Jakob Wassermann von Erwin Poeschel

Jakob Wassermann*) von Erwill Poeschel

Dieser Dichter gleicht jenem Granitblock in seinen „Juden von Zirndorf“, der, bedeckt mit dunklen Zeichen, fremd im Schwedendenkmal liegt, oder einem Findling, auf dem Rücken eines Berges, beschienen vom Morgen und vom Abend. Er ist rätselvoll, traumhaft zuständig in fernster Vergangenheit, einfach wie ein Fels, der aus vielen Elementen zu einer neuen Einheit geglüht ist, zusammengepresst vom Druck von Jahrhunderten.


Um diesen Dichter sind dreißig Jahre deutscher Literatur geflossen, und er ist im letzten Sinn immer einsam geblieben. Wo Möglichkeit der Ergriffenheit ist, wo Unzucht des Verstandes noch nicht Herz und Hingabe tötete, ist seine Gemeinde. Doch der Markt der Zeit ist verwirrt von Künsten des erlesenen Wortes, von Schaustellungen peinlicher Seelenzerfleischung und von der Wanderpredigt der Gesinnung. Das Schöpferische aber ist dem Literaten immer eine Verlegenheit. Denn es ist ihm unausdeutbar, es widersteht der Eingliederung und dem System, es scheint ihm hinterhältig wegen seines unlösbaren Restes, es beunruhigt, weil es etwas fordert, das zu geben ihm versagt ist, es ist im tieferen Sinn unangreifbar, weil es von Urzeiten gehalten wird, weil es nicht isoliert ist, weil es Gott besitzt. Ohne Reiz des Erlesenen scheint es banal, weil es ohne Hochmut des Esoterikers ist, nicht künstlich gebaut, sondern aus Bewusstlosigkeit und Traum gewachsen, ein Gleichnis von Welt und Gott.

Die Wurzeln dieses Dichters sind in dem Volk, das je und je die Brücke nach dem Osten war, dessen Gesicht von Jahrhunderten der Tränen und der Zerrissenheit getrübt, ja entstellt wurde, dem von der Geschichte auferlegt war, immer voll äußerster Wachsamkeit an den Grenzen seines Wesens zu stehen und, der gesicherten Ruhe ermangelnd, seine Extreme wie Wälle aufzurichten und immer wieder zu verstärken. So sehen viele nur das verwirrte Bild: Verzücktes Brennen in gotterfüllten Chassiden und Diener des goldenen Kalbes, bewusstloses Aufgehen in Anbetung über den heiligen Rollen und wachsamstes rabulistisches Klügeln, heilige Ausschließlichkeil und ein Schwimmen, Sich-tragen-lassen, ein wurzelloses Überall-daheim-sein ohne Stolz und Gewissen. Bei Jizchok Leib Perez gibt ein alter Rebbe dem Wort: „Du sollst den Knecht nicht seinem Herrn überantworten“ die feine Auslegung: Der Leib darf nicht ganz der Seele überantwortet werden, damit sie nicht zu Asche verbrenne. Auch um deswillen nicht, weil solche Überspannung nur der Außergewöhnliche erträgt, der Gewöhnliche aber durch sie auf die andere Seite gedrängt wird. Das Maß ist es, das diesem Volke fehlt.

*) Der Verfasser legt „Wert auf die Feststellung, dass er seinen Aufsatz vor Erscheinen des Wassermannschen Bekenntnisbuches „Mein Weg als Deutscher und Jude“ abgeschlossen hat.

Der schöpferische Mensch vermag seine Wurzeln aber in die tiefsten Gründe des Volkstums zu treiben, als Jude zurück hinter die Zeiten der Verwirrung, der Zerstreuung, des Galut. So ist Wassermann kein Jude der Zerstreuung, er ist Jude als Orientale. Der Orient ist die Heimat aller großen Religionen, und der religiöse Orientale der Mensch, der die Welt in sich hat; er hat, wie Buber es formuliert, „die Ausschließlichkeil der Kunde vom wahrhaften Leben, die eingeborene Gewissheit jenes Eines ist Not“. Er hat den Antrieb, das Entselbsten, das Aufgehen, das vollkommene Konzentriertsein auf den rechten Weg. — Aber Wassermann ist doch nicht ausschließlich Orientale.

Im Jahre 1873 in Fürth, einer kleineren bayrischen Stadt, in mittlere Kreise hineingeboren, wurde er zwar nicht der nivellierenden Betriebsamkeit der Großstadt anheimgegeben und konnte in alten geheiligten Gebräuchen der ehrwürdigen Blutgebundenheit bewußt bleiben, war aber doch nicht im ghettohaften Bezirk östlicher Gemeinschaften beschlossen. Man wohnte ja vor den Toren des alten Nürnberg, der Dürerstadt der heiligen Nüchternheit, die um jene Zeit zu einem neuen kommerziellen Zentrum emporwuchs. Um ihn war das sanftgewellte innige Frankenland. Boden ältester deutscher Kultur, Heimat Wolframs, von ihm mit leidenschaftlicher Liebe umfangen. Von hier ging er aus und hierher kehrte er immer wieder, wie sein Daniel Nothafft, in allen Entscheidungen, mit allen seinen stärksten Werken zurück. Er wurzelt im Orient, aber er ist daheim auch im Herzen abendländisch-deutschen Wesens. Damit vollzog er eine Verschmelzung, der alles begegnete, was durch lange Generationen deutsch in ihm geworden war. Denn der Deutsche in seiner Mittlerstellung zwischen Osten und Westen hat je und je willig auf die Stimme aus dem Morgen gehört, begierig die dort geborenen Mysterien ergriffen, sie nach seinem Sinn umgebildet und geformt, Gott zu seinem Bild geschaffen. Auf das Bildhafte, die gesättigte Wirklichkeit geht dieser Sinn oder, wie Wassermann selbst es einmal formuliert: „Dem Deutschen ward verliehen, die Dinge zu sehen und durch die Dinge hindurch sich in ein Verhältnis zu Gott zu begeben.“ In des Dichters Kindertagen schaute Turm und Rosette von St. Lorenz, ein Gleichnis der Synthese von brennender Seele und westlichem Maß. Ein Gleichnis auch für ihn. Er fand sich in jene Mitte von Osten und Westen, wie es nur der Schöpferische ohne Verflachung vermag, wurde in seinem Werke eine Synthese von Seele und Leib; jener Inbrunst zu dem Einen, was not ist, und der Form, dem Maß; dem Leben im brennenden Innern, in Antrieb und Bewegung und dem gesättigten Schauen, durch das alles zu Bild und Gestalt wird; dem Außerirdischen und dem liebenden Erfassen der Wirklichkeit.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es noch die Zeit des Naturalismus war, als das Schatten Wassermanns begann, dass die breitere zeitgenössische Romanliteratur noch Verwicklungen des Liebesund Ehelebens, gesellschaftskritische Studien und Milieukunst beherrschte, wird die Stellung der „Juden von Zirndorf erst recht bedeutungsvoll. Denn in diesem Buch ist nicht das Genügen am gut beobachteten Detail, es ist nicht Kunst des sozialen Ausschnittes, sondern hier versucht ein Dichter gleich beim Beginn seines Schaffens, seine Stellung zu Welt und Schicksal klar zu machen, einen Punkt zu finden, der konstant bleibt, von dem aus er sein Weltbild formen kann. Es ist nötig, auf dies Buch näher einzugehen, da hier die Urzelle für das ganze Wassermannsche Werk sichtbar wird. Die Tatsache schon ist von Bedeutung, dass Wassermann seine früheren Arbeiten — Novellen, einen Roman — nachträglich unterdrückte. Hier soll sein Werk nach seinem Willen erst beginnen. Und darin liegt bereits eine Schicksalsbewusstheit. Denn dies Buch, das er seinem Vater gewidmet, betont mit vollem Akkord die Tradition, und darin liegt die tiefe Ehrfurcht des Juden vor den Blutsbanden, die Schicksal sind. „Die Sterne diktierten das Schicksal; das Blut war der Strom, in dem es rann.“ (Wahnschaffe.) Das Blut ist das Schicksal, und wie er es versteht, erkennt man deutlich in diesem Werk. Aus dem Verhältnis zwischen beiden Teilen erkennt man die Idee und damit das Grunderlebnis des Wassermannschen Werkes überhaupt. Im Vorspiel, jenem erstaunlichen Werk eines Dreiundzwanzigjährigen, erklärbar nur dadurch, dass es eine Kristallisierung von in Generationen willig gewordenen Elementen ist, leidenschaftlich wie ein apokryphes Werk des alten Bundes, nur erhitzter noch durch den Druck von Jahrtausenden, bricht die ekstatische Bewegung, die Sawatai Zewi entflammt hat, zusammen, im eigenen Feuer verbrennend. Im Roman selbst schwingt über eine Welt von Wesenlosigkeit, von Menschen ohne Ziel, durcheinandergleitend wie Fische in einem Aquarium, ziellos, lautlos im grünen Gespensterlicht, ohne Halt, Richtung und innere Schwere, mit dumpfer Sehnsucht nach einer späten verheißenen Gnade und Vergeltung, die Stimme Agathons auf, eine strahlende vox humana über trüben Mollakkorden. Im Vorspiel dröhnt die Stimme des alten finsteren Judengottes, des Gottes der Vergeltung und der Rache; hier ist Agathon, der Gute, Sohn von Deutschem und Jüdin, der das Trostwort vom auserwählten Volk verwirft, der keinen Messias als Erlöser erwartet, der sich selbst erlöst, das heißt: in sich Gott verwirklicht, das Unbedingte wirksam macht. Er ist unlösbar verkettet mit seinem Volk, aber langsam steigt er dahin, wo die Volksgrenzen fallen, und es nur noch Menschen gibt. Und doch hat er aus dem Grund seines Volkstums die Kraft; er ist kein Wurzelloser, sondern ein zu neuer Einheit Verwandelter. Die Kraft aber ist das Unbedingte, das heilig glühende Herz. Auch er glaubte seinem Volke einmal ein Mittler, ein Zaddik sein, durch das ekstatische Wort führen zu müssen. Schließlich findet er aber im geheiligten Handeln, in der Untertanenschaft unter das Schicksal, im unbedingten, hingegebenen Sein einen neuen Sinn des alten, jüdischen Verheißungswortes: Warten. Warten, bis die Früchte reif sind.

