Die „English Bottom“-Station -3-



Für die Eingeborenen war niemand unwichtig, denn unter Umständen erhielten sie von jedem ein Stück Brot oder sogar Geld. Da Malchus hier gerade den Mittelpunkt der ganzen Szene einnahm, konnte es auch sein, daß sie ihn für eine besondere Persönlichkeit hielten. Wahrscheinlich hielten sie die beiden Bekleideten für die beste Abordnung, um mit den Weißen zu verhandeln. Sie sprachen auch etwas Englisch und kamen deshalb direkt auf Malchus zu. Sie überraschten den kleinen Mann, der noch keine acht Tage in Australien war und in Sydney noch keinen Wilden gesehen hatte, sehr.


Von beiden Seiten traten sie auf ihn zu. Der junge Mann nahm seinen Hut ab, schwenkte ihn bis auf den Boden und machte eine ehrfurchtsvolle Verbeugung. Dabei berührte er mit seinem fettglänzenden Haar fast das Gesicht des kleinen Deutschen. Die alte Frau knickste ständig und hielt dabei die Hand ausgestreckt. Sie rief dazu:

„Ein klein wenig weiß Geld, Sir - ein klein wenig weiß Geld.“

„Gott straf mich!“ sagte Malchus und ließ sein Taschentuch auf den Schoß sinken. Dabei riß er die Augenbrauen hoch hinauf. „Wo kommt ihr schwarzen Deuwels denn auf einmal her?“

„Ein klein wenig weiß Geld, Sir, ein klein wenig weiß Geld“, drängte die Frau und hielt ihm die ausgestreckte Hand mit den spitzen, dürren Fingern immer näher. Er verstand kein Wort Englisch, aber deutete die Bewegung der Hand doch richtig. Als er aber in die Tasche griff, hörte er ein Geräusch hinter sich. Als er den Kopf umdrehte, sah er sich plötzlich von einer ganzen Gruppe dicht eingeschlossen.

„Donnerwetter“, schrie er jetzt wirklich erschrocken auffahrend. „Ist denn die Hölle los?“ Dabei trat er der Frau mit seinen schweren Schuhen auf den Fuß. Sie kreischte laut auf und sprang zurück, die Hunde fingen an zu bellen, die beiden Kängeruhhunde kamen wieder knurrend angesprungen, und für einen Moment herrschte völlige Verwirrung auf dem Hof. Sie wurde aber von dem Stockkeeper mit seiner langen Peitsche sofort gelegt. Schon die Bewegung der Peitsche scheuchte die Känguruhhunde wieder auf ihren alten Platz zurück und die räudigen Kläffer der Eingeborenen zwischen ihre Füße. Dann befahl er ihnen, in einer Ecke des Hofes zu warten, bis sie ihre Geschenke bekommen würden, und befreite damit Malchus von der unangenehm werdenden Gesellschaft.

Inzwischen hatte Gertrud den Mädchen Brot, Fleisch und etwas Salz gegeben, um es unter den anderen zu verteilen. Damit zogen die Eingeborenen weiter - der im Frack mit tiefen Verbeugungen, die Frau im Kleid mit tiefen Knicksen.

Auch für die Deutschen war eine Mahlzeit zubereitet worden. Sie wurden in die Wohnung des Stockkeepers eingeladen, wo sie sich setzen und in Ruhe essen konnten. Das kleine Haus war ebenerdig wie die meisten Häuser dieser Art. Als Malchus sein Essen bekam, setzte er sich mit seinem Teller dicht an das offene Fenster an einen kleinen Tisch. Neben jedem stand ein Blechnapf mit heißem Tee, der besten Labsal, die man nach großen Anstrengungen genießen kann. Die Hammelrippen mit dem harten Brot, das Damper genannt wurde, dufteten verlockend genug nach dem langen Fasten.

Trotzdem stellte sich Malchus hier ein Hindernis entgegen. Im selben Moment, wo er Messer und Gabel ansetzte, sah er plötzlich einen Kopf mit zwei großen, glänzenden Augen an einem Schlangenhals. Ehe er sich besinnen konnte, hatte der Kopf mit einem riesigen Schnabel das Fleisch von seinem Teller gepackt und war damit verschwunden.

Mit einer Geschwindigkeit, die der kleine Mann noch nie in seinem Leben entwickelt hatte, fuhr er auf, über den Tisch hinüber und mit dem Kopf aus dem Fenster - aber zu spät. Er sah nur noch, wie der eine Emu mit Riesenschritten über den Hof lief und im Laufen sein Mittagessen hinunterwürgte. Der Stockkeeper stand in der Tür und war Zeuge der Szene gewesen. Er schrie laut auf vor Lachen. Dem armen hungrigen Teufel kam die Sache aber gar nicht so komisch vor, und er beruhigte sich erst wieder, als ihm der gutmütige Engländer eine neue Portion bestellte. Damit setzte er sich vom Fenster weg mitten in das Zimmer. Er hatte Australien schon herzlich satt bekommen.

