Alfred Döblin von Ernst Blass
Alfred Döblin von Ernst Blass
Plötzlich stand ein Roman von Alfred Döblin da, „Die drei Sprünge des Wang-lun“, ein mächtiger Block, ein Berg, eine unleugbare Tatsache, ein ganz unerwartetes, starkes, fremdartiges Gebilde, ein nichterforschtes Gebiet, an dem man nicht vorbeigehen konnte. Dann kam „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“, dann „Wallenstein“. Und es war nun deutlich, dass hier ein weites Land begann, eine neue Welt aufgetan war von noch nicht absehbarer Weite, mit vielerlei noch nicht gehörtem Geräusch und noch nicht gesehenen Farben und Gestalten. Dies Reich hatte der Doktor Döblin hingezaubert; man war eingeladen es zu betreten und staunte in größtem Staunen, je weiter man kam. Man sah seltsame Landschaften, entlegene Gegenden von China, entlegene Zeit des dreißigjährigen Kriegs, fremde Menschen, Trachten, Sitten, fremde Schicksale und alles das mit so viel Einzelheiten handgreiflich und sinnfällig vorhanden, dass an der Wirklichkeit der Erscheinung kein Zweifel bleiben konnte. So stand es da, man konnte darin herumgehen, wurde verwirrt vom Zuviel der Welt, ganz wie in der wirklichen Welt, alles war beschrieben, an Ort und Stelle, und zwar so, als ob der Schöpfer dieser Welt kaum Raum genug gefunden hätte, alles, was er gesehen, unterzubringen, als sei der gespendete Reichtum an Beobachtungen noch Sparsamkeit, gemessen an den Verhältnissen des Beobachters und Erzählers, als habe dieser in Hast und Eile nur das Notdürftige geben wollen. Kurzum: es waren in diesem Land ungewöhnliche Dimensionen, man fühlte sich wie Gulliver, es war eine ungeahnte, abenteuerliche Fremde, man entschloß sich, einige Hauptmerkmale dieses Landes zu notieren und das Staunen über die Weite und dichte Fülle zu suspendieren zu Gunsten eines klareren Erkennens seiner Umrisse.
Wang-lun: ein Mann, der die Rücksichtslosigkeit und Übermacht des Weltlaufs gegenüber der Menschenwürde er kennt und deshalb die „wahrhafte Schwäche“, das Nichtwiderstreben, die Anpassung an den Weltlauf predigt. Wadzek kämpft mit einer Dampfturbine wie Don Quixote mit den Windmühlenflügeln; er unterliegt und sieht seinen Irrtum ein: Döblin redet der Dampfturbine das Wort. Wallenstein endlich ist selber eine Art Dampfturbine, eine Maschine, ein Hammer; es kommt ihm mehr auf den Umsatz als auf den Gewinn an; ein Mann von übermenschlicher-untermenschlicher Kraft.
Was ist der gedankliche Grundzug in Döblins Romanen? Döblin entwertet den Menschen, der gegen den Strom des Schicksals, der Naturwelt, der außerseelischen Gewalt zu schwimmen versucht; er entwertet die heldische, große Einzelseele. Er sieht in ihrem Unterliegen keinen Sieg, im Kampf für die eigentliche Menschenwürde keine Ehre, sondern eine Quixoterie. Er bejaht den Menschen als Naturwesen, als Verbündeten der Naturkräfte. Er flieht die Seele und die ideale Forderung; hier steht sein Feind. Er wünscht nicht, endlose Qualen zu ertragen ohne Gewinn. Er setzt an die Stelle der Seele die Elektrizität; an sie wünscht er die Menschen anzuschließen. Er liebt die Fruchtbarkeit, die Potenz, das große Lebendige; den widernatürlichen, seelenhaften, ichhaften Drang des Menschen sucht er auszuschalten oder umzuschalten, in den großen Strom des Lebens münden zu lassen. Wadzek, der durch einen größeren Konkurrenten unter den Schlitten gebrachte Fabrikbesitzer, kämpft gegen sein Schicksal verzweifelt, wahnwitzig, heldisch, bis er „zerschmettert“ ist; dann „sammelt er seine Glieder und geht nach Hause“, er fährt nach Amerika, passt sich dem Schicksal an. Im „Wallenstein“ ist der Kaiser Ferdinand der „Held“, das Gewissen im Kampf mit der Übermacht des Schicksals, von ihm gebrochen, zerschlagen, verwirrt: er sieht, wie sein Charakter von der Politik verdorben wird, wie er Vieles dulden muss, was ihm contre coeur ist, wie seine Seele stückweis geopfert wird; er sucht Auswege. Am Schluß des Romans geht es ihm gut, er hat ausgekämpft, seine Ämter niedergelegt; verschollen lebt er mit der Natur, im Walde, in Gesellschaft eines ursprünglichen, tierischen Menschengeschöpfs. Eine Flucht in die Namenlosigkeit, Unpersönlichkeit, Grenzenlosigkeit: damit beendet der Kaiser seine Gewissenskämpfe, seine vergeblichen Bemühungen, das Rechte zu tun.
