Den ersten Anstoß zur Reform des Judentums hat Moses Mendelssohn mittelbar dadurch gegeben

Den ersten Anstoß zur Reform des Judentums hat Moses Mendelssohn mittelbar dadurch gegeben, daß er den Pentateuch und die Psalmen ins Deutsche übersetzte und dadurch einerseits den Juden Deutschlands ihr eigenes Gesetzbuch wieder zum Verständnis brachte, anderseits in ganz besonderem Maße zur Verbreitung der deutschen Sprache unter den Juden beitrug.

Die deutsche Übersetzung war für das damalige Judentum eine reformatorische Tat von weitgehendster Tragweite und sie wurde von der jüdischen Orthodoxie auch als solche erkannt, da sie Mendelssohn dafür den Bannstrahl zuschleuderte.


Es mag als bezeichnend für den Bildungszustand der Judenschaft zu jener Zeit hervorgehoben werden, daß, während die in jüdischen Lettern gedruckte Übersetzung Mendelssohns die rascheste Verbreitung gefunden hatte, der in deutschen Lettern versuchte Abdruck so wenig Abnehmer fand, daß er während des Druckes eingestellt wurde.

Außerdem hat Mendelssohn trotz seines treuen und strengen Festhaltens am jüdischen Gesetze in seinen Abhandlungen über die jüdische Religion den Grundsatz der Glaubens- und Forschungsfreiheit als einen besonderen, ihr innewohnenden Vorzug zur Geltung gebracht.

Im übrigen aber hat sich Mendelssohn, trotz seines ausdrücklichen Einbekenntnisses, „daß er in seiner Religion menschliche Zusätze und Missbräuche wahrgenommen, die leider ihren Glanz nur allzusehr verdunkeln“, nicht berufen gefühlt, an die historische Erforschung dieser „Zusätze“ und an die Abstellung dieser „Missbräuche“ Hand anzulegen; weil er keine Kampfnatur war und überdies offenbar die Zeit hiezu noch nicht als gekommen erachtete.

Wenn gleichwohl alle unmittelbar nach seinem Tode auftauchenden Reformideen an seinen Namen anknüpfen, so lieget die Berechtigung hiefür in dem segensvollen Einflusse seines Lebens und Wirkens.

Durch die Kenntnis der deutschen Sprache wurde den Juden die ganze deutsche Literatur erschlossen, so dass die aufklärende Einwirkung der Schriften Lessings, Herders und anderer zeitgenössischen Klassiker sich bei ihnen betätigte, wahrend die von Mendelssohn proklamierte Forschungs- und Glaubensfreiheit ihnen die Möglichkeit und den Anreiz bot, über die eigene Religion und ihr Verhältnis zu den anderen Religionen und zur modernen Kultur die eingehendsten Betrachtungen anzustellen, wobei sie allerdings über die von Mendelssohn noch festgehaltene fromme Grenzlinie weit hinaus und vielfach gerade dadurch auf den Abweg des Abfalles gerieten.

Die noch bei Lebzeiten Mendelssohns zutage tretenden Reformbestrebungen hatten zunächst die zeitgemäße Verbesserung der Jugenderziehung im Auge, welche damals zum größten Teile in den Händen der aus Polen eingewanderten, vorzugsweise im Hebräischen tüchtigen Lehrer sich befand. Man darf diese polnischen Schulmeister keineswegs insgesamt als Feinde der Kultur hinstellen. Viele von ihnen waren Mendelssohn bei seinen Arbeiten behilflich und haben sich auch sonst um die Verbesserung der Jugenderziehung Verdienste erworben. Mendelssohn selbst gibt in der Vorrede seiner Pentateuchübersetzung an, daß er sich nur auf Andrängen des gelehrten Polen Salomon Dubno, der als vorzüglicher Hebraist einige Zeit Hauslehrer bei ihm war. zu der Veröffentlichung seiner Übersetzung, die er eigentlich zunächst zum Zwecke des Unterrichtes seiner Kinder verfasst hatte, entschlossen habe.

Die Einrichtung öffentlicher Schulen für den allgemeinen Schulunterricht jüdischer Kinder war damals zum dringenden Bedürfnis geworden, da es solche Schulen überhaupt nicht gab, wenn auch jede jüdische Gemeinde eine öffentliche Schule für den Unterricht des hebräischen Schrifttums hatte.

