. Aber was wollte dieser Luxus von Taffet und Kamelot sagen im Vergleich mit der Ausstattung der Ballette und Pantomimen, welche als Zwischenakte der plautinischen Stücke aufgeführt wurden. Dass Plautus daneben einer lebhaften jungen Dame wie Isabella Gonzaga schmerzlich langweilig vorkam und dass jedermann sich während des Dramas nach den Zwischenakten sehnte, ist begreiflich, sobald man den bunten Glanz derselben in Betracht zieht. Da gab es Kämpfe römischer Krieger, welche ihre Waffen kunstgerecht zum Takte der Musik bewegten, Fackeltänze von Mohren, einen Tanz von wilden Männern mit Füllhörnern, aus welchen flüssiges Feuer sprühte; sie bildeten das Ballett zu einer Pantomime, welche die Rettung eines Mädchens von einem Drachen darstellte. Dann tanzten Narren in Pulcinelltracht und schlugen einander mit Schweinsblasen, u. dgl. m. Es war eine zugestandene Sache am Hofe von Ferrara, dass jede Komödie „ihr“ Ballett (moresca) habe. Wie man sich vollends die Aufführung des plautinischen Amphitruo daselbst (1491, bei Alfonsos erster Vermählung mit Anna Sforza) zu denken habe, ob vielleicht schon mehr als Pantomime mit Musik, denn als Drama, bleibt zweifelhaft. Das Eingelegte überwog jedenfalls das Stück selber; da sah man, von einem rauschenden Orchester begleitet, einen Chortanz von Jünglingen in Epheu gehüllt, in künstlich verschlungenen Figuren; dann erschien Apoll, schlug die Lyra mit dem Piektrum und sang dazu ein Preislied auf das Haus Este; zunächst folgte, gleichsam als Intermezzo im Intermezzo, eine bäuerische Genreszene oder Posse, worauf wieder die Mythologie mit Venus, Bacchus und ihrem Gefolge die Szene in Beschlag nahm und eine Pantomime — Paris auf dem Ida — vorging. Nun erst kam die zweite Hälfte der Fabel des Amphitruo, mit deutlicher Anspielung auf die künftige Geburt eines Herkules aus dem Hause Este. Bei einer früheren Aufführung desselben Stückes im Hof des Palastes (1487) brannte fortwährend „ein Paradies mit Sternen und anderen Rädern“, d.h. eine Illumination vielleicht mit Feuerwerk, welche gewiss die beste Aufmerksamkeit absorbierte. Offenbar war es besser, wenn dergleichen Zutaten für sich als eigene Darstellungen auftraten, wie etwa an anderen Höfen geschah. Von den festlichen Aufführungen beim Kardinal Pietro Riario, bei den Bentivogli zu Bologna usw. wird deshalb bei Anlass der Feste zu handeln sein.
Für die italienische Originaltragödie war die nun einmal gebräuchliche Pracht der Ausstattung wohl ganz besonders verhängnisvoll. „Man hat früher in Venedig“, schreibt Francesco Sansovino um 1570, „oft außer den Komödien auch Tragödien von antiken und modernen Dichtern mit großem Pomp aufgeführt. Um des Ruhmes der Ausstattung (apparati) willen strömten Zuschauer von fern und nah dazu herbei. Heutzutage jedoch finden Festlichkeiten, die von Privatleuten veranstaltet werden, zwischen vier Mauern statt und seit einiger Zeit hat sich von selbst der Gebrauch so festgesetzt, dass die Karnevalszeit mit Komödien und anderen heiteren und schätzbaren Vergnügungen hingebracht wird.“ D. h. der Pomp hat die Tragödie töten helfen.
Die einzelnen Anläufe und Versuche dieser modernen Tragiker, worunter die Sofonisba des Trissino (1515) den größten Ruhm gewann, gehören in die Literaturgeschichte. Und auch von der vornehmeren, dem Plautus und Terenz nachgebildeten Komödie lässt sich dasselbe sagen. Selbst ein Ariost konnte in dieser Gattung nichts Ausgezeichnetes leisten. Dagegen hätte die populäre Komödie in Prosa, wie sie Macchiavelli, Bibiena, Aretino behandelten, gar wohl eine Zukunft haben können, wenn sie nicht um ihres Inhaltes willen dem Untergang verfallen gewesen wäre. Dieser war nämlich einstweilen teils äußerst unsittlich, teils gegen einzelne Stände gerichtet, welche sich seit etwa 1540 nicht mehr eine so öffentliche Feindschaft bieten ließen. Wenn in der Sofonisba die Charakteristik vor einer glanzvollen Deklamation hatte weichen müssen, so war sie hier, nebst ihrer Stiefschwester, der Karikatur, nur zu rücksichtslos gehandhabt gewesen.