Döblins Welt ist eine Welt der Kräfte, der blinden Gewalten, der Natur, der menschlichen Triebhaftigkeit, der Massen, des bunten Gewimmels, der Leistungen, der Zufälle, der Gemütsbewegungen, der verwickelten Fälle, der vom Stürzen des Lebens fortgerissenen Menschen, des an die Wand gedrückten Gewissens. Bewegung und Fruchtbarkeit, Samen, Kraft — das ist sein Element, seine Forderung. Ein Wunsch nach Ausdehnung, nach Vermehrung, nach Vervielfältigung des Ich steckt in Döblins Romandichtungen. Es ist nicht Selbstflucht, Bindung an Objekte darin, sondern ein anderer Hang: die Fähigkeiten des Selbst auszuproben, ausschweifen zu lassen; sich zu erweitern, sich in alles zu stürzen, an vielen Orten, in vielen Zeiten. Personen, Sachen zu existieren, das fremde Blut zu trinken, den fernen Glanz auf der Netzhaut zu tragen, unberuhigt, ein wilder Jäger, ein Gejagter, durch die Zeit zu stürzen, im rasenden Tempo sich mit den Naturkräften in gleichem Rhythmus, in gesundem Gleichschritt zu fühlen, heiß, kochend, überschäumend, glücklich.
Das ist es, was hier jagt, zaubert, keine Ruhe gibt, tropfenweise den Wasserfall des Lebens zu sehen trachtet, mit verwandter, gleicher Kraft ihn zu beschwören, ihn zu überbieten sucht, dem bunten Stürzen gleichzukommen unternimmt, und in den weiten, seltsamen, farbigen Tropfsteinhöhlen der Romane sich als verwandten Meister der Zauberei sieht, den Herrn der Stalaktiten, die noch das Fließen der Wasser aufbewahrt haben und in sonderbarster Halbgestalt die haltlosen Augenblicke teils zu halten, teils ihre Haltlosigkeit zu künden scheinen. So mag es in Döblins zauberhaften Tropfsteinhöhlen zugehen, so mag es zwischen Fließendem und Steinernem aussehen; ja, vielleicht ist Döblin hier dem eigentlichem Wesen des Romans sehr nahegekommen; vielleicht ist das von uns oben skizzierte Ethos Döblins, elektrische Kraft, Maschine, Triebrad zu werden, sich anonym zu machen, um polyonym werden zu können, ein Ethos ad hoc, wie geschaffen, einen bedeutenden Romandichter zu bewegen, auszusenden; ein Ethos für Künstler schlechthin, als die verwandten Gegenschöpfer der Natur, als die mit homogenen Mitteln ausgerüsteten Beschwörer und Verkünder des Heterogenen, nämlich der Seelenwelt, deren Eroberung vielleicht auch nur durch Fäuste und Triebräder möglich ist.
Doch halt! In Döblins gewaltigen Materialien, deren Auftürmung freilich ein größeres Werk ist, als der kleine lateinische Formwille zugeben mag, in Döblins Materialien scheint eine Tür zu fehlen, die Tür des Ausgangs. Was fängt der Leser nach dem Tode mit Tropfsteinhöhlen an? Der Leser sieht eine neue Welt, aber nicht sich selbst. Er sieht zu viel Geschehen, zu wenig Geschichte, er sieht das Bild eines Ablaufs, der keinen Sinn außerhalb seiner selbst hat. Sonst soll im Kunstwerk die Handlung, das Empirische nur ein Bild für das anders nicht zu sagende Ewig-Seelische sein. Hier ist selbst das Seelische ein Geschehen, determiniert, Hammer und Amboss: es fehlt noch die religiöse Seele, der „Einzelne“, der „Seelengrund“, das „Fünklein“. Ja diese Abwesenheit macht die Welt Döblins so bunt und reich, so siedend und sich überstürzend. Von einem höchsten, nein, von einem „anderen“ Standpunkt gesehen, wäre die Buntheit grau und dies Wallen Nivellement. Doch ich bin nicht „anders“ und habe nicht das Recht, so zu messen: ich wünsche nur, dass es diese „Anderen“ einmal geben möchte. Dieser Wunsch ist freilich vielleicht auch der uneingestandene Wunsch der Döblin-Welt; es mag hier so bunt, so kochend und zischend zugehen, ein ungeheurer letzter Tanz der Lebenskräfte das geheime Gefühl vom eigentlichen Aschermittwoch übertoben, es mag aus diesem radikalen Bacchanal der Tatsachen die Sehnsucht nach dem Anderen, nach der religiösen Sphäre des Absoluten um so stärker und deutlicher aufsteigen.