In Österreich wurden damals auf Anordnung Kaiser Josefs die sogenannten jüdischen Normalschulen eingerichtet, welche von den Juden deshalb mit Misstrauen aufgenommen wurden, weil man in ihnen Institute für Zwecke der Aufklärung vermutete.

In Preußen wurden diese jüdischen Schulen von den Gemeinden aus eigener Initiative errichtet und bald durch die Opferwilligkeit einzelner wohlhabender Juden, bald durch be- sondere, diesem Zwecke sich widmende Vereine erhalten.

Überhaupt zeigten sich die Freunde der Aufklärung und der Bildung unter den Juden sehr eifrig und rührig. In den größeren Gemeinden entstanden unter verschiedenen Namen und Bezeichnungen Kulturvereine oder „Vereine zur Förderung des Edlen und Guten“, wie die „Gesellschaft der Brüder“, die alle das Ziel verfolgten, unter den Juden den Sinn für Bildung und zeitgemäße Jugenderziehung zu wecken, den Geschmack zu veredeln und vorerst eine soziale Annäherung zwischen ihnen und ihren christlichen Mitbürgern herbeizuführen.

Die „Aufgeklärten“ bildeten eine Art Brüderschaft, deren Mitglieder über ganz Deutschland und über dessen Grenzen hinaus zerstreut waren.

Sie korrespondierten miteinander, tauschten gegenseitig ihre Gedanken aus, teilten sich die gewonnenen Erfahrungen mit und unterhielten auf diese Weise ihre Verbindungen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land.

Dass mit dieser Aufklärung auch eine bedeutsame Wandlung in den religiösen Anschauungen eintrat, ist selbstverständlich. Das Alte und Hergebrachte konnte den gebildeten Juden nicht mehr genügen; Neues war hingegen noch nicht geschaffen. In den größeren Gemeinden waren die Rabbinate unbesetzt, da man sich nicht mehr entschließen konnte, gelehrte Talmudisten aus Polen heranzuziehen, während es anderseits noch an wissenschaftlich gebildeten Männern fehlte, die neuen Anforderungen hätten genügen können. Die Synagogen waren leer und verödet; die Jugend hatte sich von ihnen abgewendet. Die alten Formen passten nicht mehr, man fand sich nicht befriedigt von den altmodischen Kantoren, die oft irgend einen Gassenhauer als eine synagogale Melodie zu benützen pflegten.

Unter solchen Umständen lag der Gedanke nahe, das Judentum, d. h. den synagogalen Gottesdienst, auszugestalten. Doch fehlten hiefür alle Vorbedingungen. Es fehlte an wissenschaftlich gebildeten Männern, die dieses Reformwerk hätten durchführen können; denn mit dem Aufhören des religiösen Lebens unter den gebildeten Juden in Deutschland hatte auch jedes Interesse für die wissenschaftliche Erforschung des Judentums aufgehört.

Außerdem stand die tonangebende gebildete Jugend, wie bereits erwähnt, in gar keiner Beziehung zu den Alten, die noch immer die Mehrheit in der Gemeinde bildeten und jede noch so unschuldige Neuerung im Gottesdienste als einen gottlosen Frevel verpönten.

In den Gemeindesynagogen konnte man daher nicht die mindeste Änderung an den hergebrachten Formen des Gottesdienstes vornehmen, weshalb die Reformfreunde Separatgottesdienste veranstalten mußten. In Berlin war namentlich David Friedländer, ein Zeitgenosse und Freund Mendelssohns, für diese Reform tätig und im Vereine mit ihm Israel Jakobsohn, ein reicher wohltätiger Mann, der früher in Kassel gelebt und daselbst unter dem von Napoleon eingesetzten König Jerome eine reformierte Synagoge mit Chor und Orgel eröffnet hatte, und nach dem Sturze Napoleons und des Königreiches Westphalen seinen Wohnsitz nach Berlin verlegte. Dieser veranstaltete mit Hilfe gleichgesinnter Freunde einen modernen Gottesdienst mit Orgel, Chor, deutschen Gebeten und Predigt in seinem privaten „Tempel“.