Nun dauert das Dichten von Tragödien und Komödien unaufhörlich fort, und auch an zahlreichen wirklichen Aufführungen antiker und moderner Stücke fehlt es fortwährend nicht; allein man nimmt davon nur Anlass und Gelegenheit, um bei Festen die standesmäßige Pracht zu entwickeln, und der Genius der Nation hat sich davon als von einer lebendigen Gattung völlig abgewandt. Sobald Schäferspiel und Oper auftraten, konnte man jene Versuche vollends entbehren.
National war und blieb nun nur eine Gattung: die ungeschriebene Commedia dell’ Arte, welche nach einem vorliegenden Szenarium improvisiert wurde. Sie kommt der höheren Charakteristik deshalb nicht sonderlich zugute, weil sie wenige und feststehende Masken hat, deren Charakter jedermann auswendig weiß. Die Begabung der Nation aber neigte so sehr nach dieser Gattung hin, dass man auch mitten in den Aufführungen geschriebener Komödien sich der eigenen Improvisation überließ, so dass eine förmliche Mischgattung sich hie und da geltend machen konnte. In dieser Weise mögen die Komödien gehalten gewesen sein, welche in Venedig Burchiello und dann die Gesellschaft des Armonio, Val. Zuccato, Lod. Dolce usw. aufführte; von Burchiello erfährt man bereits, dass er die Komik durch einen mit Griechisch und Slavonisch versetzten venezianischen Dialekt zu steigern wusste. Eine fast oder ganz vollständige Commedia dell’ Arte war dann die des Angelo Beolco, genannt il Ruzzante (1502 — 1542), dessen stehende Masken paduanische Bauern (Menato, Vezzo, Billora u.a.) sind; ihren Dialekt pflegte er zu studieren, wenn er auf der Villa seines Gönners Luigi Cornaro zu Codevico den Sommer zubrachte. Allmählich tauchen dann alle die berühmten Lokalmasken auf, an deren Überresten Italien sich noch heute ergötzt: Pantalone, der Dottore, Brighella, Pulcinella, Arlecchino usw. Sie sind gewiss größtenteils sehr viel älter, ja möglicherweise im Zusammenhang mit den Masken altrömischer Farcen, allein erst das XVI. Jahrhundert vereinigte mehrere von ihnen in einem Stücke. Gegenwärtig geschieht dies nicht mehr leicht, aber jede große Stadt hält wenigstens ihre Lokalmaske fest: Neapel seinen Pulcinella, Florenz den Stenterello, Mailand den bisweilen herrlichen Meneking.
Ein dürftiger Ersatz freilich für eine große Nation, welche vielleicht vor allen die Gabe gehabt hätte, ihr Höchstes im Spiegel des Dramas objektiv zu schildern und anzuschauen. Aber dies sollte ihr auf Jahrhunderte verwehrt bleiben durch feindselige Mächte, an deren Aufkommen sie nur zum Teil schuld war. Nicht auszurotten war freilich das allverbreitete Talent der dramatischen Darstellung und mit der Musik hat Italien vollends Europa zinspflichtig gehalten. Wer in dieser Tonwelt einen Ersatz oder einen verhüllten Ausdruck für das verwehrte Drama erkennen will, mag sich damit nach Gefallen trösten.
Was das Drama nicht geleistet hatte, darf man es etwa vom Epos erwarten? Gerade das italienische Heldengedicht wird scharf darob angeklagt, dass die Haltung und Durchführung der Charaktere seine aller schwächste Seite sei.
Andere Vorzüge sind ihm nicht abzustreiten, u. a. der, dass es seit viereinhalb Jahrhunderten wirklich gelesen und immer von neuem abgedruckt wird, während fast die ganze epische Poesie der übrigen Völker zur bloßen literaturgeschichtlichen Kuriosität geworden ist. Oder liegt es etwa an den Lesern, die etwas anderes verlangen und anerkennen als im Norden ? Wenigstens gehört für uns schon eine teilweise Aneignung des italienischen Gesichtskreises dazu, um diesen Dichtungen ihren eigentümlichen Wert abzugewinnen, und es gibt sehr ausgezeichnete Menschen, welche erklären, nichts damit anfangen zu können. Freilich wer Pulci, Bojardo, Ariosto und Berni auf den reinen sogenannten Gedankengehalt hin analysiert, der muss dabei zu kurz kommen. Sie sind Künstler der eigensten Art, welche für ein entschieden und vorherrschend künstlerisches Volk dichten.
Die mittelalterlichen Sagenkreise hatten nach dem allmählichen Erlöschen der Ritterdichtung teils in Gestalt von gereimten Umarbeitungen und Sammlungen, teils als Prosaromane weitergelebt. Letzteres war in Italien während des XIV. Jahrhunderts der Fall; doch wuchsen die neu erwachenden Erinnerungen des Altertums riesengroß daneben empor und stellten alle Phantasiebilder des Mittelalters in tiefen Schatten. Boccaccio z. B. in seiner Visione amorosa nennt zwar unter den in seinem Zauberpalast dargestellten Heroen auch einen Tristan, Artus, Galeotto usw. mit, aber ganz kurz, als schämte er sich ihrer, und die folgenden Schriftsteller aller Art nennen sie entweder gar nicht mehr oder nur im Scherz. Das Volk jedoch behielt sie im Gedächtnis, und aus seinen Händen gingen sie dann wieder an die Dichter des XV. Jahrhunderts über. Dieselben konnten ihren Stoff nun ganz neu und frei empfinden und darstellen; sie taten aber noch mehr, indem sie unmittelbar daran weiter dichteten, ja sogar bei weitem das meiste neu erfanden. Eines muss man nicht von ihnen verlangen: dass sie einen so überkommenen Stoff hätten mit einem vorweltlichen Respekt behandeln sollen. Das ganze neuere Europa darf sie darum beneiden, dass sie noch an die Teilnahme ihres Volkes für eine bestimmte Phantasiewelt anknüpfen konnten, aber sie hätten Heuchler sein müssen, wenn sie dieselbe als Mythus verehrt hätten.
Statt dessen bewegen sie sich auf dem neu für die Kunstpoesie gewonnenen Gebiete als Souveräne. Ihr Hauptziel scheint die möglichst schöne und muntere Wirkung des einzelnen Gesanges beim Rezitieren gewesen zu sein, wie denn auch diese Gedichte außerordentlich gewinnen, wenn man sie stückweise und vortrefflich, mit einem leisen Anflug von Komik in Stimme und Gebärde hersagen hört. Eine tiefere, durchgeführte Charakterzeichnung hätte zur Erhöhung dieses Effektes nicht sonderlich beigetragen; der Leser mag sie verlangen, der Hörer denkt nicht daran, da er immer nur ein Stück hört und zuletzt nur den Rhapsoden vor sich sieht. In betreff der vorgeschriebenen Figuren ist die Stimmung des Dichters eine doppelte: seine humanistische Bildung protestiert gegen das mittelalterliche Wesen derselben, während doch ihre Kämpfe als Seitenbild des damaligen Turnier- und Kriegswesens alle mögliche Kennerschaft und poetische Hingebung erfordern und zugleich eine Glanzaufgabe des Rezitanten sind. Deshalb kommt es selbst bei Pulci zu keiner eigentlichen Parodie des Rittertums, wenn auch die komisch derbe Redeweise seiner Paladine oft daran streift. Daneben stellt er das Ideal der Rauflust, seinen dolligen und gutmütigen Morgante, der mit seinem Glockenschwengel ganze Armeen bändigt; ja er weiß auch diesen wiederum relativ zu verklären durch die Gegenüberstellung des absurden und dabei höchst merkwürdigen Monstrums Margutte. Ein besonderes Gewicht legt aber Pulci auf diese beiden derb und kräftig gezeichneten Charaktere keineswegs, und seine Geschichte geht auch, nachdem sie längst daraus verschwunden sind, ihren wunderlichen Gang weiter. Auch Bojardo steht ganz bewusst über seinen Gestalten und gebraucht sie nach Belieben ernst und komisch; selbst mit den dämonischen Wesen treibt er seinen Spaß und schildert sie bisweilen absichtlich als tölpelhaft. Es gibt aber eine künstlerische Aufgabe, mit welcher er es sich so sehr ernst sein lässt wie Pulci; nämlich die äußerst lebendige und, man möchte sagen, technisch genaue Schilderung aller Hergänge. Pulci rezitierte sein Gedicht, sobald wieder ein Gesang fertig war, vor der Gesellschaft des Lorenzo magnifico, und gleichermaßen Bojardo das seinige vor dem Hofe des Ercole von Ferrara; nun errät man leicht, auf was für Vorzüge hier geachtet wurde und wie wenig Dank die durchgeführten Charaktere geerntet haben würden. Natürlich bilden auch die Gedichte selbst bei so bewandten Umständen kein geschlossenes Ganzes und könnten halb oder auch doppelt so lang sein als sie sind; ihre Komposition ist nicht die eines großen Historienbildes, sondern die eines Frieses oder einer von bunten Gestalten umgaukelten prachtvollen Fruchtschnur. So wenig man in den Figuren und dem Rankenwerk eines Frieses durchgeführte individuelle Formen, tiefe Perspektiven und verschiedene Pläne fordert oder auch nur gestattet, so wenig erwartete man es in diesen Gedichten.