(Genug; das Letzte schrieb ich nicht seinetwegen, sondern meinetwegen.)
Ich wiederhole, was ich am Anfang sagte: Döblins Besitz ist ein weites, unerhört mannigfaltiges, reich bevölkertes Gebiet; er ist ein Meister in Schilderung und Andeutung; Erstaunlichstes trägt sich bei ihm zu; die Weile und Fülle muss der Leser erfahren, sie lässt sich nicht vorstellen, ebenso wenig, wie die Gegenwart entlegener Gegenden und Vorgänge in den Romanen.
Döblin ist kein typischer Jude; ein Orchester ist kein Schofar. Er kann als Dichter überall heimisch sein, überall vorkommen. Auch der Jude mag in ihm sein, aber er spielt keine Rolle, auch nicht unterdrückt. Weltstädter, Arbeiter, losgelöst, frei, ohne Heimat, aber auf der Welt, froh der Ungebundenheit und der Fähigkeit, sich zurücklassend zu schaffen, neuer Welt zugewandt, Entdecker, Eroberer, eine Zentrifugalkraft — : es wäre denkbar, dass nur ein Jude so stark ein Nicht-Angehöriger eines Volkes sein kann; indessen das ganze Phänomen Döblin ist so seltsam, dass auch diese Unregelmäßigkeit nicht dem Juden, sondern allein dem Wesen Döblin nachgesagt werden muss.
Plötzlich stand ein Roman von Alfred Döblin da, „Die drei Sprünge des Wang-lun“, ein mächtiger Block, ein Berg, eine unleugbare Tatsache, ein ganz unerwartetes, starkes, fremdartiges Gebilde, ein nichterforschtes Gebiet, an dem man nicht vorbeigehen konnte. Dann kam „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“, dann „Wallenstein“. Und es war nun deutlich, dass hier ein weites Land begann, eine neue Welt aufgetan war von noch nicht absehbarer Weite, mit vielerlei noch nicht gehörtem Geräusch und noch nicht gesehenen Farben und Gestalten. Dies Reich hatte der Doktor Döblin hingezaubert; man war eingeladen es zu betreten und staunte in größtem Staunen, je weiter man kam. Man sah seltsame Landschaften, entlegene Gegenden von China, entlegene Zeit des dreißigjährigen Kriegs, fremde Menschen, Trachten, Sitten, fremde Schicksale und alles das mit so viel Einzelheiten handgreiflich und sinnfällig vorhanden, dass an der Wirklichkeit der Erscheinung kein Zweifel bleiben konnte. So stand es da, man konnte darin herumgehen, wurde verwirrt vom Zuviel der Welt, ganz wie in der wirklichen Welt, alles war beschrieben, an Ort und Stelle, und zwar so, als ob der Schöpfer dieser Welt kaum Raum genug gefunden hätte, alles, was er gesehen, unterzubringen, als sei der gespendete Reichtum an Beobachtungen noch Sparsamkeit, gemessen an den Verhältnissen des Beobachters und Erzählers, als habe dieser in Hast und Eile nur das Notdürftige geben wollen. Kurzum: es waren in diesem Land ungewöhnliche Dimensionen, man fühlte sich wie Gulliver, es war eine ungeahnte, abenteuerliche Fremde, man entschloß sich, einige Hauptmerkmale dieses Landes zu notieren und das Staunen über die Weite und dichte Fülle zu suspendieren zu Gunsten eines klareren Erkennens seiner Umrisse.