In Agathon hat der junge Dichter mit erstaunlicher Entschlossenheit sein Grundgefühl mitten in seine Gestaltenwelt gestellt. Es ist der Spruch Salomonis: „Bewahre dein Herz, denn aus demselben quillt das Leben.“ In Agathon, dessen Herz so stark ist, dass er seine Mutter wieder zum Leben zurückführt, ist der Zentralpunkt orientalischer Religiosität Symbol geworden. Um was es sich hier handelt, ist im „Golowin“ auf die klare Formel gebracht: „All das Beinahe und Ungefähr, das Geschehen lassen anstatt des Sichentscheidens verwässert unser Schicksal.“ Es handelt sich um die Unbedingtheit, die Entscheidung. Die Trägheit, das Geschehenlassen ist die Sünde an sich; denn nur den Lauen speit der Herr aus seinem Munde. Es ist immer das gleiche in verschiedenen Namen: Umkehr, Teschuba beim Juden, Tao bei Lao-Tse, Nachfolge bei Jesus. Immer ist es Ausschließlichkeit, eine vollkommene Wandlung und Heiligung der Tat und der Handlung, das Wie und nicht das Was, der Weg und nicht das Ziel, das Werden und nicht das Sein. Kein Mensch und kein Volk, keine Tat und kein Beruf ist allein erwählt.

Agathon trägt in seiner Brust das Herz des Dichters. Auch er hat mit einer Ausschließlichkeit, die Not, Hunger, Einsamkeit stumm ertrug, sich seinem Schicksal ergeben, gestalten zu müssen. Er hat aber dies Gestalten nicht zu einem bloßen Augendienst gemacht, denn er fühlte in sich immer, das Eine sagen zu müssen, das not tut. Der alte Sinn jüdischen Glaubens, die Sittlichkeit als Urphänomen heilig zu halten, fließt in seinem Blut, aber neu gewendet auf das Wie und nicht das Was. Das gibt seinem Werk das große Ethos, die Dichte und Schwere, es gibt ihm auch das dunkel Dröhnende, eine fordernde, drängende Düsterkeit, eine alttestamentarische Größe, vor allem aber die kosmische Ordnung um einen konstanten Punkt. Der schicksalserfüllte Mensch steht im Mittelpunkt und um ihn ist die Welt. Die absoluten Maßstäbe gibt das unbedingte Herz; geteilt ist die Welt in die Brennenden und die Lauen, die Leidenschaftlichen und die Trägen. Hier ist schon Gestalt, für was ein Vierteljahrhundert später auch ein Jude die Worte fand: „Es werden wandeln in deinen Gärten nicht nur die Demütigen und Beschwerten, nein alle, die leuchteten und verehrten“, oder diesen schönsten seiner Verse: „Wie sehr wir hier sind, sind wir dort vorhanden.“ So sitzen zur Rechten auch des Dichters alle, die Teil haben an der Gottheit dadurch, dass sie die ewige Kraft, die als das allein Seiende betrachtet wird, verwirklichen. Sie allein sind Gestalt oder Persönlichkeit, Form gewordene Kraft und haben so Teil am Konstanten. „Gesetz, Gestalt und Persönlichkeit sind die Dreieinigkeit der Konstanz, in deren Zeichen der Geist die Welt formt“, sagt Erwin Reiner. Die Erfüllten allein sind Wesen, die Träger des ewigen Feuers. Neben Agathon stehen da die Handelnden, die männlichen Verkörperungen des Geistes, Alexanders umflackertes Haupt und das Holbeingesicht des glühenden Greises Feuerbach; bei diesem ist die Unbedingtheit ganz in den Staat projiziert, in die einfache Welt von Recht und Unrecht, ja und nein; aber auf seinem Antlitz, holzschnitthaft geschnitten, mit leidvoll geschlossenem Mund, ist das bittere Wissen um die endliche Nutzlosigkeit und das doch nicht anders Können, ist die Ahnung vom Opfer des eigenen Lebens für das heiße Herz. Neben ihm des Dichters echtester Sohn: Nothafft, der Künstler, der an das Werk Geschmiedete, täglich aufs neue dem Geier die offene Brust zum Fraß bietend, der Besessene, in zermürbenden Visionen lebend, ganz nach innen gekehrt, ganz im Schaffen und Bilden bis zur Lasterhaftigkeit das Alleinige fühlend, grausam gegen sich und seinen Leib, immer unter Hunderten von Atmosphären Druck.