Die bunte Fülle der Erfindungen, durch welche besonders Bojardo stets von neuem überrascht, spottet aller unserer jetzt geltenden Schuldefinitionen vom Wesen der epischen Poesie. Für die damalige Zeit war es die angenehmste Diversion gegenüber der Beschäftigung mit dem Altertum, ja der einzig mögliche Ausweg, wenn man überhaupt wieder zu einer selbständigen erzählenden Dichtung gelangen sollte. Denn die Poetisierung der Geschichte des Altertums führte doch nur auf jene Irrpfade, welche Petrarca betrat mit seiner „Africa“ in lateinischen Hexametern und anderthalb Jahrhunderte später Trissino mit seinem „von den Goten befreiten Italien“ in versi sciolti, einem enormen Gedichte von tadelloser Sprache und Versifikation, wo man nur im Zweifel sein kann, ob die Geschichte oder die Poesie bei dem unglücklichen Bündnis übler weggekommen sei. Und wohin verlockte Dante diejenigen, die ihn nachahmten? Die visionären Trionfi des Petrarca sind eben noch das letzte,
was dabei mit Geschmack zu erreichen war, Boccaccios „Verliebte Vision“ ist schon wesentlich bloße Aufzählung historischer und fabelhafter Personen nach allegorischen Kategorien. Andere leiten dann, was sie irgend vorzubringen haben, mit einer barocken Nachahmung von Dantes erstem Gesang ein und versehen sich dabei mit irgend einem allegorischen Begleiter, der die Stelle des Virgil einnimmt; Uberti hat für sein geographisches Gedicht .(Dittamondo) den Solinus gewählt, Giovanni Santi für sein Lobgedicht auf Federigo von Urbino den Plutarch. Von diesen falschen Fährten erlöste einstweilen nur diejenige epische Dichtung, welche von Pulci und Bojar do vertreten war. Die Begierde und Bewunderung, mit der man ihr entgegenkam — wie man vielleicht bis an der Tage Abend mit dem Epos nicht mehr tun wird — beweist glänzend, wie sehr die Sache ein Bedürfnis war. Es handelt sich gar nicht darum, ob in diesen Schöpfungen die seit unserem Jahrhundert aus Homer und den Nibelungen abstrahierten Ideale des wahren Heldengedichtes verwirklicht seien oder nicht; ein Ideal ihrer Zeit verwirklichten sie jedenfalls. Mit ihren massenhaften Kampfbeschreibungen, die für uns der am meisten ermüdende Bestandteil sind, begegneten sie überdies, wie gesagt, einem Sachinteresse, von dem wir uns schwer eine richtige Vorstellung machen, so wenig als von der Hochschätzung des lebendigen momentanen Schilderns überhaupt.
So kann man denn auch an Ariosto keinen falscheren Maßstab legen als wenn man in seinem Orlando furioso nach Charakteren suchen geht. Sie sind hie und da vorhanden und sogar mit Liebe behandelt, allein das Gedicht stützt sich keinen Augenblick auf sie und würde durch ihre Hervorhebung sogar eher verlieren als gewinnen. Jene Anforderung hängt aber mit einem allgemeinerem Begehren zusammen, welchem Ariosto nicht im Sinne unserer Zeit genügt; von einem so gewaltig begabten und berühmten Dichter nämlich hätte man gerne überhaupt etwas anderes als Rolandsabenteuer u. dgl. Er hätte sollen in einem großen Werke die tiefsten Konflikte der Menschenbrust, die höchsten Anschauungen der Zeit über göttliche und menschliche Dinge, mit einem Worte: eines jener abschließenden Weltbilder darstellen wie die göttliche Komödie und der Faust sie bieten. Statt dessen verfährt er ganz wie die damaligen bildenden Künstler und wird unsterblich, indem er von der Originalität in unserem jetzigen Sinne abstrahiert, an einem bekannten Kreise von Gestalten weiterbildet und selbst das schon dagewesene Detail noch einmal benützt wo es ihm dient. Was für Vorzüge bei einem solchen Verfahren noch immer erreicht werden können, das wird Leuten ohne künstlerisches Naturell um so viel schwerer begreiflich zu machen sein, je gelehrter und geistreicher sie sonst sein mögen. Das Kunstziel des Ariosto ist das glanzvoll lebendige „Geschehen“, welches sich gleichmäßig durch das ganze große Gedicht verbreitet. Er bedarf dazu einer Dispensation nicht nur von der tieferen Charakterzeichnung, sondern auch von allem strengeren Zusammenhang der Geschichten. Er muss verlorene und vergessene Fäden wieder anknüpfen dürfen, wo es ihm beliebt; seine Figuren müssen kommen und verschwinden, nicht weil ihr tieferes persönliches Wesen, sondern weil das Gedicht es so verlangt. Freilich innerhalb dieser scheinbar irrationellen, willkürlichen Kompensationsweise entwickelt er eine völlig gesetzmäßige Schönheit. Er verliert sich nie ins Beschreiben, sondern gibt immer nur so viel Szenerie und Personenschilderung, als mit dem Vorwärtsrücken der Ereignisse harmonisch verschmolzen werden kann; noch weniger verliert er sich in Gespräche und Monologe, sondern er behauptet das majestätische Privilegium des wahren Epos, alles zu lebendigen Vorgängen zu gestalten. Das Pathos liegt bei ihm nie in den Worten, vollends nicht in dem berühmten dreiundzwanzigsten Gesang und den folgenden, wo Rolands Raserei geschildert wird. Dass die Liebesgeschichten im Heldengedicht keinen lyrischen Schmelz haben, ist ein Verdienst mehr, wenn man sie auch von moralischer Seite nicht immer gutheißen kann. Bisweilen besitzen sie dafür eine solche Wahrheit und Wirklichkeit trotz allem Zauber- und Ritterwesen, das sie umgibt, dass man darin unmittelbare Angelegenheiten des Dichters selbst zu erkennen glaubt. Im Vollgefühl seiner Meisterschaft hat er dann unbedenklich noch manches andere aus der Gegenwart in das große Werk verflochten und den Ruhm des Hauses Este in Gestalt von Erscheinungen und Weissagungen mit hineingenommen. Der wunderbare Strom seiner Ottaven trägt dieses alles in gleichmäßiger Bewegung vorwärts.
Mit Teofilo Folengo oder, wie er sich hier nennt, Limerno Pitocco tritt dann die Parodie des ganzen Ritterwesens in ihr längst ersehntes Recht, zudem aber meldet sich mit der Komik und ihrem Realismus notwendig auch das strengere Charakterisieren wieder. Unter den Püffen und Steinwürfen der wilden Gassenjugend eines römischen Landstädtchens, Sutri, wächst der kleine Orlando sichtbarlich zum mutigen Helden, Mönchsfeind und Raisonneur auf. Die konventionelle Phantasiewelt, wie sie sich seit Pulci ausgebildet und als Rahmen des Epos gegolten hatte, springt hier freilich in Splitter auseinander; Herkunft und Wesen der Paladine werden offen verhöhnt, z. B. durch jenes Eselturnier im zweiten Gesänge, wobei die Ritter mit den sonderbarsten Rüstungen und Waffen erscheinen. Der Dichter zeigt bisweilen ein komisches Bedauern über die unerklärliche Treulosigkeit, die in der Familie des Gano von Mainz zu Hause gewesen, über die mühselige Erlangung des Schwertes Durindana u. dgl., ja das Überlieferte dient ihm überhaupt nur noch als Substrat für lächerliche Einfälle, Episoden, Tendenz ausbrüche (worunter sehr schöne, z. B. der Schluss von Kap. VI) und Zoten. Neben alldem ist endlich noch ein gewisser Spott auf Ariosto nicht zu verkennen, und es war wohl für den Orlando furioso ein Glück, dass der Orlandino mit seinen lutherischen Ketzereien ziemlich bald der Inquisition und der künstlichen Vergessenheit anheimfiel. Eine kenntliche Periode scheint z. B. durch, wenn (Kap. VI, Str. 28) das Haus Gonzaga von dem Paladin Guidone ab geleitet wird, sintemal von Orlando die Colonnesen, von Rinaldo die Orslnen und von Ruggieri — laut Ariost — die Estenser abstammen sollten. Vielleicht war Ferrante Gonzaga, der Patron des Dichters, dieser Anzüglichkeit gegen das Haus Este nicht fremd.
Dass endlich in der Gerusalemme liberata des Torquato Tasso die Charakteristik eine der höchsten Angelegenheiten des Dichters ist, beweist allein schon, wie weit seine Denkweise von der um ein halbes Jahrhundert früher herrschenden abweicht. Sein bewunderungswürdiges Werk ist wesentlich ein Denkmal der inzwischen vollzogenen Gegenreformation und ihrer Tendenz.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Kultur und Kunst der Renaissance in Italien. 4. Buch