Gertrud hatte alle Arbeiten erledigt und sich in ihr eigenes kleines Zimmer zurückgezogen. Still setzte sie sich auf einen der Rohrstühle und sah vor sich nieder. Sie regte sich dabei nicht, kein Zucken ihres Gesichtes oder nur einer Wimper verriet, was in ihr vorging und arbeitete. Aber aus den weitgeöffneten Augen flossen die großen hellen Tränen und liefen ihr die Wangen herunter.

So saß sie wohl eine ganze Stunde lang, die Zeit flog vorüber und wilde, verworrene Bilder verschwammen vor ihrem Auge.

Da wurde leise an ihre Tür geklopft, und der schwache Ton rief sie wieder in die Wirklichkeit zurück.

Sie schrak empor und horchte. Noch einmal klopfte es. „Herein!“ Die Tür öffnete sich langsam, und Gertrud hielt den Atem an. Charles Pitt stand auf der Schwelle, und er sah sie mit traurigem Blick an.

„Mr. Pitt!“ flüsterte sie bestürzt und sprang von ihrem Sitz auf. Der junge Mann trat ruhig in das Zimmer, drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sagte dann freundlich:

„Seien Sie mir nicht böse, Gertrud, daß ich Sie nach unserem Gespräch noch einmal aufsuche. Ehen aber bekomme ich Post von zu Haus und erfahre, daß morgen der Wagen hier eintreffen wird, der mich abholen soll. Keine Sorge, ich will Sie nicht erneut bestürmen. Nicht deshalb habe ich Sie gestört. Aber als Sie vorhin gingen, hatte ich den Eindruck, daß eine schwere Last auf Ihrer Seele liegt, vielleicht so schwer wie die, die Sie bei mir zurückgelassen haben. Da hielt ich es drüben nicht länger aus. Morgen werde ich Sie wohl kaum noch allein sprechen können, deshalb mußte ich Ihnen noch heute meine Hilfe anbieten, wenn Sie nicht auch...“ Seine Stimme wurde leiser. „Wenn Sie nicht auch meine Freundschaft ausschlagen wollen wie meine Liebe.“

„Mr. Pitt“, sagte Gertrud, und ihre Stimme zitterte vor innerer Bewegung. Ihre ganze Gestalt bebte. Alles, was ihr starker und vielleicht starrer Charakter bis jetzt unerschüttert ertragen hatte, schmolz bei dem freundlichen Klang seiner Stimme.

„Kann ich Ihnen denn gar nicht helfen, Gertrud? Gibt es nichts, bei dem Sie wenigsten den Rat eines Freundes gebrauchen können?“ fuhr Charles fort. „Aber ich will Sie nicht drängen“, sagte er traurig hinzu. „Vertrauen läßt sich nicht erzwingen, und ich kann es nicht erzwingen, wo es nicht von allein entsteht. Aber hier, Gertrud, nehmen Sie meine Karte und Adresse. Sollte jemals der Fall eintreten, daß Sie einen Freund benötigen, dann wenden Sie sich an mich. Sie können sicher sein, daß es niemand auf der Welt ehrlicher mit Ihnen meint.“

Gertrud focht einen inneren Kampf aus, als sie ihm zuhörte. Jetzt hielt sie sich nicht länger, und in fast fieberhafter Aufregung sagte sie:

„Haben Sie herzlichen Dank für die guten und lieben Worte, die Sie mir gesagt haben. Sie wissen gar nicht, Sie können es nicht ahnen, wie wohl sie mir tun.“

„Sie sind nicht glücklich, Gertrud“, sagte Charles bewegt.

„Glücklich? Nein, dafür ist Gott mein Zeuge“, lautete die bittere Antwort des Mädchens. Sie drehte wieder den Kopf zur Seite und sah ins Leere.

„Und weshalb weisen Sie dann meine Hilfe zurück? Haben Sie allen Lebensmut verloren, daß Sie sich unter Ihrem Schmerz nur beugen und ihm nicht die Stirn bieten wollen?“

Gertruds Hand ballte sich fast unwillkürlich, und fragend sah sie ihn an.

„Ist es Ihnen nicht möglich“, fuhr Charles fort, dem ihre Bewegung nicht entgangen war, „jeden Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln und in einem neuen, fremden Land ein neues Leben zu beginnen? Sie sind noch so jung, Gertrud, soll der Schmerz einer einzigen Enttäuschung Ihre ganze Zukunft verbittern? Könnten Sie das in späteren Jahren vor sich selbst verantworten?“

„Mr. Pitt!“

„Ich bin kein großer Redner, Gertrud, und wenn ich bei Ihnen keinen Widerhall finde, dann muß ich gleich von vornherein den Versuch aufgeben, Sie für mich zu gewinnen. Ich will auch den jetzigen Moment der Überraschung nicht ausnutzen. Aber in acht oder zehn Tagen, wenn ich mich vollkommen wieder erholt habe, komme ich noch einmal hierher. Bis dahin überlegen Sie sich meinen Antrag gründlich. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich Sie von Herzen liebe, und würde unglücklich in die Ferne ziehen, wenn ich allein... wenn ich ohne Sie gehen müßte. Bis dahin leben Sie wohl, Gertrud, ich habe bis dahin nur einen Gedanken - Sie.“

Noch einmal ergriff er ihre Hand, die er herzlich drückte. Ohne ihr Zeit für eine Antwort zu lassen, verließ er rasch das Zimmer.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Busch