Dann ihre Schwestern vom gleichen Geist und Blut wie sie. Wie Alexander seinen Dämon in einem Maße fühlt, dass er sein Reich nur als Ausstrahlung seines Wesens empfinden kann, dass es ihm keinen Sinn hat, der nach seinem Tod noch bestünde, und er deshalb nichts tut, um es zu sichern, so bilden diese Frauen um sich aus ihrem Traum und Blut eine Welt, die wie eine schimmernde Kugel um sie ist, in der sich ihr Sein auswirkt. Das ist Renate, deren Leib in allen Geschicken niemandem leibeigen wird, sondern ihr allein zu eigen bleibt, die durch jede unvollkommene Leidenschaft unberührt hindurchgeht, bis sich in der mystisch umschauerten Vereinigung mit Agathon ihre immanente Idee verwirklicht hat: die Empfängnis, die Fruchtbarkeit, eine Liebe, die nicht Augenblick, sondern Ewigkeit, Teil des Unbedingten ist. So sind alle die anderen: Donna Johanna von Castilien, Sara Malcolm, Clarissa Mirabel („die Schwestern“). Jeanette („die Juden von Zirndorf“) und Franziska im „goldenen Spiegel“, alle die Leuchtenden und Verehrenden, die durch die Enge irgendwie um ihre Wirkungen betrogen, ihre Seele, zuständig in einer Zeit maßlosen Erlebens, von der alt gewordenen Erde weg in eine andere Sphäre reflektieren, wo sie schön und rätselvoll leuchtet wie eine Wüstenspiegelung. Hier geht ihr Sein ganz auf, das ist ihr Reich, in dem alles Äußere, Tod und Ungemach nur Namen sind.

Der Feind des Unbedingten ist das Bedingte, das Relative, vom erfüllten Menschen nach außen gesehen: die vom Ungemeinen auf das Hinlängliche, vom Übermäßigen auf das Mittelmäßige nivellierte menschliche Gemeinschaft, die Zivilisation. Als ihre Burgen gelten dem Dichter die großen Städte, eine Welt der Wesenlosigkeit, des rauschhaften Getriebes, des entherzigten Menschtums, der Gottlosigkeit. Ein Jahrtausende altes Heimweh nach Acker, Herde und bleibender Stätte, das Gefühl einer uralten Bodengebundenheit und eigenes Erlebnis ist darin, dass er das Land mit seinen einfachen Gesetzen von Säen und Ernten, Regen und Sonnenschein, als die Heimat des Absoluten empfindet, des alten Jahwe, Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott des Weinberges und der Herde. Im „Moloch“ ist Arnold der Gottlosigkeit verfallen, als sein Herz nicht klar und rein zu scheiden vermag, was gut und böse, da er zu müde, zu gebunden wurde, bereift vom Wissen der Relativität aller Dinge. Wenn hier das Relative als außerhalb des erfüllten Menschen — außerhalb des Dichters — liegend betrachtet war, so ist dies doch nur bedingt geltend. Denn das Wache, Zweckbewusste, das Literatenhafte und Scheinsüchtige wäre nicht so heftig in seinem Werk beleuchtet, wenn es nicht als geheimer innerer Feind erkannt und deshalb herausgestellt wäre, damit es durch Betrachtung unschädlich würde. Dieser tragischste Konflikt zwischen Schicksal und Künstler wird später noch in anderer Überschneidung offenbar werden, hier gilt es nur die alte Judenqual des Selbstbetrachtenmüssens, der Wachheit, des Intellektualismus oder wie es sonst benannt werden möge, jedenfalls des Antichristes vom Dumpfen, dem Traum, dem Unbedingten. Das ist im Werk Gudstikker, Arrhidäus (nicht umsonst auch dem Leibe nach Stiefbrüder von Agathon und Alexander), Lord Stanhope, Appolonius Siebengeist, Erwin Reiner. Sie alle spielen mit ihrer Seele, bringen Lebendes in Apercus und liebeleere Formeln, haben den Schein der Größe, den Schein des Leidens, des Gefühls, den süßen Flötenton; in einer gewählten Eigenexistenz wie Reiner auch den Schein der Opposition gegen die Wesenlosigkeit einer Welt, von der sie selbst ein Teil sind. In diesen Gestalten lebt die Qual des Künstlers, Leben, Leiden anderer zu seiner Speise und zu seiner Erfüllung zu machen, ein Mensch der Masken zu sein, in vielerlei Gestalt über die Erde zu wandeln und in keiner ganz gefunden zu werden, verantwortungslos also und in einem tiefen Sinn standpunktslos, einem aufreihenden Stirb und Werde Untertan.

Dieser Zwang zur Selbstbetrachtung erscheint der jüdischen Seele noch in der anderen Form des Skrupels, der von sich geforderten Rechenschaft, der Selbstbegegnung. Sie ist da im Werk Wassermanns, aber sie ist aus der grabenden Dialogisierung, wie sie noch in den „ Juden von Zirndorf“ zuweilen herrscht, ganz Form geworden und in die Bildung von Gestalten eingegangen, die immer wieder neue Darstellungen des Judentums verkörpern: die uralten mit dem Tod geborenen Seelen wie Sema Hellmut, Elkan Geyers gehetzte und angsterfüllte Augen, Gedaljes greises Learhaupt, Gabriele Thannhauser, in der Jahrhunderte langes Leid „zu Gebet, Klage, Tröstung und Jubel“ aufblühte, Benda, der leidvoll Resignierende und endlich die unbegreiflich süße Blüte: Ruth. —

Feind des Unbedingten vor den Toren und im Lager ist das Beharren, die Trägheit. Außerhalb: Feindseligkeit des im Bestand ruhig schlafenden Bürgers gegen das Außergewöhnliche, das seltsam Abgesonderte, ungebunden in sich Gerundete, innerlich: das eigene Verlangen des im Druck und der Spannung des Unbedingten Lebenden nach Erholung, Behaglichkeit, dem hold Gewöhnlichen, dem Verweile doch. Nothaffts schuldhaftes Anklammern an hausständiges Glück, schuldhaft, weil nur nehmend, und Caspar Hausers rätselvolle, zum Außerordentlichen verurteilte Erscheinung, spiegelnd das Erwachen der eigenen Seele des Dichters zum Umfangen der Welt, zur Ergriffenheit von täglich neuen Wundern, inmitten träger Verständnislosigkeit und bürgerlicher Enge der Nächsten sind Bild von beidem.

Bis jetzt war geschwiegen vom Unbedingtesten, von jenem, der die prinzipiellste Verkörperung der Leidenschaft des Dichters ist und die Summe aller ihrer früheren Erscheinungsformen, ihres Karman, darstellt: Christian Wahnschaffe. Man kann ihn nur dann ganz verstehen, wenn man weit zurück seinen Wurzeln nachgeht und ihn als das faßt, was sein Schöpfer ist: Brücke, Tor vom Osten in den Westen.

In den alten indischen Legenden ist es immer der Kreis vollkommener Wunschgewährung, aus dem der Erwachte kommt; bei einer Ausfahrt etwa begegnet der Prinz einem Greis, und es entsteht die Frage nach dem Altern, bei der nächsten einem Siechen, und es entsteht die Frage nach der Krankheit, und zum dritten Male einem Leichenzug, und es entsteht die Frage nach dem Tod. Da ist er erst zur Pilgerschaft gereift. So ist es bei Christian. Auch er ist Erbe, dabei Mensch der Grenze, am Ende einer Kultur. Unersättlichkeit nach dem Seltensten ist in reinem Geist sublimiert. In dem Körper von hellenischer Makellosigkeit erwacht nach und nach asiatischer Schmerz: Frage auf Frage, ruhend eine Weile, dann wieder erwachend und bohrend, Gefühl von geforderter Entscheidung, vollkommener Umwandlung, Umkehr zu alleinigem Weg und Dienst. Ein Ziel ist nicht zu sehen, weder ist es Helfen, Wohltun den Armen, noch das Reich Gottes wie bei Emanuel Quint. Das Gefühl vom eigenen unverwässerten Schicksal ist alles, und dies ist Fragen, ein Wissen müssen, eine seltsame, durstige Neugier nach der Quelle des Unrechtes, der Leidensentstehung, der schuldlos schuldigen Verursachung: „Man kann es nicht ausfindig machen, man muss innen sein, innen und unten.“

Wer so nur in einem vollkommenen Wissen von jedem Leben, jeder Schuld und jedem Leid die Erfüllung sehen kann, der darf nicht „anhangen“: denn das „Anhangen“ geht immer aufs einzelne; er will aber das Ganze. Das Anhangen geht auf die Bindung an das Individuum, auf den Schmerz des Mitleides, der verkettet. Deshalb ist Christian ganz unsozial und uncharitativ. Er ist „der Mensch mit dem Abgrund im Inneren, einem umgestülpten Himmel gleich, in dem die quälenden und schweren Dinge versinken und unsichtbar werden.“ Dieser Abgrund ist das Herz, das nie müde wird, nie müde im Aufnehmen, Fragen. Wissenwollen. Hier ist die Weisheit Gotamos, des vollkommen Erwachten, von der Leidensaufhebung durch ein zu höherem Grade gesteigertes Bewußtsein. Christian will alle Menschen, Leid, Elend und Schuld haben, um sie durch Wissen, durch ein Wissen des Herzens zu entmaterialisieren, von den irdischen Verwurzelungen zu befreien und in eine eisig-geistige und lebenstötende Dimension zu erheben, in der sie erlöschen. Es ist ein Vorgang, etwa dem von Ferne vergleichbar, der in der Wohltat der Objektivierung leidvollen Erlebnisses im künstlerischen Werk ist. Christian ist also im Grunde unaltruistisch. Er ist die vollkommene Konsequenz dessen, was der Dichter fühlt, dem es allein auf die unbedingte, unverwässerte Erfüllung des Schicksals ankommt: solcher Mensch allein erfüllt Gottes Willen, ist Teil seiner Glorie, und indem er diese Glorie in sich strahlen lässt, verherrlicht er Gott und hilft so der Welt. Dieser Sinn, auch der Sinn der Teschuba, ist zu der Legende am Schluss des Romans geworden. So nimmt auch Christian das Leben der Dirne und die Schuld des Mörders in sein übermenschlich verschärftes Bewusstsein, um sie abzutöten. „ Schön ist das Feuer, es frisst das Unreine und ist selbst rein.“ Er ist Stellvertreter, wie schon Agathon sagt: „wer sich selbst erlöst durch Leiden und Wissen, der erlöst alle Leidenden, die niemals wissen werden.“ In dem ungestülpten Himmel seines Herzens fällt Tal und Höhe der Welle zu ruhigem Spiegel zusammen. Er ist der Ausgleich. —

Es gibt Künstler, denen die Form und solche, denen das Schicksal das primäre und prominente Erlebnis bildet. Wassermann gehört den letzteren an. Das Wissen um menschliches Schicksal, der Drang es aufzunehmen, ist für ihn — es wird dies bei Betrachtung seiner Form noch klarzustellen sein — das zuerst Gegebene. Deshalb ist Christian Wahnschaffe nicht etwa eine aus ferner indischer Weisheit vom Dichter konstruierte Figur, sondern er ist Form eines eigenen tieferen Grunderlebnisses, eines Künstlerhungers nach Menschen, Schicksalen. Nicht nur in der novellistischen Studie „Treunitz und Aurora“, an vielen Stellen in seinem Werk ist Stoff aus Gerichtssälen zu höherer Bedeutung gekommen. Dieses Suchen nach Menschen dort, wo sie am wenigsten von Zivilisation pigmentiert sind, ist ebenso ein Zeichen seiner Unersättlichkeit nach Menschen wie die immer mehr anschwellende Zahl von Figuren im Roman. Einmal wird in der willigen Form der Rahmenerzählung ungeheure Menge gestauten Stoffes entladen, später gestattete die sichere Meisterschaft die Verflechtung mit einem Schicksal wie im „Gänsemännchen“ und „Wahnschaffe“, Werke, die eine Fülle geben, wie sie kaum ein Dichter deutscher Zunge heute wagen könnte. So ist „ Wahnschaffe“ dem Künstler Gleichnis, er ist ihm aber auch Ausgleich eigenen Konfliktes. Denn bei ihm ist Unbedingtheit, Erfülltheit vom Drang des Schicksals und helle Bewusstheit nicht mehr Feind. Er ist der Erfüllteste, der Unbedingteste, er ist aber zugleich auch von heller, gläserner Bewusstheit, einer Wissensfähigkeit über alles irdische Maß. —

In der Welt des Unbedingten ist kein Behagen, es ist eine Welt der Gespanntheit, des Druckes, der Forderung. Im ganzen Werk Wassermanns ist eine einzige Figur von Heiterkeit, ja fast Humor, das ist Crammon. Das Erlebnis des Humors steht in direktem Gegensatz zu einem als absolut empfundenen Lebensgefühl; denn sein Sinn ist ja, mit dem Finger auf die Relativität alles Geschehens zu weisen. Deshalb müsste er aber noch nicht aus einem auf das Absolute gegründeten Werk aus geschlossen sein. Der Narr bei Shakespeare ist die notwendige Entspannung. Will Wassermann einer lauen Zeit dies Aufatmen nicht gönnen oder liegen hier Gründe seines Judentums, dem in Abwehr und äußerem Druck ein dunkles Gefühl diese Erholung verbot? Auch Idyll ist diesem Dichter fremd, sogar dort, wo kleines Bürgertum dazu lüde. Auch hier sind es mehr die spitzwegisch Verbogenen oder die Dienenden, als die behaglich Feiernden, die er gestaltet.

Als er sich Entspannung vom Absoluten gönnte, als er, allerdings mit dem Blick auf das Wesentliche, immerhin das Unwesentliche bildete, da glitt ein ganzes Werk in die Welt Erwin Reiners, wurde von so unerhörter Leichtigkeit des Stiles, solcher Eleganz, bestrickender, beschwingter und sonorer Rhetorik, dass man verwirrt und geblendet fühlte, so dürfe man eigentlich nicht schreiben, das sei nicht mehr Entspannung, nein, Aufschub, Flucht vor dem strengen Dienste. Denn dies ist wahrhaft nicht seine Welt. Es gibt kein Bild, das besser zeigt, wo dieser Dichter verurteilt ist zu leben: Daniel Nothafft in dem nachtdunklen Wäldchen Eschenbachs verzweifelt, Leonoren umschlingend, gleichsam hadernd mit dem ewigen Dienst um sein Teil am schönen Leben, am genießenden Verweilen.

Dieser Dichter ist von denen, „die hier unruheten aus Deinen Tiefen“; das Absolute empfindet er nicht in der Form eines geborgenen Ruhens im Allgemeinen, in Gottes Schoß, sondern als Teilnehmen an einer von Uranfang her fließenden Bewegung. Als Bild des Schicksals gilt ihm immer wieder das Blut, das dunkel strömende, bewegte. Das Unbedingte, wie es in Agathon und Christian entsteht, ist Forderung, Drang gegen Widerstand, Aufgabe also, und damit Handlung, Bewegung, Tat, nicht beruhigtes Sein. Die Welt ist ihm zunächst nicht einströmendes Bild, sondern etwas, in das einzugehen ist, in das die Glut, das heilige Herz brennend hineingetragen wird. Wie Christian in den Saal der Armenspeisung tritt, empfindet jedermann die Kraft, die von ihm ausgeht als Welle, als sich fortpflanzende Bewegung, und seinem Vater beschließt er alles, was gesagt werden kann, in die Formel: „Die nicht tun, sind die wahren Verbrecher.“ Das Geschehenlassen, das Beruhen, die Trägheit, das Nichttun ist also die Sünde an sich. Man hat die Forderung, das Umsetzen von Empfindung in Tat und Bewegung als Wesen der orientalischen Religiosität bezeichnet und darf deshalb in diesem Grundgefühl Wassermanns das Erbe seines Judentums erblicken. Zugleich ist er deutscher Künstler. Künstler, Bildner sein, heißt die Welt bildend sich angleichen und sich bildend darin verwandeln. Das Deutsche nun ist für Wassermann zugleich das Westliche, Abendländische überhaupt, die Welt also des gesättigten, bildhaften Anschauens, Trinken des Auges vom goldenen Überfluß der Welt, offener Sinn für Vielfältigkeit der Erscheinung, genügendes Verweilen in der Bewegung, die Form, das Maß. In dieser Welt lebend wurde so seinem Weltgefühl ein Zweites zugesellt durch Liebe, Wahl und Bildung, das jenem gegensätzlich ist und zum Konflikt führen musste, Wille zum Beruhen gegenüber der Bewegung, zum Anschauen gegenüber dem Tun, zum Bild gegenüber dem Fluten, zum Gewordenen gegenüber dem Werden. Es war natürlich, dass in der Jugend, der Zeit des Dranges und unmittelbareren Nähe der Unbewusstheiten, das im Blute fließende Urgefühl kaum bestrittene Herrschaft hatte, unbedingt noch das Fluten eigenen Schicksals als das allein Gültige erfühlt wurde. Es gibt auch da Konflikte. Aber sie liegen noch außen. Die Bestimmung, deren einziger Imperativ ein Werden ist, muss sich schneiden mit allem Gewordenen, Erstarrten, vor allem also mit Staat, Gesellschaft, Sitte. Hier liegen die Konflikte noch für Agathon, die Ursache des Untergangs von Arnold im „ Moloch“ — der eine muss die Stadt meiden, der andere wird von ihr verschlungen — und vor allem für Renate, die alles verlässt, was in ihrem Kreis allein gültig erschien.

Aber die Überschneidung von Gewordenem und Werden rückt mehr und mehr ins Innere. Alexander ist dafür die erste Erscheinung. Hier stößt zum erstenmal die abendländisch hellenische Welt mit der asiatischen zusammen. Alexander an der Grenze zweier Welten, zweier Kulturen, zuerst noch ganz in der statuenhaften Körpersicherheit des Hellenen beruhend, erfüllt vom antiken Glauben an die Kraft des nackten Lebens und Leibes, und darin totgefeit und unbesieglich, wird mitten entzweigeteilt, als in das von Asiens Weitläufigkeiten und Weiten aufgewühlte Gemüt der Tod Hephästions fällt und damit das Fragen nach der Leidensentstehung. Die Erde, die so sicher war, wankt, ja wird grauenhaft, Körper und Seele, Augenblick und Ewigkeit sind sich plötzlich rätselhaft feind, Frage ist geworden, was vordem taghelle Klarheit war. —

Im „Gänsemännchen“ wird dann der Konflikt zwischen Bewegung und Bild zu einem Gleichnis eigenster Künstlertragik. Mit der Stärke einer Lebenserfüllung, um die es kein Markten gibt, empfindet dieser Dichter den Sinn des Lebens als Werden und Bewegung, als Tat und Handlung. Der in ihn gelegte Bildnertrieb aber drängt dieses Lebensgefühl, jede Empfindung anstatt zum Tun immer wieder zum Bild, lässt also Werdendes, Bewegtes zu Gewordenem gerinnen. In Nothafft ist dies Gestalt geworden. Er ist ganz dem Werk zugewendet, wie ein Besessener darin verbissen, dem Leben abgekehrt vergöttert er die Maske einer Toten. Erinnerungen, also Bild gewordenes Sein, sind ihm mehr als das Sein selbst, wenn es gleich die Süße Leonorens ist. Das tiefe Misstrauen des Dichters gegen das gewordene Werk, an das er doch aus Bestimmung gekettet ist, die Meinung von seiner Inferiorität dem Leben gegenüber lässt in dieser Dichtung die Entscheidung gegen das Werk fallen, ja es lässt Daniel im alleinigen Dienst am Werk schuldig werden gegen das Leben. Leben verderben im Dienste der Maske. Nichts kann deutlicher zeigen, wie hart, wie im tiefsten Sinne tragisch der Dichter zwischen die zwei Grundgefühle seines Lebens hineingedrängt ist, als dies, dass er, was die Qual und Lust seiner Tage ausmacht, das Schaffen, mit schmerzlichem Lächeln als unvollkommen erkennen muss, weil das Schicksal doch stärker ist und immer wieder das Werk als Erstarrtes verdächtigt, das immerhin nur Leben vortäuscht, ohne es zu sein. Vielleicht wird von hier aus verstanden, warum auf seinem Antlitz das Lächeln nur schmerzliches Wissen sein kann und nicht unverpflichtete Heiterkeit, Idylle, Humor und Behagen. Denn in seiner Brust wird der alte Zwist zwischen Leben und Form, Worden und Gewordenem, Prophet und Schrift, Heiligem mid Kirche, Moses und Aaron („dieser Körper, jener Seele“, wie Herder sagt) ausgetragen mit der Heftigkeit des Bluterbes gegen das von schmerzlicher Liebe Erworbene, des Ostens gegen den Westen. Dieser Kampf kann ein Leben zerrütten, und dafür ist Eva Sorel ein Bild, deren Seele bis zur Grausamkeit tyrannisiert ist vom Maß, zum Zwang zum Bilden, und deshalb das Maß verliert und von ihrer Unersättlichkeit in Verdunkelung getrieben wird. Sehnsuchtsund Erlösungsbilder müssen für Wassermann Gestalten sein wie Leonore, Ruth und Christian Wahnschaffe. Während Leonorens Schwester die dunkel blühende, die ganz im Traum Webende, Harfenton von Osten, mystisch verzückte Magierin, Hagada ist, sind Leonore und Ruth die ersehnten Verschmelzungen in Goethescher Mitte, Körper und Seele, Gegenwartsfreude und ungemischtes schicksalserfülltes Leben. Darum sucht Wassermann auch immer wieder das Bild der Tänzerin, in Jeanette schon, dann in der Schrift vom Literaten und endlich in Eva Sorel. Denn der vollkommen beseelte, ganz zum Ausdruck von Empfindung gewordene Körper ist ihm Synthese von Leib und Seele. In Christian aber ist die Wollust des Aufnehmens von Leben und Schicksal, der künstlerischen Empfängnis, Ereignis geworden, ohne dass er Leben versteinert, vielmehr nur neues freieres Leben zeugt; er ist, wie „das Gänsemännchen“ lehrt, einsam hinter dem Gitter und doch mitten auf dem Markt, er erlöst sich von der andringenden Welt durch Entmaterialisierung, ohne am Leben schuldig zu werden, er ist die Synthese vom Heiligen und vom Künstler, vom Osten und Westen. Eidolon hieß er, Bild, Gestalt, und nahm in sich auf die asiatische Seele, den Geist des vollkommen Erwachten; was sich Alexander tragisch wandte, wurde hier zur Einheit. —