Dieser neue Gottesdienst trug einen protestantischen Zuschnitt und die Alten unternahmen sofort hei der Regierung Schritte zur Schließung dieses „unjüdischen“ Tempels. Unter den damals herrschenden Verhältnissen behielten sie auch bei den Behörden Recht. Die reaktionäre preußische Regierung war einerseits jeder „Neuerung“, selbst in der Synagoge, abhold; außerdem lag dieser Parteinahme für die Alten ein wohl überlegter Plan zugrunde.

Den gebildeten Juden in Preußen sollte das Verbleiben im Judentume so unangenehm als nur irgend möglich gemacht werden, damit sie zum Christentum überträten. Deshalb wurde das neumodische Gotteshaus im Jahre 1823 von polizeiwegen gesperrt und das Verbot erlassen, in den Synagogen deutsche Predigten abzuhalten. Dieses sei eine unjüdische „Neuerung“, die der preußische Staat, gewiss nur auf die Erhaltung des traditionellen Judentums liebevoll bedacht, durchaus nicht dulden konnte. In der Tat hat auch die Regierung ihr Ziel zum Teil erreicht, denn es fanden in jenen Jahren wirklich Massentaufen jener Juden statt, die in der Synagoge für ihr religiöses Gefühl keine Befriedigung fanden.

Besser erging es einem „Reform-Tempelvereine“ in Hamburg, dem es gelang, den ersten Reformgottesdienst auf deutschem Boden zu etablieren. Die Eröffnung dieses Tempels, welche am 18. Oktober 1818 mit einer an die Befreiung Deutschlands vom korsikanischen Joche anknüpfenden Rede des Predigers Kley stattfand, rief nicht bloß in Hamburg, sondern in der ganzen Judenheit Deutschlands das größte Aufsehen hervor.

Bald wurden auch in anderen Gemeinden von Privatvereinen ähnliche Versuche gemacht, während die offiziellen Gemeindevertretungen sich fast überall gegen die Neuerungen ablehnend verhielten.

In dem literarischen Kampfe, der zwischen den Bekämpfern und Verteidigern dieser Reformgottesdienste entbrannte, entzündeten sich die ersten Lichter, die der späteren, viel tiefer gehenden Reformbewegung voranleuchteten.

Gleichzeitig mit diesen allseits zutage tretenden Bestrebungen, die sich lediglich auf praktische Ziele beschränkten und nur die zeitgemäße Umgestaltung des Gottesdienstes im Auge hatten, trat ein kleiner Kreis junger, aber vielseitig gebildeter und hochgestimmter Männer zusammen, um die wissenschaftliche Erforschung des Judentums unter der deutschen Judenheit zu fördern.

Das frühere Geschlecht, dem zuerst bloß die soziale Annäherung der Juden an die christlichen Mitglieder als das zu erreichende Ziel vorgeschwebt, hatte gar kein Verständnis für die geschichtliche und kulturelle Bedeutung des Judentums. Die Vergangenheit des jüdischen Stammes, die so viele schöne Blätter in der allgemeinen Kulturgeschichte der Menschheit ausfüllt, war jener Generation völlig unbekannt geblieben. Die deutschen Juden kannten kein anderes Streben, als durch allgemeine Bildung, bescheidenes Auftreten und tolerante Anschauung in religiöser Beziehung die Christen zu überzeugen, daß sie wohl ebenfalls gleichwertige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sein könnten; sie wetteiferten in Werken der Menschenliebe und des Patriotismus, um ein Jahrhunderte hindurch herrschendes Vorurteil gegen die Charaktereigenschaften der Juden zu zerstreuen. Als nach den Befreiungskriegen eine Reaktion gegen sie eintrat, glaubten sie noch immer durch Reformen des Judentums und durch andere Konzessionen auf dem Gebiete des religiösen Lebens die christlichen Mitbürger von der Ungerechtigkeit der Zurücksetzung der Juden im bürgerlichen Leben überzeugen zu können.

