Ein entschlossener Zugführer.

3. September 1914. Es ist nicht möglich, zu schildern, was ein Mensch im Krieg durchmachen muss und auch durchmachen kann. Nach Einquartierung in A. ging es ein paar Tage später per Extrazug nach K. Hier wurde ausgeladen und einquartiert. Nächsten Tag ging es zu Fuß an und über den Rhein ins Elsaß und von jetzt ab die nächsten acht Tage nur mehr auf der Straße oder in Scheunen kampiert, ohne mit dem Feind in Berührung zu kommen. Nun ging es immer mehr der fanzösischen Grenze zu; wir hatten zuletzt Alarmquartier in St., einer deutschen, jedoch echt französischen Stadt. Samstag mittag wurde noch abgekocht, während ich die Befehle im Bataillon zu erwarten hatte. Auf einmal heißt es: Sämtliche Kompagnien brechen sofort auf! Ich eilte zu der meinen zurück, welche sich bereits im Abmarsch befand. Das Essen für heute, wie schon oft, versäumt, zum Teil im Stich gelassen. Nun ging es in die Vogesen, bergauf, bergab, wo sich die Franzosen verschanzt hatten. Es war nicht möglich, die Franzosen in diesen Stellungen, welche die Natur geschaffen hat, und die von den Franzosen ausgearbeitet wurden, anzugreifen. Dies würde der Vernichtung ganzer Regimenter gleichkommen. Wie wir nun so dahinmarschieren, erhalten wir plötzlich Granatfeuer in heftigster Weise. Während wir Deckung suchten, soweit dies möglich war, ertönte plötzlich Gewehrfeuer, wir sind unerwartet angegriffen worden und kommt die . . . Kompagnie in die erste Gefechtslinie, Wir müssen nun ohne jede Deckung bei diesem Kugelregen zirka 500 Meter vorspringen und kriechen, bis wir endlich so weit waren, um auch schießen zu können. Aber welche Stellung hatte unser Zug! Während der Gegner gedeckt in seiner Schanze lag, konnten wir keinen Schutz finden und waren seinen Schüssen preisgegeben. Was das heißt, kann ich Euch nicht beschreiben — drei volle Stunden dem stärksten Feuer ausgesetzt, von der einen Seite totsichere Granaten, von der anderen Maschinengewehr- und Infanteriefeuer, wir ohne jede Artillerie, ohne jede Deckung. Man hörte nur ein Singen und Pfeifen um die Ohren von den Kugeln, jede Sekunde gewärtig: nun trifft sie dich, nun kommst du daran — ist noch ein Entrinnen möglich? Fast ausgeschlossen, wir alle fühlten es und brachten es zum Ausdruck, daß wir bei dieser Stellung unmöglich entrinnen konnten und nahmen im Geist schon Abschied von der Welt. Viel Zeit hatten wir nicht dazu. Ein Schrei — und noch einer — der rechte und linke Mann von mir waren getroffen, der eine in die obere Brustseite, der andere in den Bauch. Das Stöhnen und Schreien um Hilfe war fürchterlich. Der eine Flügelmann schrie unaufhörlich eine Stunde lang, und doch war es ausgeschlossen, ihm Hilfe zu bringen bei dem kolossalen Kugelregen. Trotzdem versuchten ein Kamerad und ich, den Verwundeten zu bergen, wir hätten jedoch dies bald mit dem Tod bezahlt. Später konnte der Verwundete selbst noch etwas zurückkriechen, dann starb er. Ich war vom ersten bis zum letzten Augenblick sehr kalt geblieben, ohne jede Aufregung. Selbst im ärgsten Kugelregen konnte ich mit meinem Nachbar noch der Unterhaltung pflegen und die geringen Aussichten auf Rettung besprechen.

Ein Vorteil war uns gegeben: die Franzosen schossen zu hoch. Plötzlich eine Granate zwei Meter vor mir in den Boden; also, dachte ich, jetzt geht's dahin — Rettung ausgeschlossen — doch sie explodierte nicht. Diesmal für eine Minute gerettet. Wieder Salvenfeuer vom Gegner. Die Kugeln streifen fast die Ohren, den Kopf, die Arme, ich höre nur mehr ihr Pfeifen — bis jetzt bin ich verschont. Wieder eine Granate. Die Splitter zerrissen zwei, einer sofort tot, einer verwundet. Zwei Stunden sind vorbei, noch immer dieselbe Heftigkeit. Da kommt die Meldung: „Der Gegner geht vor!“ — wir sind verloren; ein Leutnant verwundet, vier Unteroffiziere tot oder verwundet. Da der Zug ohne Führung war, übernehme ich das Kommando. Endlich nach dreistündigem Kampf war es uns möglich geworden, den Gegner zum Rückzug zu zwingen — wir waren für dieses Mal gerettet, was keiner mehr bei unserer fürchterlichen Stellung für möglich gehalten hätte. Es wurde dunkel, der Nebel kam, der Regen floss in Strömen: so standen wir auf dem Gefechtsfeld. Wenn jetzt der Gegner nochmals käme, dann Gnade uns. Wir verschanzten uns nun aus Selbsterhaltungstrieb. Endlich nach einer weiteren Stunde heißt es: Die . . . Kompagnie wird wegen zu starker Verluste aus dem Gefecht zurückgezogen. Und nun begann ein Marsch die ganze Nacht hindurch bis zum nächsten Tag um 12 Uhr mittags. Durch mein Auftreten habe ich gezeigt, dass es auch Juden gibt, die sich nicht fürchten.