Im Grunde ist jener Konflikt zwischen Empfindung und Gestalt Künstlerkampf überhaupt. Hier ist nur die Tragik vertieft, weil die Spannung zwischen den Polen Körper und Seele durch das Zusammentreffen zweier Kulturen mit entgegengesetzten Lebensgefühlen verbreitert ist. Aus dieser Schicksalsverwandtschaft heraus saugt Wassermanns persönliches Erlebnis immer wieder besonders begierig dort Stoffe auf, wo die Einheit eines kulturellen Lebensstiles beunruhigt ist vom Andringen einer neuen Empfindungswelt, wo in der Geschichte aufziehende Wetter die klaren Umrisse in den zweideutigen Schein zuckender Lichter hüllen. Die Menschen des Tores und der Grenze werden ihm zum Gleichnis seines Judentums: Alexander, Halbhellene, Einbruch asiatischen Sturmes in dorisch befriedete Peristile, Wahnschaffe, der Erbe, der Mensch an der Grenze einer Kultur, und vor allem der russische Mensch, von je schwankend zwischen lateinischer Bildung und asiatischer Grenzenlosigkeit. Die tiefere Lebensverwandtschaft ersetzt ihm Erfahrung, er, der Rußland nie gesehen, formt die russische Gestalt nicht von ihrer äußeren Erscheinung her, sondern aus ihrem Schicksal heraus, das ihm vertraut ist. Lucardis, Iwan Becker und Golowin sind in einem Grade Verkörperungen der slawischen Seele, dass sie von den Bussen selbst, die feinstes Gefühl für Ton und Stimmung haben, als autochthon geachtet werden. Und Eva Sorel flüchtet sich, als der Kampf zwischen Maß und Maßlosigkeit in ihr zu Flammen ausschlägt, durch Rußland an die Grenze Asiens. —

Zu diesen in tiefstem Sinn tragischen Wirkungen eines deutschen Judentums treten Schmerzen, die in der Stellung zur Umwelt begründet sind. Sie gehen vom allgemeinen Geschick des Volkes in tieferes persönliches Erlebnis, wenn, wie hier, dem als fremd Geachteten eine eifersüchtige, reizbare und leidenschaftliche Liebe zu dem Boden innewohnt, auf dem er gewachsen. Daraus ist bei Wassermann jedoch nicht nur Anklage geworden. In den „Juden von Zirndorf“ allerdings wirkt sie zuweilen noch bitter und heftig, in Benda wurde die schmerzliche Resignation, die sich zum fruchtbaren Schaffen in leidvoller Abwendung vom geliebten Land wandelt. Rein verklärt aber ist die Hingabe an deutsches Land und Wesen im „ Caspar Hauser“. Wie in den „Juden von Zirndorf“ des kleinen Benjamin Kinderseele nur wehmütig das fränkische Land, die breiten ruhigen Acker und sanften Höhen, die Kaiserburg des stolzen Nürnberg mit einem fernen ungewissen Zion vertauscht, so liebt Wassermann dies Land und diese alten Städte mit seiner bürgerlichen Enge, den Höfen und den Brunnen, den steilen Giebeln und den trag zwischen Schilf und Mauern fließenden Wassern, den klingenden Hämmern und den Liedern am Abend, vor allem aber diese Bürgergesichter mit den strengen Zügen der Pflicht und des Leides. Die novalishafte Blüte Kaspar Hauser, jenes rätselhafte Kind, dessen Schatten mit dem Knaben schon durch die Gassen Nürnbergs und Ansbachs ging, wurde ihm zum Gleichnis seiner schmerzlichen Liebe zu dieser Welt. Die Sonderstellung des Juden, eine immer wieder gefühlte Ablehnung während der Zeit der stärksten Weltbedürftigkeit ließen ihn Schmerzen erkennen, wie sie die Leere erzeugt, die um Caspar Hauser hohe Geburt und geheimnisvolles Geschick wirken. Hinwiederum musste er in untrüglichem Wissen um seinen Dichterberuf und dem Gefühl vom Adel seines Blutes, das dem traditionsbewussten Juden eignet, einen exklusiven Stolz empfinden, der dem dunklen Ahnen Caspars über seine Herkunft im tiefsten verwandt war.

Auch die Gestalt, die die Ideenwelt des Dichters aus Halbbewusstheit und Traum in den wachen Tag erhebt, muss die Züge seines Schicksals tragen. Nur die von einem schöpferischen Künstler geschaffene Figur ist Gestalt. Sie ist in ihrem Wesen so wenig ausdeutbar wie das Ding; ebenso geheimnisvoll einmalig, im höheren Sinn zwecklos, im reinen unschuldsvollen Dasein erhaben über die Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit.

Die Gestalt des Dichters ist, weil sie ihr eigentümliches Leben lebt, von der Kausalität entbunden. Sie ist es im besonderen Maß bei einem Dichter, der sein Gesetz in sich trägt, der nicht von außen nach innen lebt, sondern von innen nach außen, der das in ihm flutende Schicksal als das Ewige fühlt. So hat Wassermann schon in einer Zeit, wo das Gesetz des Milieus noch Glaubenssatz war, seinen Agathon geschaffen, der so ganz unnaturalistisch ist. Die Milieukunst, erwachsen aus einer mechanistischen, die Kausalität vergötternden Zeit, entnimmt ihre Gesetze der Naturwissenschaft, der Schöpfer aber ist unlogisch wie das Schicksal. Die Milieukunst schafft wie der Psychologe, der aus einem Mosaik seltener und geistreicher Beobachtungen sein Bild formt, von der Umgebung her. Die Gestalten Wassermanns aber leben von innen, von dem in sie gelegten Teil der Schöpferkraft, ihrem Schicksal. Die Kraft, das Schicksal, wird in der Gestalt zum Individuum, während die Kunst der Einzelheit, des Milieus und der Psychologie aus der Einzelheit ein Ganzes verdichtet. Das Entscheidende entsteht nicht in der scharfen Beobachtung, sondern im Traum, im Unbewußten. Wassermann selbst nennt in seiner Schrift „Der Literat“ das Wesen der Gestalt das „Herrlich Fiktive“, das „Fiktiv-Mythische“, bezeichnet es also als ein vom Realen abgetrenntes Sein, einen Wiederschein des Realen in einer anderen Sphäre, „in der Sphäre der höheren Wahrheit, des vereinfachten Lebens“. Sie ist nicht „ein Gleichnis für „Menschliches“ (Typus), sondern „ein Gleichnis für Göttliches, Idee“.

Wie sehr Wassermanns Gestalten diese Forderungen erfüllen, wie sehr sie in diesem Sinne Idee sind, dies zu zeigen war die Bemühung, wenn zuvor aus seinem Werk ihr Schicksalsantrieb aufgezeigt wurde. Noch mehr aber mag man dies an ihren Wirkungen erkennen. Die Flächen ihrer Körperlichkeit sind nicht ihre Grenzen. Sie sind nicht in einem statuenhaften Umriss beschlossen. Ganz von bewegtem Schicksal lebend, geht eine Kraftwelle von ihnen aus, die den ganzen Raum um sie in ihre Macht reißt. Der Raum, die Luft um sie gehört zu ihnen, ist von ihren Ausstrahlungen durchtränkt. Dies ist ihr Pathos und gibt ihnen die Macht, das Zwingende, das alttestamentarisch Glühende, die schmerzliche Leidenschaft. Und da sie den Gesetzen der Kausalität nicht Untertan, vielmehr selbst Welt, Mikrokosmos sind, haben sie jenes im letzten Grund Fremde, Düstere und Rätselvolle.