Wang-lun: ein Mann, der die Rücksichtslosigkeit und Übermacht des Weltlaufs gegenüber der Menschenwürde er kennt und deshalb die „wahrhafte Schwäche“, das Nichtwiderstreben, die Anpassung an den Weltlauf predigt. Wadzek kämpft mit einer Dampfturbine wie Don Quixote mit den Windmühlenflügeln; er unterliegt und sieht seinen Irrtum ein: Döblin redet der Dampfturbine das Wort. Wallenstein endlich ist selber eine Art Dampfturbine, eine Maschine, ein Hammer; es kommt ihm mehr auf den Umsatz als auf den Gewinn an; ein Mann von übermenschlicher-untermenschlicher Kraft.
Was ist der gedankliche Grundzug in Döblins Romanen? Döblin entwertet den Menschen, der gegen den Strom des Schicksals, der Naturwelt, der außerseelischen Gewalt zu schwimmen versucht; er entwertet die heldische, große Einzelseele. Er sieht in ihrem Unterliegen keinen Sieg, im Kampf für die eigentliche Menschenwürde keine Ehre, sondern eine Quixoterie. Er bejaht den Menschen als Naturwesen, als Verbündeten der Naturkräfte. Er flieht die Seele und die ideale Forderung; hier steht sein Feind. Er wünscht nicht, endlose Qualen zu ertragen ohne Gewinn. Er setzt an die Stelle der Seele die Elektrizität; an sie wünscht er die Menschen anzuschließen. Er liebt die Fruchtbarkeit, die Potenz, das große Lebendige; den widernatürlichen, seelenhaften, ichhaften Drang des Menschen sucht er auszuschalten oder umzuschalten, in den großen Strom des Lebens münden zu lassen. Wadzek, der durch einen größeren Konkurrenten unter den Schlitten gebrachte Fabrikbesitzer, kämpft gegen sein Schicksal verzweifelt, wahnwitzig, heldisch, bis er „zerschmettert“ ist; dann „sammelt er seine Glieder und geht nach Hause“, er fährt nach Amerika, passt sich dem Schicksal an. Im „Wallenstein“ ist der Kaiser Ferdinand der „Held“, das Gewissen im Kampf mit der Übermacht des Schicksals, von ihm gebrochen, zerschlagen, verwirrt: er sieht, wie sein Charakter von der Politik verdorben wird, wie er Vieles dulden muss, was ihm contre coeur ist, wie seine Seele stückweis geopfert wird; er sucht Auswege. Am Schluß des Romans geht es ihm gut, er hat ausgekämpft, seine Ämter niedergelegt; verschollen lebt er mit der Natur, im Walde, in Gesellschaft eines ursprünglichen, tierischen Menschengeschöpfs. Eine Flucht in die Namenlosigkeit, Unpersönlichkeit, Grenzenlosigkeit: damit beendet der Kaiser seine Gewissenskämpfe, seine vergeblichen Bemühungen, das Rechte zu tun.
Döblins Welt ist eine Welt der Kräfte, der blinden Gewalten, der Natur, der menschlichen Triebhaftigkeit, der Massen, des bunten Gewimmels, der Leistungen, der Zufälle, der Gemütsbewegungen, der verwickelten Fälle, der vom Stürzen des Lebens fortgerissenen Menschen, des an die Wand gedrückten Gewissens. Bewegung und Fruchtbarkeit, Samen, Kraft — das ist sein Element, seine Forderung. Ein Wunsch nach Ausdehnung, nach Vermehrung, nach Vervielfältigung des Ich steckt in Döblins Romandichtungen. Es ist nicht Selbstflucht, Bindung an Objekte darin, sondern ein anderer Hang: die Fähigkeiten des Selbst auszuproben, ausschweifen zu lassen; sich zu erweitern, sich in alles zu stürzen, an vielen Orten, in vielen Zeiten. Personen, Sachen zu existieren, das fremde Blut zu trinken, den fernen Glanz auf der Netzhaut zu tragen, unberuhigt, ein wilder Jäger, ein Gejagter, durch die Zeit zu stürzen, im rasenden Tempo sich mit den Naturkräften in gleichem Rhythmus, in gesundem Gleichschritt zu fühlen, heiß, kochend, überschäumend, glücklich.