Aber als dies alles sich als vergeblich erwies und sich gerade gegen dieses Bildungsstreben der Juden die rohesten Ausbrüche des Judenhasses richteten, da trat eine Scheidung der Geister unter dem gebildeten Teile der deutschen Judenheit ein; die kleinlich Denkenden gaben die Sache ihrer unterdrückten Glaubensgenossen auf, um sich im anderen Lager Ruhe zu sichern, die Mutigen, Charaktervollen und wissenschaftlich Gediegenen erinnerten sich in jenen Tagen der kränkenden Zurücksetzung ihres Stammes, seiner Vergangenheit und seiner Bedeutung für die Kulturentwicklung der Menschheit. Es galt nun, diese historischen Schätze wieder an das Tageslicht zu fordern, sie dem großen Publikum zugänglich zu machen und auf ihren hohen Wert und ihre Bedeutung hinzuweisen. Die Emanzipation der Juden, die soeben einen Rückschlag erfahren hatte, sollte durch die neuzubegründende jüdische Wissenschaft gefördert und eine endgültige werden. Einer der Hauptbegründer dieser Wissenschaft meinte, der Grund alles Hasses gegen die Juden entstamme der allgemein herrschenden Unkenntnis über Wesen und Lehren des Judentums; der Anerkennung des Geistes werde die der Personen folgen.

So bildete die Erkämpfung des Emanzipationsrechtes für die Juden das Hauptmotiv bei der Schaffung der jüdischen Wissenschaft.

Wenn nun auch die Hoffnungen, die damals gehegt wurden, sich nicht erfüllt haben, so verdienen dennoch jene Männer, die trotz unzulänglicher materieller Mittel, trotz der Gleichgültigkeit ihrer eigenen Stammesgenossen, die jüdische Wissenschaft geschaffen, ein goldenes Blatt in der jüdischen Geschichte, umsomehr, als der wohltätige Einfluss dieser Geistesarbeit in der Folge doch zum Vorschein kommen mußte.

An der Spitze dieser Männer stand Leopold Zunz, der im Vereine mit Eduard Gans und Moses Moser, „der Prachtausgabe eines Menschen“, wie ihn Heine nannte, am 17. November 1819 in Berlin den „Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums“ gründete, dem sich etwa 50 Gesinnungsgenossen, zu denen auch Heinrich Heine zählte, angeschlossen hatten.

Das Hauptziel dieses Vereins war unleugbar die Reform des Judentums; nur sollte diese nicht einzige in der äußeren Nachahmung des protestantischen Gottesdienstes bestehen, sondern an „Haupt und Gliedern“ vorgenommen werden. Es wurde zunächst ein wissenschaftliches Institut zu einer gemeinsamen Bearbeitung aller auf Juden und Judentum bezüglichen Studien ins Leben gerufen, ferner wurde eine Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums begründet.

Leider blieb das große Publikum allen diesen Bestrebungen gegenüber kalt und teilnahmslos. Die Reformfreunde hatten kein Interesse an den weitausholenden wissenschaftlichen Erörterungen, während die Strenggläubigen instinktiv eine Abneigung gegen alle diese Bestrebungen empfanden.

Unter solchen Umständen mußten auch die Führer des Vereines schließlich entmutigt werden. Der „Kulturverein“ löste sich auf, nachdem ein letzter Appell an das jüdische Publikum fruchtlos verhallt war.

Im Sommer 1824 spricht sich Zunz in einem Privatbriefe mit großer Bitterkeit darüber aus: „Dahin bin ich gekommen, an eine Juden-Reformation nimmermehr zu glauben, der Stein muss auf dieses Gespenst geworfen und dasselbe verscheucht werden“.

Die Reformbewegung in Hamburg blieb ein lokales Ereignis, die geistvollen Männer, die sie früher mit hochgespannten Erwartungen begrüßt hatten, fanden in ihr keine Befriedigung mehr. „Die Hamburger täuschen sich gewaltig“, schrieb Moser, „wenn sie ihren Tempelbestrebungen eine universelle Bedeutung beilegen; aber es ist eine Täuschung, die man ihnen lassen kann. Was brauchen sie zu wissen, daß sie selbst im Übergange sind?“

Auch Heine spottete unaufhörlich über den „neuen israelitischen Tempel mit dem reinen Mosaikgottesdienst“ und „orthographischen deutschen Gesängen“, über die „gerührten Predigten“ und „Schwärmereichen“, über die „gute, reinliche Religion“ u. dgl.

Die Reformbewegung stagnierte vollständig, nicht infolge der Opposition von Seiten der Altgläubigen, denn diese waren im Kampfe gegen die Neuerungen unbeholfen und ungeschickt, sondern infolge des unter den gebildeten Elementen immer mehr überhand nehmenden Indifferentismus, welcher der Reformbewegung den schwersten Schaden zufügte.