Die Wassermann eigentümliche Gestalt konnte nur in der epischen Kunstform zur vollen Entwicklung gelangen. Der Weg zum Drama, tastend beschritten, war wohl aus inneren Gründen verlegt. Denn das Drama verlangt äußerste Komprimierung, ist der Diamant, unter ungeheurem Druck gepresst, von eindeutigem Licht und klar begrenzten Flächen. Das Wesen der Wassermannschen Gestalten ist aber gerade das Vieldeutige und die Wirkung in die Breite, das Hinüber- und Herüberfließen zur Umwelt, das Aufgehen und Sichwiederfinden. Das Schicksal will sich offenbaren und nicht ein Ereignis. Die Gestalt, die Schicksal verkörpert, ist immer erfüllt und nicht erst auf dem Punkt, wo die dramatische Entwicklung ihren Sinn erhält. Der Konflikt ist Erscheinung, nicht Ziel. Während im Drama die Fiktion besteht, dass die Gestalt gerade in diesem Ereignis beschlossen ist, drängen die Gestalten dieses Dichters vielmehr über den Ausschnitt hinaus, wie bei der motorischen Stilart des Barock auch die Figuren den Architekturrahmen nicht mehr achten. In ihrem Schicksal, das Bewegung ist, schreiten Nothafft und Christian, das Ereignis als fingiert zufällige Erscheinungsform hinter sich lassend, in eine azurne Ferne. Es ist wie bei Moses, von dem geschrieben ist: „Und hat niemand sein Grab gesehen bis auf diesen heutigen Tag“.

Manchmal auch erscheinen die Gestalten wieder in späteren Werken, wie überhaupt Wassermanns Schaffen immer wieder ins Zyklische drängt. Denn er macht sich die Welt viel weniger in der sinnlichen Einzelerscheinung zu eigen als im Gesetz, im Gemeinsamen.

Der Antagonismus zwischen brennender Seele und Leib muss besonders dann zum Austrag kommen, wenn es sich darum handelt, die Fabel nach bedachtem Plan zu gliedern, den Roman aufzubauen. Hier kommt es auf die äußere Erscheinung an, auf die Oberfläche, das Bild- und Statuenhafte, auf das Geschaut-Sinnliche also. Hier stößt die Bewegung der Seele auf eine feste westliche Tradition, die angenommen, abgelehnt oder umgestaltet werden muss. Für Wassermann konnte es sich nicht darum handeln, die Nadel entschlossen nach einer Seite ausschwingen zu lassen, sondern nur darum, die Synthese zu finden. Denn weder konnte er die Tradition seines Blutes verleugnen, noch vom Deutschen lassen, das für ihn die westliche Welt des Maßes und der Form, der Freude des Auges war. Turm und Rosette von St. Lorenz sollte zum Gleichnis seines Werkes werden. Das war um so schwerer, als er damit aus der traumsicheren Dumpfheit halbbewussten Lebens in den hellen Tag des Handwerks, des Kunstverstandes treten musste und doch, um das eigenste nicht zu verlieren, den Traum nicht ganz erwecken durfte. Er hat einmal als das erste Gesetz, das dem Deutschen gelte, bezeichnet: die Hantierung, die er gelernt, zur Vollkommenheit auszubilden. An sich machte er es wahr.

Wenn man vom Roman planmäßigen Aufbau fordert, macht man die Gesetze der Architektur zum Maßstab. Bei den „Juden von Zirndorf“ kann dann am ehesten noch das Vorspiel bestehen, das in seinem prachtvollen Schwung zu dem Gipfel der Bewegung hin einem Portal des späten Barock gleicht, in dem das Wirrsal der Einzelheiten zur Leidenschaft nach einem Brennpunkt hin zusammengenommen ist. Im Roman selbst herrscht mehr das Helldunkel der Radierung, die Rembrandtwelt der aufgelösten Form, das Licht als Kompositionsmittel, also eminent malerische Faktoren. Es gilt nicht eine Architektur des Baues hier, sondern die des Innenraumes. In diesem Buch, ganz brennende Seele noch und am nächsten der Tradition des Blutes, herrscht der Baugedanke des Ostens, der weniger auf den äußeren Umriss, die körperhafte Wirkung nach außen, als auf die magische Wirkung des Innenraumes zielt. Im abgedämpften Tage und im unbestimmten Licht der Kerzen leuchten wie die goldenen Zierate am Thoraschrein die Gestalten dieses Buches aus der Dämmerung: Stimmung, nicht Form der sinnvoll geordneten Einzelheiten. Hell vor dunklem Grund allein Agathon wie eine Verkörperung der in alten, jüdischen Erzählungen wiederkehrenden Epheben, die mit einer Stimme von wunderbarer Süße die kabbalistischen Verse singen.

Dieser ekstatische Stil, das malerisch über die Kontur Hinweggehen, hätte zur Auflösung der Romanform, zum symphonischen Gemälde anstatt zur Symphonie geführt. Das zeigt die Geschichte der „Renate“ noch deutlicher als die „Juden“; sie gibt noch mehr Stimmung und Wort als Linie und Situation.

Es ist ganz offenbar, dass zunächst noch, bevor die endgültige Synthese gefunden war, die Form da leichter gelang, wo sich die Idee mehr vom Dienste des Unbedingten entfernte. Sie ist sicher erfaßt im „Moloch“, der straff und übersichtlich gegliedert ist, wo ein klarer Dualismus von Acker und Stadt, von Wesenhaftigkeit und Wesenlosigkeit herrscht und der Untergang des Helden vorsichtig vorbereitet und entwickelt ist. Aber seelisch ist dies Werk auch dünner, es ist zu wenig Geheimnis, es ist zu wach, zu sehr Kunstverstand und aus der Form, nicht aus der Idee heraus gefunden. Und so ist es beim „Erwin Reiner“ und dem „Mann von vierzig Jahren“. Hier war Weltleben, Abenteuer, galantes Wesen, Stadt und Empireschloß im Park, und dafür war die Form lange da, brauchte nicht erst gesucht zu werden. Im „Alexander“ aber stand das Unbedingte, ja das Maßlose in voller Kraft, und das zerbrach die Form. Asien verschlang Hellas. Die Üppigkeit des Details schwoll an. Das Historisch-Gegenständliche kam zu selbständiger Macht und sprengte den Rahmen. Das Werk, über die gewollte Form gewachsen, musste immer wieder umgegossen und beschnitten werden, und so wurde mehr eine Folge von Bildern heftigster Eindrücklichkeit, Entladungen, — eine Form, die neuere Expressionisten wieder aufnahmen — als ein gewölbter Bau. Die Historie hatte also die Distanz nicht gegeben, die gelassenes Bilden ermöglichen sollte. Denn stärker als die zeitliche Ferne war die Verwandtschaft zum Stoff. Die Historiette „Donna Johanna“ gewährte Gelingen in schlanker, ziselierter, straffer Gestalt, sie hatte Ferne und ewige Gegenwart reinen Menschenwesens, war aber doch noch Beschränkung auf die Novelle. In solchem Bemühen mitten drin steht „Caspar Hauser“, auch im Aufbau ein traumschläferisch Gewordenes, blumenhaft Gewachsenes. In diesem Stoff, so ganz auf deutschem Heimatboden entstanden, seit Kindertagen gehegt, war deutsches Wesen so vorhanden, dass es sich selbst die Form schuf, die das bildhafte Schauen gewährt. Der Weg Caspars, in Enge beschlossen, blickt ins Weite, in die Intrigen der Großen, in Glanz und Ferne und darüber hinaus in Göttliches.