Das ist es, was hier jagt, zaubert, keine Ruhe gibt, tropfenweise den Wasserfall des Lebens zu sehen trachtet, mit verwandter, gleicher Kraft ihn zu beschwören, ihn zu überbieten sucht, dem bunten Stürzen gleichzukommen unternimmt, und in den weiten, seltsamen, farbigen Tropfsteinhöhlen der Romane sich als verwandten Meister der Zauberei sieht, den Herrn der Stalaktiten, die noch das Fließen der Wasser aufbewahrt haben und in sonderbarster Halbgestalt die haltlosen Augenblicke teils zu halten, teils ihre Haltlosigkeit zu künden scheinen. So mag es in Döblins zauberhaften Tropfsteinhöhlen zugehen, so mag es zwischen Fließendem und Steinernem aussehen; ja, vielleicht ist Döblin hier dem eigentlichem Wesen des Romans sehr nahegekommen; vielleicht ist das von uns oben skizzierte Ethos Döblins, elektrische Kraft, Maschine, Triebrad zu werden, sich anonym zu machen, um polyonym werden zu können, ein Ethos ad hoc, wie geschaffen, einen bedeutenden Romandichter zu bewegen, auszusenden; ein Ethos für Künstler schlechthin, als die verwandten Gegenschöpfer der Natur, als die mit homogenen Mitteln ausgerüsteten Beschwörer und Verkünder des Heterogenen, nämlich der Seelenwelt, deren Eroberung vielleicht auch nur durch Fäuste und Triebräder möglich ist.
Doch halt! In Döblins gewaltigen Materialien, deren Auftürmung freilich ein größeres Werk ist, als der kleine lateinische Formwille zugeben mag, in Döblins Materialien scheint eine Tür zu fehlen, die Tür des Ausgangs. Was fängt der Leser nach dem Tode mit Tropfsteinhöhlen an? Der Leser sieht eine neue Welt, aber nicht sich selbst. Er sieht zu viel Geschehen, zu wenig Geschichte, er sieht das Bild eines Ablaufs, der keinen Sinn außerhalb seiner selbst hat. Sonst soll im Kunstwerk die Handlung, das Empirische nur ein Bild für das anders nicht zu sagende Ewig-Seelische sein. Hier ist selbst das Seelische ein Geschehen, determiniert, Hammer und Amboss: es fehlt noch die religiöse Seele, der „Einzelne“, der „Seelengrund“, das „Fünklein“. Ja diese Abwesenheit macht die Welt Döblins so bunt und reich, so siedend und sich überstürzend. Von einem höchsten, nein, von einem „anderen“ Standpunkt gesehen, wäre die Buntheit grau und dies Wallen Nivellement. Doch ich bin nicht „anders“ und habe nicht das Recht, so zu messen: ich wünsche nur, dass es diese „Anderen“ einmal geben möchte. Dieser Wunsch ist freilich vielleicht auch der uneingestandene Wunsch der Döblin-Welt; es mag hier so bunt, so kochend und zischend zugehen, ein ungeheurer letzter Tanz der Lebenskräfte das geheime Gefühl vom eigentlichen Aschermittwoch übertoben, es mag aus diesem radikalen Bacchanal der Tatsachen die Sehnsucht nach dem Anderen, nach der religiösen Sphäre des Absoluten um so stärker und deutlicher aufsteigen.
(Genug; das Letzte schrieb ich nicht seinetwegen, sondern meinetwegen.)
Ich wiederhole, was ich am Anfang sagte: Döblins Besitz ist ein weites, unerhört mannigfaltiges, reich bevölkertes Gebiet; er ist ein Meister in Schilderung und Andeutung; Erstaunlichstes trägt sich bei ihm zu; die Weile und Fülle muss der Leser erfahren, sie lässt sich nicht vorstellen, ebenso wenig, wie die Gegenwart entlegener Gegenden und Vorgänge in den Romanen.
Döblin ist kein typischer Jude; ein Orchester ist kein Schofar. Er kann als Dichter überall heimisch sein, überall vorkommen. Auch der Jude mag in ihm sein, aber er spielt keine Rolle, auch nicht unterdrückt. Weltstädter, Arbeiter, losgelöst, frei, ohne Heimat, aber auf der Welt, froh der Ungebundenheit und der Fähigkeit, sich zurücklassend zu schaffen, neuer Welt zugewandt, Entdecker, Eroberer, eine Zentrifugalkraft — : es wäre denkbar, dass nur ein Jude so stark ein Nicht-Angehöriger eines Volkes sein kann; indessen das ganze Phänomen Döblin ist so seltsam, dass auch diese Unregelmäßigkeit nicht dem Juden, sondern allein dem Wesen Döblin nachgesagt werden muss.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur