Jüdische Reformbestrebungen im 19. Jahrhundert. Teil 1

Vortrag, gehalten am 23. April 1907 im Israel. Humanitätsvereine „Wien“ B'nai B'rith
Autor: Knöpfmacher, Wilhelm Dr, (?) österr. Hof- und Gerichtsadvokat, Erscheinungsjahr: 1908
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Reformen, Reformbestrebungen, Religionsunterricht, Gottesdienst
                              Einführung.

Anlässlich der hier abgehaltenen Diskussion über den jüdischen Religionsunterricht wurden von mehreren Brüdern auch Wünsche und Anregungen, betreffend eine Reform des Gottesdienstes und mancher anderer jüdischen Institutionen, geäußert.

Auch in unserer Schwestervereinigung „Eintracht“ wurden bereits mehrere Vorträge und Diskussionen über jüdische Reformfragen abgehalten.

Es scheint demnach, dass bei vielen Wiener Brüdern ein gewisses Interesse für diesen Gegenstand vorhanden ist.

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Ich habe daher in unserem Komitee für geistige Interessen angeregt, dass es angezeigt wäre, unseren Mitgliedern einen Überblick über die Reformbestrebungen zu geben, die seit dem Anschlusse der deutschen Juden an die moderne Kultur zu Tage getreten sind.

Die Anregung fand Anklang und dem Anreger selbst wurde eine Arbeit übertragen, von deren Umfang und Schwierigkeit er sich im ersten Momente gar keine Vorstellung machte.

Soll nämlich diese Ihnen zu bietende Darstellung der bisher vorgekommenen Reformbestrebungen irgend einen bleibenden, befruchtenden Wert für uns haben, so darf sie sich nicht auf eine geschichtliche Aneinanderreihung der äußerlichen Tatsachen beschränken, sondern muss auch die diesen zu Grunde liegenden tieferen Ursachen und Motivierungen, wie sie sich aus den Verhältnissen der Zeit und der Auffassung des Judentums ergeben haben, ins Klare zu bringen suchen.

Da gibt es nun aber eine solche Fülle des Stoffes, daß die für unseren Kreis zu treffende Auswahl sehr schwierig ist.

Liebe Brüder! Die Fernstehenden — und dazu gehören ja gegenwärtig fast alle Laien; die Strenggläubigen aus Abneigung gegen jede Neuerung und die Modernen aus Indifferentismus — also die Fernstehenden haben keine Ahnung, wie viele Bücher, Abhandlungen, Vorträge und sonstige wissenschaftliche Enunziationen über jüdische Reformfragen seit Moses Mendelssohn in die Welt gesetzt wurden. Unzählige Vereine wurden zu diesem Zwecke gegründet, Rabbinerversammlungen und Synoden wurden in Szene gesetzt, und Sie können sich denken, daß hierbei zahllose, umfangreiche Reden und gelehrte Abhandlungen vorgetragen wurden, so daß die Protokolle dieser Versammlungen an und für sich ein bändereiches Material umfassen.

Schon die bloße Lektüre aller dieser auf die Reform des Judentums bezughabenden literarischen und sonstigen Geistesprodukte würde ein mehrmonatliches, vorzugsweise diesem Gegenstande gewidmetes Studium erfordern.

Es war mir daher, als ich mich mit dieser Arbeit zu beschäftigen anfing, sofort klar, daß es ganz ausgeschlossen erscheine, in der kurzen, mir zur Verfügung gestellten Frist den ganzen umfangreichen Stoff übersichtlich zu einem, sei es auch eine ganze Stunde erfordernden Vortrag zusammenzufassen.

Unser würdiger Präsident war nun so liebenswürdig, mir eine Teilung meines Vortrages zu gestatten, nachdem er ein wohlmotiviertes Fristgesuch, zu dem ich mich schon vermöge meiner Eigenschaft als Advokat berechtigt hielt, abweislich beschieden hatte.

Ich werde heute die reformatorischen Bestrebungen von der Zeit Mendelssohns bis Anfang der Vierzigerjahre behandeln, welche gewissermaßen nur als die Vorgeschichte der eigentlichen Reformation im Judentume anzusehen ist, und eventuell in einem zweiten Vortrage diese selbst darstellen und insbesondere auf das vorläufig einzige, positive und bleibende Ergebnis der ganzen jüdischen Reformation, nämlich die Berliner jüdische Reformgemeinde, ihre geistigen Führer und leitenden Grundsätze näher eingehen.

Jedenfalls muss ich Sie, liebe Brüder, aber bitten, meine Ausführungen mit Nachsicht entgegenzunehmen und gefälligst festzuhalten, daß ich auf diesem Gebiete ein Laie bin und nur als Laie zu Laien sprechen will.