Indessen sind aber die opferwilligen Bemühungen der für die Neubelebung des Judentums begeisterten Männer dennoch nicht fruchtlos geblieben; einige Jahrzehnte später ging diese, unter Tränen ausgestreute Saat herrlich und fruchtreif auf.

Was aus dem fruchtlosen Ringen des „Kulturvereines“ als unvergängliches Kleinod für die Zukunft gerettet wurde, war die Wissenschaft des Judentums, welcher namentlich Leopold Zunz sein ganzes langes Leben widmete. Diesem Manne hat das Judentum einen großen Dankestribut abzustatten, denn er hat aus den Schächten des jüdischen Schrifttums unvergängliche Geistesschätze hervorgeholt und eine ganze jüngere Generation zur Mitarbeiterschaft an diesem Werke angeeifert.

Er hatte ursprünglich die Absicht, eine Geschichte des jüdischen Stammes zu schreiben; als aber ein gleichaltriger Genosse Markus J. Jost sich dieser Arbeit unterzog und eine Geschichte der Israeliten in 9 Bänden schrieb, wendete er sich der Erschließung der Agadah und der synagogalen Poesie zu. Zunz gebührt unstreitig der Ruhm, in die Tiefe der Agadah, des Produktes des Volksgenius Israels, mit tiefem, psychologischem Verständnis eingedrungen zu sein, um aus ihr das innere Leben des jüdischen Stammes in seinen feinsten Nuancen zu erkennen.

Außerdem aber war er der erste, der das Wesen der synagogalen Poesie und deren Bedeutung für die jüdische Vergangenheit erkannt, der aus ihr das Seufzen und herzbrechende Schluchzen der, Jahrhunderte hindurch, blutig Verfolgten herausgehört, der die synagogalen „Pijutim“ und die „Selichah“ (Bußlied) als die laut sprechenden Zeugnisse der Leiden Israels der jüdischen Geschichte einverleibt hat.

Die Sammlung dieser synagogalen Poesien verwandelte sich unter seiner verständnisinnigen Behandlung in ein Manifest des unterdrückten jüdischen Volkes und gestaltete sich zugleich zu einem Denkmal der sittlichen Größe der edlen Dulder jenes Zeitalters.

Weiter unternahm er es, gegenüber der entschiedenen Opposition, welcher die Einführung der deutschen Predigt bei den Orthodoxen begegnete, in seinem epochalen Werke „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden“ den wissenschaftlichen Beweis zu führen, daß die Predigt nicht nur nicht „unjüdisch“, sondern im Gegenteile ganz auf dem Boden des Judentums entstanden sei.

In gleichem Geiste wie Zunz waren auch andere Männer für die Begründung der jüdischen Wissenschaft tätig, von denen insbesondere Nachman Krochmal (Brody-Tarnopol), Salomo Jehudah Rappoport (Lemberg-Tarnopol-Prag) und Samuel David Luzzato (Triest-Padua, I. Rabbiner-Seminar) erwähnt zu werden verdienen.

Diese vier Männer stifteten anfangs der Dreißigerjahre einen geistigen Bund, um gemeinsam die jüdische Wissenschaft zu begründen und die Neubelebung des Judentums herbeizuführen. Sie tauschten brieflich ihre Ideen aus und suchten sich gegenseitig nach Kräften zu unterstützen.

Eine kleine Gemeinde strebsamer und begabter Jünger scharte sich um diese Meister. Einige unter ihnen wuchsen bald zur Selbständigkeit heran und nahmen aufs neue kühn den Gedanken auf, mit Hilfe der Wissenschaft das Judentum von innen heraus zu verjüngen.

Es begann nunmehr die Zeit der wissenschaftlichen Reformbestrebungen in der deutschen Judenheit, die — mögen sie ebenfalls nicht frei von Verirrungen sein — gegenüber der ersten Reformbewegung doch den großen Vorzug hatten, daß sie nicht von Halbwissern oder Schönrednern ausgingen.

An der Spitze dieser neuen Bewegung standen die Rabbiner Abraham Geiger und Samuel Holdheim.

Von Samuel Holdheim, dem ersten Rabbiner der jüdischen Reformgemeinde, werde ich im Zusammenhange mit dieser sprechen. Heute soll nur noch der Standpunkt und Gedankengang Geigers eingehender beleuchtet werden, weil seine Forschungen und die durch sie festgestellten Wahrheiten für alle weiteren Reformbestrebungen richtunggebend waren und weil sie überhaupt für alle Zeiten die theoretische Grundlage jeder Reform im Judentume bilden werden.

