Einführung

Der allgemeine Lebenszweck der Menschheit ist das Familienleben. Doch die Natur einerseits, andererseits der menschliche Wille, der nicht die ersehnte Befriedigung darin fand, und andere Faktoren haben Ausnahmen zu dieser Regel geschaffen. Die Vestalinnen Roms, die Druidinnen Galliens, die Bonzen Asiens, die Derwische des Islams, dieser so sehr der Sinnlichkeit huldigenden Religion, die stehenden Heere, die Gefängnisse mit ihren Insassen in der Neuzeit mögen als Beispiele dienen. Das Zölibat kann indes auch vom nationalökonomischen Standpunkte aus betrachtet werden. Wenn die Ertragsfähigkeit eines Landes mit seiner Bevölkerungsziffer nicht mehr im geraden Verhältnis steht, so muss der Überschuss abgeleitet werden, sei es durch Auswanderung, sei es durch Beschränkung der Fortpflanzung. Während in der Neuzeit vorzugsweise die erstere Möglichkeit in Betracht kommt, existierte dieser Ausweg im Mittelalter nicht. Im 14. und 15. Jahrhundert lichteten wohl der „schwarze Tod“, die verheerenden Kriege mit England und die Hungersnot in ihrem Gefolge die Bevölkerung Frankreichs, der Heimat der Zisterzienser, im 11. und 12. Jahrhundert dagegen konnte der wachsenden Zunahme der Bevölkerung nur eine damit im Verhältnis stehende Ausbreitung des mönchischen und priesterlichen Zölibats entgegengesetzt werden. Die Klöster im Mittelalter waren durch die Pflege des Gebets, der Selbstverleugnung und ihre Arbeit von unleugbarem Segen. Und selbst die hartnäckigen Leugner der objektiven Wirkung des Gebets würden ungerecht gegen die Stifter der Mönchsorden sein, wollten sie die jene beseelenden religiösen Gefühle einfach ignorieren und den Einfluss, den dieselben auf ihre Taten hatten, gering anschlagen. Ist doch die Selbstaufopferung im Dienste der Allgemeinheit der höchste Ruhm, die wahre Größe des Menschen, und die Notwendigkeit derselben ein historisches Gesetz! Und wenn der Mensch, diesem Gesetze folgend, sein so erhabenes Ziel nicht erreicht, soll man deshalb sein Streben nach demselben verwerfen? Doch abgesehen von dem Gebet hatten die Selbstverleugnung und die Arbeit der Mönchsorden einen nicht abzuleugnenden Nützen für die Gesellschaft. Der Umstand, dass die Hohen dieser Erde zahlreich in die Mönchsorden eintraten, sich allen Gesetzen derselben unterwarfen, war den gedrückten Gliedern der unteren Gesellschaftsklassen eine eindringliche Predigt der Geduld im Leiden, der tröstenden Hoffnung auf ein besseres Jenseits und einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Die durch die harte Arbeit ihrer Hände erworbenen und durch weise Sparsamkeit erhaltenen Reichtümer ermöglichten auf der einen Seite jene Wohltätigkeit im großartigsten Maßstabe, wie sie die Orden bei Hungersnöten betätigten; andererseits leisteten sie der Gesellschaft dadurch einen unberechenbaren Nutzen, dass sie sich die Urbarmachung und rationelle Anpflanzung des Bodens in ganz hervorragendem Masse angelegen sein ließen.

Leider wurde der Orden der Zisterzienser, den wir hier besonders im Auge haben, im Verlaufe der Zeit seiner hohen Mission untreu. Aber das Bedauern über diese Tatsache darf uns nie die großartigen Verdienste übersehen lassen, die diesem Verfall vorausgingen.


Unsere Aufgabe sei, im folgenden auseinanderzusetzen, was der Zisterzienserorden zu den Zeiten seines Glanzes war. Im Verlauf dieser Aufgabe werden wir Belege und Beispiele oft der Geschichte des berühmtesten Zisterzienserklosters, der von dem größten Zisterzienser gegründeten ehemaligen Abtei Clairvaux im franz. Departement Aube, entnehmen, die dank der Berühmtheit und Genialität ihres Stifters, sowie durch ihren Ruf und ihren Einfluss mit Fug und Recht den ersten Platz unter den Abteien und Niederlassungen des Zisterzienserordens einnimmt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Klosterleben im Mittelalter