Paris, 16. Juni 1848. - Du wirst angenehm überrascht sein, liebste Schwester, ...

Du wirst angenehm überrascht sein, liebste Schwester, so rasch einen Brief von uns zu erhalten, aber Papa hat einen Augenblick der Ruhe mit Eifer ergriffen, um mit Dir zu sprechen, um Dir zu sagen, wie er Dich liebt. Die politischen Ereignisse verjüngen den geliebten Vater nicht; er ist sehr müde, ohne eigentlich krank zu sein. Übrigens wünscht er sehnlich, daß wir uns alle acht Tage schreiben möchten, da es ihm recht lang erscheint, immer vierzehn Tage warten zu müssen. Das Bild der Mutter habe ich; ich zögere aber mit der Absendung, bis das von Papa fertig ist; zu gleicher Zeit werde ich Dir Haare von ihm und vom Kaiser schicken. Der Ausdruck Deiner Liebe macht unseren Vater sehr glücklich! Je mehr ich ihn kenne, desto mehr liebe ich ihn, aber mein armes Herz blutet, wenn ich sehe, wie die politischen Verhältnisse sich scheinbar zu seinen Gunsten umgestalten; sein Name hallt überall wider; eine starke Partei steht auf Seiten seiner Familie und wünscht, sie am Ruder zu sehen. Doch der Wankelmut des Volks, seine Unbeständigkeit in der Neigung läßt mich den Moment fürchten, wo sie die Regierung in Händen haben könnten. Der Gedanke macht mich zittern, daß traurige Ereignisse, in die die Familie verwickelt wird, die alten Tage unseres Vaters zu beunruhigen vermöchten. Ich wäre außer mir, wenn dieses gütige Herz noch einmal durch Kummer zerrissen würde. Unser geliebter Vater sieht die Dinge anders an; er glaubt, wenn Gott die Bonapartes wieder an die Spitze der Regierung stellt, so wird es für die Dauer sein. Unglücklicherweise denken andere nicht wie er, sie wissen, wie wenig man auf die Sympathien und Antipathien der Völker bauen kann, wie wenig besonders auf die des französischen Volks. (Unter uns gesagt! Denn Papa kann es gar nicht genug loben, und wir sind darin immer verschiedener Ansicht.) Louis ist nicht in Paris; er hat Kandidaturen, die man ihn in verschiedenen Departements anbot, abgelehnt, aber seine Anhängerschaft ist eine so große, daß er wohl bei einem neuen Anerbieten zur Annahme gezwungen werden wird. Ich sehe mit Beunruhigung, daß Papa vielleicht gezwungen werden wird, sich in die Dinge zu mischen, obwohl er es bisher vermieden hat; der Wunsch, seinem Vaterland nützlich zu sein, sein schönes Frankreich dem Sumpf zu entreißen, in den es zu versinken droht, wird ihn vielleicht dazu bestimmen ... Lebwohl, liebste Schwester. Ich bin zu erregt, um genau zu wissen, was ich schreibe. Die Angst, daß Ereignisse eintreten könnten, die dem geliebten Vater Unglück bringen, foltert mich ... Wenn Du Nachrichten von der Herzogin von Orleans hast, teile sie mir mit, da sie mich sehr interessieren ... Hoffen wir, daß glückliche Umstände uns bald zusammenführen. Schreibe unserem Vater immer recht liebevoll, weil er Dich so zärtlich liebt.

Deine treue Schwester Pauline.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Schatten der Titanen