Er war einer der wenigen modernen Rabbiner, die neben einer gründlichen klassischen und profanwissenschaftlichen Vorbildung auch gediegene Kenntnisse in allen Zweigen des jüdischen Schrifttums besaßen, und war daher, wie wenige, berufen, der Reform eine wissenschaftliche Basis zu geben. Er war in der talmudischen Literatur sehr belesen und schrieb ein klassisches Hebräisch. Zudem war er ein schöpferisches Talent und vergaß niemals die praktischen Ziele, die er vor Augen hatte, nämlich: Das Judentum zu einer zeitgemäßen Umgestaltung zu bewegen.

Geiger war kein Reformator des Judentums im landläufigen Sinne, sondern er war vielmehr bestrebt, das Judentum einer Fortentwicklung fähig zu machen. Geiger war kein Gegner des Talmuds, sondern anerkannte diesen stets als das Produkt der Fortentwicklungsfähigkeit des Judentums während einer bestimmten Periode. Indem er aber dies tat, drang er darauf, nicht bei dem Talmud stehen zu bleiben, diesen nicht als den Abschluß der Fortentwicklung des Judentums zu betrachten, sondern auf dieser Bahn mutig fortzuschreiten und das Judentum den Zeitanschauungen gemäß zu gestalten. Er verwarf keineswegs den Talmud, wie die Karäer, bekanntlich eine jüdische Sekte, die nur die heilige Schrift anerkennt und von der im Talmud niedergelegten Tradition nichts wissen will. Geiger wollte vielmehr im Geiste des Talmuds fortschreiten, und diejenigen, die, entgegen dem wahren Geiste des Talmuds, den „Schulchan-Aruch“, diese Zusammenfassung der im Talmud enthaltenen Vorschriften, als den Abschluß der religiösen Entwicklung des Judentums bezeichneten nannte er von seinem Standpunkte aus sehr treffend „Talmud- Karäer“.

Das entschiedene Auftreten Geigers erregte Aufmerksamkeit. Niemand war so vorzüglich wie er ausgerüstet, um für die Umgestaltung des Judentums einzutreten, denn ihn konnten die orthodoxen Gegner nicht mit der Redensart abtun, daß er von dem nachbiblischen Judentum nichts verstehe, wie sie dies gegen die Reformprediger der Zwanzigerjahre mit Recht behaupten durften.

Die Reformbestrebungen Geigers waren auch nicht lediglich auf eine Nachahmung der gottesdienstlichen Einrichtungen der protestantischen Kirche gerichtet, wie die der ersten Reformatoren in Berlin und Hamburg.

In seinem grundlegenden Werke „Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judentums“ hat er die Quintessenz seiner Anschauungen über die Fortbildungsfähigkeit der jüdischen Lehre niedergelegt. Er wies nach, daß die Diskussionen über viele wichtige Punkte des Judentums, die vor und während der Feststellung des Bibelkanons stattgefunden hatten, sowohl im Bibeltexte, als auch in dessen ersten Übersetzungen deutliche Spuren hinterlassen haben. Damit war implicite dem Dogma von der Göttlichkeit und Unveränderlichkeit der biblischen Schriften der Boden entzogen. Das Judentum ist nach Geigers Ansicht niemals etwas Festes und Begrenztes gewesen, sondern war immer in der Entwicklung begriffen, stets von den politischen und religiösen Strömungen der Zeit beeinflusst.

Am schlagendsten ergab sich dies aus dem Kampfe der Sadduzäer und Pharisäer, der sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Untergange des jüdischen Staates auf dem Boden Palästinas abspielte Die lichtvolle Darstellung dieses geschichtlich wohlbekannten, aber in seiner Bedeutung verkannten Kampfes gehört zu den bahnbrechenden Forschungen Geigers. Josephus stellt diese Kontroverse als einen religiösen oder richtiger philosophischen, also literarischen Streit hin und auch in den meisten talmudischen Berichten, denen ja jeder historische Sinn fehlt, wird die Sache so dargestellt, als ob es sich in diesem heftigen Kampfe lediglich um dogmatische Streitpunkte gehandelt hätte. (Unsterblichkeit der Seele, künftiges Leben, Auferstehung.)