Hier war nun die Gewißheit, dass die Synthese gelingen konnte, dass es möglich sein musste, den großen deutschen Roman zu geben, ohne die Idee zu verleugnen. Das war nicht der Roman im Sinne Freytags, allein Abbild einer Epoche, es galt vielmehr, diese Epoche zum Gleichnishaften aufzulichten, sie in die Sphäre des schicksalsmäßigen Geschehens zu rücken. Das Grunderlebnis — die Unbedingtheit des Herzens — ist ein Maßstab von absoluter Gültigkeit für alles Menschliche. Dies erlaubt eine Zentralisation des Weltbildes, die dem naturalistischen Roman versagt war. eine selbstverständliche Kristallisierung um ein Konstantes. Im „Gänsemännchen“ war diese letzte Zentralisation noch nicht erreicht. Ein weitgespannter Rahmen, Bild einer Epoche von andringender Wahrheit, ja Vollständigkeit. Aber diese Epoche ist doch nicht auf den gegebenen Mittelpunkt, den Helden, orientiert. Er steht abseits ohne Anteilnahme, sei es in Widerstand oder Hingabe, und vor allem, er führt die Linie des Aufbaues nicht. Denn schwer wie ein Block liegt er von Anfang an umspült von den Ereignissen. Im „Christian Wahnschaffe“ ist das Leichteste an den Beginn gesetzt, Crammon, und die unverbindliche Anekdote wird unversehens zu schicksalsvoller Bindung, das Relative führt ins Absolute. Die Linien des Werkes sind die riesigen sich entgegengesetzt bewegenden Parabolen von Christians und Evas Weg; Eva geht in die Welt, sie ist Weltdurst, Anhangen, Aventiure und trägt so die germanisch epische Form; in Christian dagegen geht die Welt ein, sie wird am Helden geprüft, und das ist Form östlicher Legenden, dadurch gegeben, daß die heutige Welt, hier in riesigem Prospekt entfaltet, das Relative im Gegensatz zum Absoluten ist. So ist im inneren Bau des Werkes ein beruhigtes Verhältnis gefunden zwischen der Vielheit der äußeren Erscheinung und dem Gesetz, zwischen äußerer Welt und Schicksal, Leib und Seele also, und das Merkmal dieser Synthese trägt auch die Oberfläche. Bei seinem Erlebnis im Haus des Fischers hat Christian die Vision von Bildern, wie man sie sieht, wenn man in einen Schacht hinuntergleitet; Bilder, die beständig wiederkehren und von anderen abgelöst werden, die sich von oben dazwischen schieben. So ist die Technik dieses Werkes: ständiger Wechsel der Schauplätze in knappen Bildern, aber sinnvoll zueinander gestellt, so dass das vordere auf das hintere immer irgendwie Bezug hat oder dessen allzu lastende Schwere aufhebt, wie es Lätitia tut, die Unverpflichtbare, Schwebende, der Augenblick und die Augenlust, geschaffen, im schweren Kranz der leichte Blütenschaum zu sein. Dadurch wird die Selbständigkeit der Teile aufgehoben zugunsten einer ständigen Bewegung, es entsteht der Eindruck einer überfließenden Fülle und Vollständigkeit, ein vollkommener Abglanz des Lebens. Die Oberfläche bekommt etwas Flimmerndes, Bewegtes, die vorgetäuschte Wahllosigkeit des wirklichen Lebens. So ist die Form ganz Bewegung geworden und die Bewegung ganz in Form eingegangen. Das Einzelbild, also etwas sinnlich Angeschautes, wurde zur Erscheinung des Flutens; die Oberfläche ist wie die Haut, durch die man das kreisende Blut sieht. Und so ist es mit dem ganzen Werk: Vollkommenes Bild einer Epoche abendländischer Zivilisation, aber darunter Strome aus östlicher Ferne, die vielleicht die Erneuerung von Morgen sein werden.

In der Betrachtung der Wassermannschen Architektur bieten sich immer wieder Barock oder Gotik zum Vergleich. Stile des Drängens und Strebens, religiöse, schicksalserfüllte, motorische Formen also, im Gegensatz zu der tektonisch empfindenden heidnischen Renaissance, dem Stil des Beruhens, der Gleichberechtigung der Teile, der geordneten Einzelerscheinungen. Es sind also die Stile, in denen im Osten geborene Mysterien eine westliche Form gefunden. Solcherart ist auch seine Sprache. Sie scheint viel mehr naturhaft geworden, schicksalhaft wachsend als gelassen gebildet. Sie ist nicht getragen, gegliedert aus gleichwertigen Teilen, sondern gespannt, bewegt, drängend, fordernd. Eine dunkle, unterirdische Kraft ist darin. Sie ist weniger Wachen und blauer Tag als Traum, Hintersinn, Halbdunkel mit aufleuchtendem Gold. Arkadische Heiterkeit umschimmert sie nicht, ober sie hat eine Süße, die den Schmerz, den Druck, das Leiden kennt, sie hat nicht die frei in den Gelenken spielende Kraft, sondern das Pathos des Widerstandes gegen das Ungemeine. Herder fand das Poetische der hebräischen Dichtung in dem Reichtum der Verben und der aus ihnen gestalteten Substantive. Ähnlich herrscht hier weniger die adjektivische Beschreibung und getragene Schilderung als die Charakterisierung durch Handlung und Situation, das Fordernde, Ringende der Auseinandersetzung, des bewegten Dialoges, des grübelnden Briefes und Bekenntnisses. Der Dialog aber ist hinwiederum nicht dramatisch antithetisch, sondern monologisch grabend. Das Ergebnis ist nicht die Formel, der Knoten, sondern die geahnte Deutung, das gleichnishafte Strömen. Darum steigt auch so oft das Unbewusste herauf in Träume und kommt zu lebensbestimmender Bedeutung. Diese Sprache ist Landschaft mit bewegter Luft, Fels, wildem Wachstum und ahnungsvollen Nächten.

In einer autobiographischen Skizze „Im Spiegel“ schrieb Wassermann im Jahre 1911: „Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe das Gefühl, am Anfang meines Weges zu stehen.“ Der Spiegel trog nicht. Befragte er ihn heute, so erschiene auf der Scheibe ein dunkles Haupt, unter dem Gewölbe der mächtigen Stirn glühende Augen voll jener „stillen Grundtrauer“ aller, „die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind“ (Keller), vertieft durch Jahrtausende altes Stammesleid; im Hintergrund aber ein Stück lieblichen deutschen Landes mit Höhenzügen, Burg mid Dom. Und die Fragen und die Antwort müßten klingen wie im Schluß des „Unbekannten Gastes“: „Wo gräbst du? wo wächst du? wo wirkst du? wo ist dein Feld? wo ist dein Weg? Aber ehe er sich bedenken konnte, waren sie von einer geisterhaft-entfernten Stimme beantwortet, und er glaubte einen Arm zu gewahren, der ihm eine goldhäutige, strahlende Frucht zeigte.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Juden in der deutschen Literatur