Geiger war der erste, der die politische Bedeutung dieses Bürgerkrieges nachgewiesen hat. Er hat zuerst das Wesen der kämpfenden Parteien der Sadduzäer und Pharisäer erkannt, und zwar in den Sadduzäern die einst allmächtige Aristokratie, in deren Händen alle weltlichen und geistlichen Ämter vereinigt waren, und in den Pharisäern das aufstrebende Bürgertum, das nach politischer Gleichberechtigung rang.

Das starre Festhalten an der schriftlichen Lehre mit ihren sie begünstigenden Vorschriften und Einrichtungen lag im Interesse der Sadduzäer, während das von den Pharisäern vertretene Bürgertum die Befreiung von diesen Fesseln erkämpfen wollte.

Und dieser Kampf hat entsprechend den Anschauungen jener Zeit auf die Entwicklung des Judentums als Religion einen großen Einfluss genommen und schließlich nach dem Falle Jerusalems zu der epochemachendsten Reform desselben geführt, indem nunmehr an Stelle des unmöglich gewordenen Opferkultus (im Geiste der Pharisäer) eine ganz neue Form der Gottesverehrung inauguriert wurde, die durch zweckentsprechende Auslegung der heiligen Schrift und der mündlichen Lehre mit göttlicher Autorität auszustatten war.

Als der markante Ausdruck dieser Fortentwicklung des Judentums nach den Anforderungen der damaligen Zeit sei die Schöpfung des Talmuds zu erachten.

Von diesem Standpunkte vertrat Geiger das Prinzip der Fortbildung im Judentume, als dessen glänzendstes Zeugnis er den Talmud selbst hinstellte. Nicht die Rückkehr zu den alten biblischen Formen, nicht die Beseitigung des Talmuds war das Ziel Geigers, sondern die weitere Entwicklung der jüdischen Lehre gerade in dem von ihm vertretenen talmudischen Sinne.

Von diesem Geiste sind auch seine gehaltvollen Vorlesungen über die jüdische Geschichte erfüllt, die reich sind an psychologisch begründeten Urteilen über den Entwicklungsgang des Judentums zu allen Zeiten und in allen Landen. Geiger bezeichnet als das innere Wesen des Judentums seine Unvergänglichkeit bei der Annahme verschiedener Formen; es sei eine Lebensmacht, die im Fortgange der Zeiten sich stets verjüngen und neue Aufgaben erfüllen könne. Das Judentum war nach seiner Auffassung immer eine Religion der Tat und des Lebens, es begnügte sich nicht mit müßigem Grübeln, sondern wollte sich ausprägen in Gestaltungen und Handlungen. „Auch wir Juden der Gegenwart müssen durch das Leben uns erfrischen und tragen lassen und auf das Leben wieder einwirken. Das Judentum hat immer Gelehrsamkeit geachtet. Wissen, nicht bloß dunkles, finsteres Glauben; Wissen und Erkenntnis galten ihm als höchster Schatz. So sei es auch unsere Aufgabe, die Wissenschaft zu pflegen, sie nach den reicheren Mitteln unserer Zeit uns anzueignen und mit ihrer Hilfe aus jenen geisterfüllten Vorratskammern, die des Erlösers warten, den Geist zu befreien, in sie einzudringen, nicht um den Buchstaben festzuhalten, sondern um die innere Triebkraft des Judentums in uns aufzunehmen.

In Erfüllung dieser Aufgabe haben wir das Judentum auf seinem dritten Lebensgange zu begleiten. Es war zuerst das Judentum des Volkslebens und hat als solches sich bewährt; es war dann das Judentum innerhalb der Menschheit, aber abgesondert (im Ghetto), gedrückt, und hat als solches seine Schätze bewahrt; nun werde das freie Judentum innerhalb der Menschheit zu wirken berufen, es soll mit ihr im innigsten Kontakte wahrhaft seinen Geist entfalten, empfangend wie spendend sich nun bewähren!“

Dass diese Ideen, mit solchem Schwunge vorgetragen, auf die Zeitgenossen mächtig einwirken mußten, wird niemand wundernehmen. In der Tat begann in den Vierzigerjahren eine neue Reformbewegung unter den deutschen Juden, um größere und bleibende Resultate zu erzielen. — Inwieweit dies gelungen, soll in einem zweiten Vortrage dargestellt werden.